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Jana drehte sich um zu ihrer Mutter. Der Arzt hatte ihr Pillen verschrieben, damit sie besser schläft, und bald würde es auch soweit sein. Jana wollte noch mal mit ihr reden, bevor sie in ihren meist sehr intensiven und langen Schlaf verfiel. Mit großen Augen sah Jana’s Mutter sie an und wartete darauf was ihre Tochter ihr wohl sagen würde. Innerlich war sie nur noch ein Wrack, von ihrem körperlichen Zustand mal ganz zu schweigen, sie lebte nur noch weil ihre Familie es so wollte. Ihr rechter Lungenflügel wurde bei einem Unfall vor Jahren stark beschädigt, im schlafenden Zustand musste sie künstlich beatmet werden, wenn sie wach war kam sie eine Zeitlang ohne ihre Atemgeräte zurecht, doch dieser Zustand hielt nicht lange an.
6:02 Uhr
Für Jana wirkten wenige Sekunden wie Jahre, der Raum, ein mittelgroßes Krankenhausschlafzimmer, schien sie förmlich zu erdrücken. Nur ihre Mutter und sie schienen anwesend zu sein, die Luft war noch frisch vom Regen, der Tage angedauert hatte, doch für Jana wirkte sie stickig und pressend. Ihr Herz schlug wie wild und ihre Hände zitterten, in ihrem Kopf spukten Gedanken herum von denen sie nicht geahnt hätte dass es sie geben würde. Sie kam sich vor wie in einem riesigen Pentagramm, nur ihre Mutter und sie in der Mitte.
6:03 Uhr
Jana versuchte sich zu besinnen, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste die anwesenden Personen herausschicken, sie würden sie nur stören. "Würden sie bitte den Raum verlassen?", sprach sie mit zittriger Stimme und eiskaltem Atem – die Temperaturen waren rapide gefallen im letzten Monat. Es war November, der Herbst ging langsam aber sicher in den Winter über. So ähnlich war es mit der Stimmung der Menschen, auf den Straßen wirkten alle abwesend und abweisend, die meisten begegneten einem roh und ungefasst. Nur hier bei ihrer Mutter war Jana geborgen, die anderen Menschen blickten herab auf sie und behandelten sie wie Dreck. Nur bei ihrer todkranken, lebensgefährdeten Mutter war sie geborgen. Bei der Mutter, die sie vor 24 Jahren zur Welt brachte und ihr ein Leben geschenkt hat, das sich Millionen andere Kinder auf der Welt wünschen. Jana war ihrer Mutter ein gutes Mädchen gewesen, nie hatte sie ihr Sorgen gemacht. Das Klischee war zu schön, um wahr zu sein. Jetzt war sie bei ihrer Mutter. Bei ihrer so gut wie toten, vom Leben missbrauchten Mutter.
6:04 Uhr
Jana schaute ihrer Mutter, die immer schläfriger wurde, in die Augen. Was sie sah war Angst, verbunden mit einem letzten Funken Hoffnung, der nur darauf wartete von irgendeinem weiteren Schicksalsschlag ausgelöscht zu werden. Jana erhaschte einen tiefen, letzten Blick in die Seele ihrer Mutter, der Person die ihr Leben nach wie vor grenzenlos bereicherte. Der Regen hatte wieder eingesetzt und prasselte gegen das Fenster im sechsten Stock als gäbe es keinen morgen. Für Jana’s Mutter gab es ihn nicht.
6:05 Uhr
Große Tränen liefen über Jana’s Wangen, als ob der Regen aus ihren Augen kommen würde. Ihr Herz schlug so heftig in ihrer Brust, dass man es, wäre man anwesend gewesen, hätte hören können. Eine Gänsehaut erschauerte Jana. Ihre Mutter war eingeschlafen, die Tablette hatte ihre Wirkung schnell entfaltet.
6:06 Uhr
Jana sprach "Ich liebe dich", und zog den Stecker.
Der Tag war für sie zu Ende.
Sie hatte ihre Mutter erlöst, den einzigen Menschen auf Erden den sie geliebt hatte.
Für immer.