Die letzte Feier
© 2005 Maik Beckmann
Der 17. Juli war ein Samstag mit Sonnenschein und fast dreißig Grad im Schatten. Daher eignete er sich für die Spieler des Krautsander ACs hervorragend, um den Saisonabschluss zu feiern. Der eigentliche Saisonabschluss war zwar schon lange her und eigentlich standen die Anzeichen schon auf der Vorbereitung für die nächst Fußballsaison. Dennoch tat eine Feier Not, befand die gesamte Mannschaft. In den letzten Saisonspielen hatten sie verloren und sich auf dem Platz teilweise heftig untereinander beschimpft. Eine kleine Feier sollte allen wieder das Gefühl vermitteln Teil eines Ganzen zu sein, die Kameradschaft wiederzubeleben.
Pflichtgemäß traf Simon, der Kapitän, mit dem Trainer, Rainer, als erster ein. Sie feierten, wie es sich für Krautsander gehörte am Elbstrand. Zwar nicht direkt im Sand, sondern etwas dahinter auf einer kleinen Wiese, wo auch zwei alte Holztore standen, deren Abmessungen aber keinem Standard entsprachen, wie er im Fußball gesetzt wurde. Daher machten sie ihre Heimspiele auch nicht in Krautsand, sondern in Dornbusch, einem Nachbarort, dessen Sportverein sich bereiterklärt hat, die Krautsander Jungs auf ihrem Platz spielen zu lassen.
Simon und Rainer machten sich daran ihre Zelte aufzubauen. Sie wollten mit der Mannschaft hier zelten und dabei noch etwas grillen. Wurst und Fleisch hatten sie aus der Mannschaftskasse bezahlt und beim örtlichen Schlachter gekauft, der im übrigen auch der Trikotsponsor des Krautsander Athletikclubs war. Den Grill hatte Simon noch in seinem Auto liegen, das er auf der anderen Seite des Deiches geparkt hatte.
"Ist ja ein schöner Ort zum feiern, aber dass man immer über den Deich laufen muss, ist doch ziemlich scheiße!" beschwerte er sich bei seinem Trainer, wie schon in den Jahren und auf den Feiern zuvor. Dann brach er auf und holte den alten Rundgrill und einen Sack mit Holzkohle aus seinem Auto und schleppe alles auf einmal über den Deich zum Platz.
Rainer seinerseits holte eines der zwei Fässer Bier, die er im Getränkehandel erstanden hatte. Die Fässer hatten eine eingebaute Zapfanlage und mussten so nur auf einen Campingtisch abgestellt werden, damit jeder daraus sein frisches Helles zapfen konnte.
Mit dem kleinen Campingtisch kam fünf Minuten später Mario, der Abwehrgott, über den Deich und baute den auf und trank auch das erste Bier, bevor er überhaupt einen Gedanken daran verschwendete sein Zelt aufzubauen.
"Den Putzer hast du auch schon länger nicht mehr gesehen, was?" fragte Rainer Mario, als sich dessen Haar beim Biertrinken in den Kragen seines offenen Hawaiihemdes schob. Rainer war Major bei der Bundeswehr auch wenn nur noch ein oder zwei Jahre dienen musste, bis er in Pension gehen konnte. Daher mochte er die teilweisen langen Haare der jungen Leute nicht sonderlich, auch wenn er sonst nicht viel von seiner Befehlsmentalität an den Tag legte, wenn es nicht sein musste.
"Nein", sagte Mario achselzuckend und stellte seinen leeren Becher auf den Campingtisch. "Du weißt doch, wer sich die Haare schneidet, beschneidet seine Individualität!"
Daraufhin brummte Rainer nur. Mario war ein ziemlicher Freidenker, konnte sich das in seinem Beruf als Webdesinger auch leisten. Außerdem zog er wohl immer einen gewissen Kick daraus, wenn er etwas tat, was man eigentlich nicht erwartete. Aber er war ein beinharter Verteidiger, an dem sich schon so mancher Stürmer die Zähne ausgebissen hatte. Alleine deswegen wurde er von Rainer schon geschätzt.
Während Mario sein Zelt aufbaute und Simon und Rainer ihre ersten Biere tranken, kamen auch nach und nach der Rest der Mannschaft. Alle hatten Zelte, Stühle, Becher, Teller und Besteck dabei. Das waren die Sachen, die jeder selber mitbringen musste. Freiwillig konnte man dann auch noch Schnaps und Kola mitbringen. Auch wenn Kola schon drei Kisten aus der Mannschaftskiste geholt worden waren, ebenso wie je sechs Flaschen Korn und Cognac. Damit traf Arne dann, wie üblich etwas verspätet ein und bat um Hilfe, die Sachen über den Deich zu schleppen. Die Hilfe wurde ihm natürlich gewährt, da alle ein berechtigtes Interesse daran hatten, heute noch ein bisschen Schnaps zu konsumieren.
Simon machte sich auf, das Fleisch auf den Grill zu schmeißen und fragte noch mal schnell in die Runde, ob alle da wären. Sie sahen sich um und Mario viel auf, dass ihr Linksaußen Hajo noch nicht da wäre.
"Wo steckt der denn?" fragte Rainer. "Sonst ist der doch eine Ausgeburt an Pünktlichkeit."
"Ist auch schlechter geworden", sagte Max, der gesundheitlich schon nicht mehr viel spielen konnte und so Rainer als Betreuer unter die Arme griff. "Seit ein paar Monaten."
"Ja", sagte Sven. "Seit er mit Anika nicht mehr zusammen ist."
"Die sind auseinander?" fragte Erik, der in solchen Dinge immer etwas uniformiert war. "Warum das denn?"
"Hat er nicht Schluss gemacht?" fragte Simon. "Hab ich jedenfalls so von Daniela gehört!"
"Die muss es ja wissen", meinte Max. "Die weiß doch alles über Anika. Die reden doch auch jeden Tag miteinander und das schon seit Jahren!"
"Er soll mit ihr einen Streit vom Zaun gebrochen haben und dann ist er noch am selben Abend aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen und wieder bei seinen Eltern ein!" sagte Simon.
"Er ist wegen eines Streits gleich ausgezogen?" fragte Rainer. "Wenn ich das getan hätte, dann würde ich nur noch auf der Kaserne schlafen!"
"Und da hast nicht mal du Lust drauf!" sagte Mario. Alle lachten etwas, sogar Rainer. Solche Sprüche kannte er schon seit gut dreißig Jahren und konnte gut damit leben. Vor allem hier, wo sie nicht böse gemein waren, sondern nur zur Erheiterung gedacht waren.
"Stimmt!"
Simon drehte sich wieder zum Grill um und wendete das Fleisch und die Würstchen. Dann sah er kurz auf den Deich. "Wenn man vom Teufel spricht!" scherzte er, als er die unverkennbare Gestalt von Hajo den Deich hinunter kam. Er trug jeweils eine Kiste Bier am langen Arm.
"Hey", rief Max. "Bier haben wir schon! Warum bringst du denn noch welches mit?"
"Sag ich nachher", murmelte Hajo, so dass es keiner verstehen konnte. Alle gingen davon aus, dass er nichts gesagt hat. Immerhin hätten sie so achtundvierzig Bier mehr, als vorher und das konnten sie immer gebrauchen.
Dann ging er zurück und holte noch sein Zelt und den alten unstabilen Plastikgartenstuhl aus seinem Auto.
Seine Mutter hatte ihn gefahren und verabschiedete sich lange von ihrem einzigen Sohn. Ihm war das offenbar mehr als peinlich, denn immerhin konnte jemand von seinen Sportskameraden über den Deich gelaufen kommen und nachsehen, wo er denn bliebe.
Aber es kam keiner. Alle warteten nur auf ihr Grillfleisch und ihre Würstchen. Max und Mario halfen ihm noch beim Aufbau seines Zeltes und dann ging es auch für ihn ans Essen.
"Hast du eigentlich Urlaub?" fragte Erik Hajo während er sich eine Zigarette drehte, die er nach dem Essen immer rauchte. "Ich war gestern in der Bank und da habe ich dich gar nicht gesehen!"
Hajo sah sich unter seinen Mannschaftskollegen um und bemerkte, dass sie alle inzwischen rauchten oder Bier tranken. Pappteller und Plastikbesteck bevölkerten inzwischen den Grasboden vor dem Grill und zwischen den Füßen der einzelnen Männer.
"Erfährst du gleich", sagte er und stand auf. Einige hatten sich schon an seinem Bier bedient und auch er nahm sich eine Flasche und öffnete sie mit seinem Feuerzeug. Der Kronkorken fiel auf den Boden zu den Tellern und dem Besteck. Sie würden morgen in der Frühe eine Menge aufräumen müssen, sonst würde es Ärger geben, wenn es der Ortsbürgermeister die Sauerei sehen würde.
"Leute", sagte er und hob seine Flasche hoch. Nach einigen Sekunden verstummten die einzelnen Gespräche unter den Männern. "Ich habe euch eine Kleinigkeit zu sagen!"
"Nach dann schieß mal los!" sagte Max.
"Und die Ansprache sollte mit Prost enden!" schlug Simon vor.
"Lange sollte sie auch nicht sein", fand Max.
"Ihr kennt ja unsere inoffiziellen Vereinsregeln, wonach man zwei Kisten Bier ausgeben muss, um wieder aus dem Verein auszutreten! Nun hier sind meine!" sagte Hajo.
Nun herrschte Totenstille in dem großen Rund mit den zwölf Spielern und ihrem Trainer. Damit hatte keiner gerechnet. Sie sahen auch keine Grund dafür, dass Hajo aufhören sollte. Er spielte regelmäßig seine neunzig Minuten und war letztes Jahr sogar zum besten Spieler gewählt worden. Dieses Jahr würde er es nicht schaffen, da er in den letzten Monaten der Saison doch ein arges Formtief hatte.
"Willst du wechseln?" fragte Simon. "Zum FC oder nach DA?" Der FC war der FC Wischhafen/Dornbusch und DA stand für die Drochtersen/Assel.
"Nein", sagte Hajo und er hörte sich leicht erstickt an. Eigentlich hatte er sich die Worte schon lange zurecht gelegt und – so witzig es klingen mag – vor dem Badezimmerspiegel geübt. "Ich werde nie wieder Fußballspielen!"
"Warum?" fragte Rainer. "Du bist doch noch topfit. Oder hast du einen Knorpelschaden, den der Arzt entdeckt hat!"
Hajo war in den letzten Wochen öfter beim Arzt gewesen, auch bei Ärzten in Stade, das wussten alle.
"Nein, meine Beine und Füße sind noch völlig gesund. Es liegt an meiner Kopfballschwäche!" erklärte Hajo. Allen war aufgefallen, dass er in den letzten Spielen gar nicht mehr zum Kopfball gegangen war. Auch nicht bei schwach getretenen Bällen, die ihm genau auf den Kopf gefallen wären.
"Nur weil du keinen Kopfball mehr machen kannst, willst du aufhören?" fragte Simon. "Hier kann keiner alles und wir hören auch nicht auf."
Jetzt spielte Hajo die Worte runter, die mehrmals vor seinem Badezimmerspiegel geübt hat und bisher nur seiner Familie gesagt hat. Gott, er hatte es nicht einmal Anika gesagt und die liebte er über alles.
"Ich habe eine Zyste zwischen meinen beiden Gehirnhälften. Sie drückt mehr auf die linke Hirnhälfte und wird wächst sehr schnell. Darum hatte ich in den letzten Wochen auf öfter mal die Kopfschmerzanfälle, die wohl bemerkt habt!"
Max nickte. Ihm war häufiger aufgefallen, dass Hajo sich beim Training und im Spiel mal an den Kopf griff und dabei völlig geistesabwesend war.
"Und deswegen kannst du kein Fußball mehr spielen, bis die Zyste weg ist!" stellte Max fest. "Aber was ist mit danach?"
"Es gibt kein danach!" sagte Hajo. "Die Zyste ist irreparabel. Nicht operierbar und wächst. Medikamente helfen nicht. Ich werde daran in den nächsten drei Monaten sterben. Höchstwahrscheinlich früher. Es wird mich treffen wie ein Schlaganfall!" Die geschockten Gesichter sahen in die Glut des Grills, in die Wolken und immer wieder in Hajos Gesicht, ob er sich nicht doch einen makaberen Scherz erlaubt hatte.
"Na ja", sagte Hajo und hob seine Flasche. "Wenigstens brauche ich das Rauchen nicht aufgeben. Prost, Leute!"
Keiner sagte etwas. Für lange fünf Minuten. In der Zeit setzte sich Hajo wieder auf seinen wackeligen Plastikstuhl und rauchte eine Zigarette. Dann drehte sich Simon zu ihm hin und sah ihm in die Augen.
"Das stimmt doch nicht, oder?" fragte er zweifelnd. Aber er wusste schon, dass es stimmte. Max hätte sich vielleicht einen solchen Scherz erlaubt, aber Hajo nicht. Dieser Bankangestellte hatte vermutlich nicht mal die Fantasie, um sich so etwas auszudenken. Den Humor für so einen derben Scherz hatte er ganz und gar nicht. Er mochte nicht mal billige Sexwitze, obwohl die bei Fußballfeiern immer hoch im Kurs standen.
Hajo sah seinem Mannschaftskapitän in die Augen und nicht der geringste Schalk lag darin. Nur eine unbeschreibliche Traurigkeit. Vielleicht weil ihn sein erst siebenundzwanzigjähriges verließ, aber vielleicht auch weil er es seinen Freunden auf diese Weise, bei dieser Veranstaltung sagen musste.
"Nein", sagte Hajo. "Das ist alles wahr. Ich werde daran sterben! Es ist nicht zu ändern. Vielleicht besser so, als bei einem Verkehrsunfall!"
Simon setzte sich zurück auf seinen Stuhl und trank einen großen Schluck aus seiner Flasche Bier. Sein Mund fühlte sich so trocken an, dass er wahrscheinlich die beiden Kisten alleine austrinken konnte und dennoch Durst hätte.
"Tut mir leid, wenn ich euch jetzt die Stimmung versaut habe", sagte Hajo. "Aber ich wusste nicht, wie ich es sonst hätte sagen können. Oder wann!"
Alle saßen da und sahen betreten vor sich hin. Max klopfte Hajo auf die Schulter, als ob er ihn trösten wollte. Aber in seinem Gesicht konnte Hajo lesen, dass eigentlich Max Trost bitter nötig hatte.
"Wie wäre es mit etwas Musik?" fragte Hajo und holte seinen MP3-Player aus seinem Rucksack. Es war eigentlich ein Diskman, mit dem man auch MP3s abspiele konnte. Dazu hatte er noch ein paar kleine Boxen dabei, die normalerweise an den Computer angeschlossen werden mussten. Es war keine berauschende Soundanlage, aber es reichte aus für diesen Anlass und für diese Stätte. Außerdem konnte es angehen, dass sich Anwohner oder Touristen über laute Musik beschweren würden.
Er schaltete den Player an und es kam Fettes Brot mit "Schwule Mädchen". Ein gerne gespieltes Lied auf ihren Feiern. Die ganze CD war voll mit solchen Liedern.
Nach und Nach kam dann die Feier auch wieder in Gang. Der Alkohol und die stimmungsvolle Musik siegten über den nahenden Tod von einem ihrer Freunde. Es half auch, dass Hajo gesagt hat, dass es so besser wäre, als wenn es ihn und seine Familie unvorbereitet treffen würde.
"Was sagt denn Anika dazu?" fragte Simon. Inzwischen saß er neben Hajo.
"Ich habe es ihr nicht gesagt", meinte Hajo. "Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen und sagen, dass ich sterben würde. Darum habe ich diesen Streit mir ihr vom Zaun gebrochen und bin einfach ausgezogen. Ich hoffe, dass sie mich hasst."
"Was?" fragte Max, der an Hajos anderer Seite saß. "Wie kannst du so etwas nur hoffen?"
"Vielleicht ist es dann leichter für sie!" sagte Hajo. "Wenn sie mich lieben würde, wäre es hart. Aber wenn sie mich hasst, dann könnte es nicht so schlimm für sie sein!"
Darauf wussten sie nichts zu sagen. Es hatte etwas für sich. Aber innerlich wussten sie schon, dass Anika sich große Vorwürfe machen würde. Simon war seit drei Jahren mit Daniela verlobt, die wiederum die beste Freundin von Anika war. Also wusste er ganz genau, dass Anika Hajo noch liebte und sich wünschte, dass er zu ihr zurückkehrte. Andererseits war sie zu stolz auf ihn zuzugehen. Diesen Stolz kannte Hajo natürlich und wollte ihn so ausnutzen.
"Du weißt ganz genau, dass sie dich noch liebt!" sagte Simon. "Du solltest mit ihr reden. Auch wenn du nur noch drei Monat hast, aber es könnten die besten drei Monate deines Lebens werden!"
"Vielleicht", sagte Hajo. "Immerhin brauche ich nicht mehr zu arbeiten."
"Echt nicht?" fragte Max. "Kannst du das nicht mehr?"
"Doch schon. Aber der tödliche Schlag kann mich jede Sekunde treffen und der Vorstand der Bank würde es nicht gerne sehen, wenn ich im Kundenraum einfach so zusammenbreche und tot liegen bleiben würde. Also haben sie mich schlicht und ergreifend beurlaubt! Kein Geld, keine Krankenversicherung mehr. Kein gar nichts!"
"Das ist doch unmöglich!" sagte Max. "Kannst du denn da nichts gerichtlich machen?"
"Doch und in zwei Jahren wird es bestimmt auch verhandelt werden!" sagte Hajo. "Das bringt mir sehr viel. Ich werde dann in meinen Grabstein schreiben lassen: Sehen Sie, Herr Hauser, das Gericht gibt mir recht!"
"Aber mit deiner Krankheit musst du doch versichert sein!" sagte Max und versuchte den Zynismus seines Freundes, den er so auch noch nicht kannte, zu übergehen. "Du wirst doch bestimmt noch mal ins Krankenhaus gehen müssen."
"Ich habe mich freiwillig versichert", sagte Hajo. "Das war ein ganz schönes Theater, denn immerhin habe ich kein Einkommen mehr, an denen sie meinen Beitragssatz festmachen konnten. Außerdem wollten musste ich mich auch noch vertraglich versichern, nicht so viele unnötige Untersuchungen machen zu lassen!"
"Was heißt denn unnötige Untersuchungen?" fragte Simon.
"Zum Beispiel Zahnarzt!" sagte Hajo. "Den brauche ich jetzt nicht mehr, ob ich mit guten oder schlechten Zähnen ins Gras beiße, scheint relativ egal, oder?"
Rainer kam zu den dreien und klopfte Simon auf die Schulter. "Es wird Zeit für den besten Spieler!" sagte Rainer. Einen mitleidigen Blick auf Hajo konnte er sich nicht verkneifen.
"Darauf hat doch heute keiner Lust, oder?" meinte Simon. Zumindest er hatte keine Lust darauf. Er fühlte sich, als wenn seine Gedärme mit einem Schürhaken herumgedreht würden. So ungefähr schien es auch allen anderen zu gehen, außer Hajo. Seltsamerweise.
"Doch", sagte Hajo. "Mach es. Es gehört dazu und ich würde es gerne noch wissen!"
Simon nahm den Zettel aus seiner Gesäßtasche. Er hatte vor einer Woche herumtelefoniert, um die Stimmen der Mannschaft einzusammeln und so einen Spieler des Jahres bestimmen zu kommen.
"So! Ruhe im Puff!" rief er, aber es war bei weitem nicht so fröhlich, wie in den drei Jahren zuvor. "Wir haben ja den Spieler des Jahres gewählt und normalerweise lese ich die ersten drei vor. Es wurde auch nur für drei gestimmt. Aber ich wollte dann doch heute nur den Gewinner küren."
Es war inzwischen dunkel geworden und im Grill wurden trockene Zweige aus den Bäumen und Büschen beim Strand verbrand, damit sie etwas Licht hatten.
"Sag alle an!" rief Mario. "Nicht so viel anders machen heute, oder?" Er sah zu Hajo, der nur mit Schultern zuckte.
"Okay", sagte Simon und sah auf seinen handgeschriebenen Zettel. Es standen tatsächlich nur drei Namen drauf. "Als dritten, mit drei Stimmen, habt ihr mich gewählt." Vereinzelt wurde geklatscht. "An zweiter Stelle, mit vier Stimmen, unser Vorjahressieger Hajo." Zuerst betretenes Schweigen, aber dann fingen sie doch alle an zu klatschen. "Und der Gewinner, mit sieben Stimmen, und somit recht eindeutig, ist unser langhaariger Bombenleger: Mario!" Daraufhin brach ein gewaltiger Jubel aus und alle klatschten und beglückwünschten Mario für seinen Sieg.
Gegen zwei Uhr legten sich die Meisten schlafen. Es war noch eine recht gute Feier geworden, auch wenn alle einen Stein im Magen gehabt haben. Es würde bei dem einen oder anderen vermutlich mehrer Wochen dauern, bis sie diese Nachricht von Hajo verdaut hatten. Dann wäre es schon bald Zeit für die Beerdigung.
Halb drei kroch Mario schon wieder aus seinem Zelt heraus. Draußen saßen nur noch Simon und Hajo und unterhielten sich.
"... du solltest mir ihr reden", legte Simon ihm nahe. Hajo schien darauf zu hören.
"Ich werde sie Montagabend besuchen und es versuchen. Aber sag bitte Daniela nichts davon. Sie würde sich einmischen und das alles noch viel schlimmer machen."
Mario setzte sich zu ihnen.
"Kannst du nicht schlafen?" fragte Hajo.
"Es ist ziemlich schwierig zu schlafen, wenn man nicht weiß, ob der Mann im Zelt am nächsten Morgen auch aufwacht. Vor allem, wenn man mit dir aufgewachsen ist!" sagte Mario.
"Ach, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Heute geht es mir blendend. Ich hatte noch nicht einen Kopfschmerzanfall! Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?" sagte Hajo.
Plötzlich fing Mario an zu lachen. Ohne zu wissen warum, fingen auch Hajo und Simon an zu schmunzeln.
"Was ist denn?" fragte Simon.
"Weiß du noch, der Kerl aus Freiburg?" fragte Mario. "Dem du die Gelb-Rote verpasst hast. Das war vor zwei Jahren. Du hast ihn immer wieder versteckt gefoult und er hat sich aufgeregt und bis die ganze Zeit so etwas von stoisch ruhig geblieben! .. Ich hätte dem wohl schon in der ersten Halbzeit eine gelangt, wenn ich gegen ihn gespielt hätte!"
"Hast du aber nicht!" sagte Hajo. "Du hast diesen flicken Mittelstürmer gedeckt, der die ganze Zeit debil gelächelt hat."
"Oder wisst ihr noch Stade, vor drei Jahren?" fragte Simon. "Dieser kleine Blonde, der inzwischen in der Landesliga spielt!"
So unterhielten sie sich stundenlang, bis Mario gegen fünf in seinem Campingstuhl einschlief. Simon ging eine Viertelstunde später in sein Zelt. Als Mario aufwachte, war auch Hajo verschwunden. Er ging sofort zu dessen Zelt und sah nach. Hajo lag nicht drin. Wo konnte er nur hingegangen sein? Das Rauschen einer großen Welle brachte ihn auf die Idee.
Über einen kleinen Trampelpfad gelang er an den Strand, wo Hajo mit einer Bierflasche in der einen und einer Zigarette in der anderen stand.
"Alles klar?" fragte Mario seinen Freund.
Etwas erschrocken drehte sich Hajo um. "Ja, klar!" sagte er. "Alles in Ordnung. Ich hatte nur eben einen Kopfschmerzanfall! Den ersten heute."
Mario ging zu ihm und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. Fast als wolle er sich vergewissern, dass er echt wäre.
"Wirklich alles in Ordnung?"
"Ja, ich hab nur grade der Stimme Gottes gelauscht!" sagte Hajo und lachte.
"Was hast du?"
"Meine Mutter hat mir gesagt, als ich noch ein kleines Kind war, dass wenn man morgens ganz früh am Strand steht und nur den Wellen und den Vögeln lauscht, dass man dann die Stimme Gottes hören konnte!" erklärte Hajo. "Versuch es doch mal!"
Mario sah noch zu, wie Hajo den letzten Schluck Bier aus seiner Flasche trank und die Flasche dann wegstellte. Auch die Zigarette schnippte er schnell weg. Dann fasste er Mario bei den Schultern und führte in einen Schritt vor sich.
"Jetzt musst du die Augen schließen und nur hören!" sagte Hajo. "Nichts denken. Ich glaube, bei mir hat das eben geklappt!"
Hajo stand am Strand und hörte zu. Die Wellen rauschten einzeln und leise an den Strand. Ein paar Möwen flogen schon durch die Lüfte und suchten nach einem kleinen Frühstück. Schiffe fuhren gerade nicht an ihnen vorbei, auch wenn sie hier vorbei mussten um nach Hamburg hinein und wieder hinauszugelangen. Der Wind blies ihm an die Haare von den Ohren und überspielte fast das Geräusch der Wellen. Dann für eine Sekunde meinte er tatsächlich eine Stimme zu hören.
Er machte die Augen wieder auf und wollte es Hajo sagen, doch Hajo stand nicht mehr hinter ihm. Stattdessen lag er auf dem Boden und atmete nicht mehr. Mario musste ihm nur in die Augen sehen, die halboffen und leer in den Himmel blickten.
"Hajo?" fragte er noch. Aber er erwartete gar keine Antwort.
Ein Lächeln umspielte den Mund von Hajo, als wäre er froh hier, unter seinen Freunden, gestorben zu sein.