Marie
©2003 by Stephan Möller (theMöllerman)
Marie stand vorne und begrüßte die Klasse: "Guten Morgen!"
"Guten Morgen, Frau Lammer", bekam sie von den insgesamt 34 Schülern und Schülerinnen der Klasse 6d des Albert-Einstein-Gedenkgymnasiums, an dem sie seit nunmehr 7 Jahren arbeitete, zurück.
"Setzt euch bitte, ich möchte anfangen."
Die Kinder setzten sich und Marie fing den Unterricht an, indem sie sagte: "Nehmt bitte eure Hausaufgaben hervor!"
Regung kam in den Klassenraum, aber nicht nur, weil die Jungen und Mädchen nach ihren Heften und Büchern kramten, sondern einen gehörigen Anteil dazu trugen auch die vielen Privatgespräche bei, die nun starteten.
"Eure Privatgespräche könnt ihr in den Pausen weiterführen, ich möchte jetzt nämlich gerne ein paar Hausaufgaben hören", sagte Marie, doch es half nichts, noch immer wurde der Klass- enraum von einem Murmeln beherrscht. Erst als sie "Ruhe!" schrie, wurde es leise.
Marie atmete durch. Sie hoffte ehrlich gesagt nicht, dass der Unterricht auch nur annähernd normal verlaufen würde, denn das Thema des Unterrichts war die menschliche Sexualität, ein Thema, bei dem die Schüler statt zuzuhören nur lachten, das wusste sie aus jahrelanger Berufserfahrung. Kaum fiel das Wort "Penis", "Vagina", "Geschlechtsorgan" oder ähnliches, waren die Kinder, vor allem die Jungen, kaum noch zu halten.
"Wer möchte seine Hausaufgaben vorlesen?", fragte sie.
Keiner meldete sich.
"Gut, und wieso nicht?"
Keine Antwort.
"Habt ihr sie denn alle?"
Wieder bekam sie keine Antwort.
Sie holte tief Luft, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Ein guter Schluck Bourbon wäre täte jetzt gut.
"Ich nehme an, zumindest die Hälfte von euch hat sie! Also, gibt es hier Freiwillige oder soll ich stichprobenmäßig jemanden heraussuchen?"
Die Schüler zeigten keine Reaktion, und an ihren Gesichtern konnte Marie ablesen, dass sie keine Ahnung hatten, was "stichprobenmäßig" bedeutete. Sie wurde wütend.
"Verdammt, meldet sich jetzt jemand, oder muss ich mir irgendeinen rauspicken?", fuhr sie die Klasse aufgebracht an. Einige Kinder erschraken.
Endlich meldete sich Andreè unsicher.
Andreè war ein Schüler aus der ersten Reihe und gehörte zu denjenigen, die die Schüler "Streber" und die Lehrer "Musterschüler" nannten. Er hatte in allen Fächern, also auch bei Marie in Bio, ausgezeichnete Noten, aber Marie konnte ihn trotzdem nicht leiden. Sie hatte schon in ihrer Schulzeit solche Kinder gehasst, und sie hasste sie jetzt immer noch.
"Ja Andreè, bitte lies vor!", sagte sie, und der Junge stand auf und begann zu lesen.
Marie wuchs als Tochter eines trinkenden Hausmeisters und eines arbeitslosen Kindermäd- chens im dreckigsten Viertel Oldenburgs auf. Sie schaffte es, sich von ihren herrschsüchtigen Eltern loszulösen und ihr Abitur mit Auszeichnung zu bestehen. Danach fing sie an, Biologie und Chemie auf Lehramt zu studieren.
Sie lebte für Bio und schloss es mit 1,0 ab. Chemie hingegen belegte sie nur, weil die meisten Schulen keine Lehrer einstellten, die nur ein Fach unterrichteten, und da Chemie, gleich nach Bio, ihr zweiliebstes Fach in der Schule gewesen war, schrieb sie sich auch hier ein. Sie mochte Chemie, aber sie liebte es nicht so, wie Biologie.
Während sie sich vollkommen in Bio hineinsteigerte, vernachlässigte sie Chemie größtenteils und schaffte es gerade noch, an das rettende Ufer zu gelangen, indem sie Biochemie, das an der Oldenburger Uni dem Fach Chemie zugeteilt wurde, mit einer glatten 1 abschloss.
Nach dem Studium bekam sie ihren Job an dem Gymnasium, an dem sie 7 Jahre später immer noch unterrichten würde, und lernte ihren zukünftigen Mann Markus Lammer kennen. Ziemlich genau ein Jahr nachdem sie sich das erste Mal sahen, heirateten die beiden.
Doch kurz nach der Hochzeit zeigte Markus sein wahres Gesicht. Er war ein fieser und brutaler Trinker Mann, der nicht davor zurückschreckte, Marie zu schlagen.
"Sehr gut! Du darfst dich setzen", sagte sie, als der Junge seine Hausaufgaben vorgelesen hatte. Es stimmte alles, der Junge hatte keinen einzigen Fehler gemacht, nicht einmal in einem einzigen Satz waren die Grammatischen Formulierungen falsch. Marie hasste so was. Sie fand es einfach dumm, einen Schüler zu unterrichten, der sowieso alles besser wusste als sie selbst. Dennoch trug sie eine Eins für Andreè ein, sie mochte ihn vielleicht hassen, aber eine Note fälschen würde sie trotzdem nicht. So abwegig das auch klingen mochte, aber sie wusste von mindestens drei ihrer Kollegen, dass sie bei Schülern, die sie nicht mochten, einfach eine halbe Note schlechter eintrugen, und das waren nur die Kollegen, die ihr das verrieten, also die, die ihr vertrauten, und Leute, die Marie vertrauten, gab es nur ganz wenig.
"Okay, noch jemand?", fragte sie dann.
Keiner meldete sich.
"Mike! Was ist denn mit deiner Hausaufgabe?"
Ein mittelgroßer Junge mit aufgestylten Haaren und Fubu-Sachen stand mit nervösem Gesicht auf und begann vorzulesen, doch Marie hörte nur mit einem Ohr zu. In Gedanken war sie woanders.
Wenn sie heute Nachmittag nach Hause kommen würde, würde ihr Mann noch auf dem Bau sein. Sie würde das Essen zubereiten, wahrscheinlich Bratkartoffeln und ein Kotelett oder Schnitzel, dann würde sie nach oben in ihr Arbeitszimmer gehen, um ein paar Arbeiten zu korrigieren und den Unterricht für den nächsten Tag vorbereiten, dabei würde sie sich die ers- ten zwei bis drei Gläser Bourbon genehmigen.
Wenn sie damit fertig war, würde sie wieder nach unten gehen, sich in den Sessel setzen und bei den nächsten Gläsern Whiskey auf ihren Mann warten.
Wenn dieser nach Hause kam, würde sie aufstehen und ihn küssen, wobei er sich beschweren würde, dass sie "schon wieder aus dem Hals stinke wie `ne Kuh aus dem Arsch". Dabei würde sie sich, wie jeden Tag, denken, dass er doch selber nach billigem Schnaps aus dem Mund rieche, doch aussprechen würde sie das nie, dass würde sie sich nicht trauen.
Sie würde ihm das Essen noch einmal heiß machen und dann auftischen. Gierig würde er es hineinschlingen und sich danach lauthals beschweren, dass das Fleisch zäh und die Bratkartoffeln nicht genug gewürzt waren.
Ab und zu konnte sie sich nicht zurückhalten und sagte: "Dann koch’ dir dein Scheißessen doch selber!" Das war meistens die Ursache für eine saftige Ohrfeige.
"Frau Lammer? Ist alles in Ordnung?"
Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen. "Was sagtest du bitte?", fragte sie Johanna, eine Schülerin aus der ersten Reihe, die sie sehr mochte.
"Sie sehen so komisch aus ... so blass! Möchten Sie vielleicht einen Schluck Wasser?"
"Nein danke, mein Kind." Ihr Blick wechselte zu Mike, der immer noch stand und sie angst- erfüllt ansah. Er hatte Andreès Text wortwörtlich abgeschrieben. "Du kannst dich setzen."
Das tat er.
"Und noch etwas: wenn du schon abschreibst, dann finde doch wenigstens eigene Worte!"
Sie nahm ihren Lehrerkalender und notierte eine Sechs in Mikes spalte. Dabei bemerkte sie, dass es bereits die dritte wegen nicht gemachter Hausaufgaben war.
"Mike, dass ist bereits deine dritte Sechs dieses Schuljahr. Wenn ich du wäre, würde ich mir ernsthafte Sorgen um meine Note machen!"
Mike war einer der Jungen, die nach dem Motto "Scheiß auf Schule" lebten und alles taten, um ihre Lehrer zu schikanieren. Marie war da eine Ausnahme, denn sie war die einzige Lehrerin an der ganzen Schule, die ihre Schüler zur Strafe den gesamten Nachmittag nach- sitzen ließen. Das hatte Mike schon sehr früh in Erfahrung gebracht, genauer gesagt drei Wochen nach der ersten Unterrichtsstunde bei Marie. Seitdem war er in ihrem Unterricht zwar nicht brav, aber auch nicht auffälliger als alle anderen.
"Okay", sagte Marie, nachdem die Sache mit Mike erledigt war. "Heute wollen wir darüber reden, ab wann ein Mensch geschlechtreif ist. Weiß irgendjemand etwas zu diesem Thema?"
Andreè meldete sich.
"Ja bitte?"
"Wenn man Geschlechtsverkehr hat, bevor man 14 ist, so gilt das als Kindesmissbrauch und der Partner kann angezeigt werden."
Marie wurde schlecht. Kindesmissbrauch! Sie versank erneut in Gedanken. In ihrem Kopf war es nicht mehr 2003, sondern 1985, und sie war nicht mehr in Oldenburg, sondern auf Wangerooge, wo sie in jenem Sommer mit ihren Eltern die Ferien verbrachte.
Sie war in jenem Sommer 10 geworden.
Ihre Eltern hatten gerade genug zusammengespart, um die Ferien auf Wangerooge zu verbringen, und das auch nur in einem mittelmäßigen Ferienhaus.
Es war ein besonders heißer Sommertag, ihre Mutter war zum Baden an den Strand geradelt. Sie saß mit ihrem Vater allein auf der Terrasse des Ferienhauses, das sie gemietet hatten und las. Ihr Vater saß mit einer Dose Bier herum und dachte nach (glaubte Marie, doch heute wusste sie, dass er nicht nachdachte, sondern dass er sie beobachtete).
Sie legte ihr Buch aus der Hand und drehte sich ihrem Vater entgegen. "Woran denkst du, Papa?"
"An nichts", erwiderte er und sah sie auf die Weise an, wie sie es überhaupt nicht mochte. So ... studierend ... auskundschaftend ... gerade als wenn er jeden Zentimeter ihres Körpers absuchte. "Mir wird kühl. Lass uns reingehen und uns dort weiterunterhalten!"
Sie wusste zwar nicht, wie es ihrem Vater kühl werden konnte, schließlich waren es 30 Grad, aber dennoch willigte sie ein. Sie gingen in das mittelmäßig ausgestattete Wohnzimmer, das für ihre Familie jedoch der pure Luxus war, da sie nur die graue Plattenbauwohnung in Oldenburg kannten.
Ihr Vater setzte sich auf die Couch und Marie setzte sich neben ihn. Er legte ihren Arm um sie, wobei seine Hand auf ihrem Unterschenkel landete. Zufall, dachte sie damals.
Sie saßen zu zweit auf der Couch und sahen sich eine der vielen Wiederholungen von "Dallas" an. Während sie guckten, rutschte seine Hand immer höher und schob dabei ihr Kleid nach oben. Irgendwann war sie so hoch gerutscht, dass sie ihre Vagina berührte.
"Papa, nimm bitte deine Hand da weg, das mag ich nicht", bat sie ihren Vater.
"Aber wieso denn? Guck schön weiter und sei still", erwiderte er ihr, und dann fing er an.
Die Pausenklingel läutete zum Ende der Stunde. Marie war erleichtert. Erst jetzt merkte sie, wie ihr die Schweißperlen auf der Stirn standen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr an diese Geschichte gedacht.
Sie verließ den Klassenraum und machte sich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Sie würde sich wohl einen kräftigen Schluck Cognac aus ihrem Flachmann für Notfälle in den Kaffee tun müssen, um überhaupt für eine weitere Stunde fähig zu sein.
Als sie im Lehrerzimmer ankam stellte sie ihre Tasche ab und ging auf die Toilette. Sie setzte sich auf einen Klodeckel, schloss die Kabinentür ab und ließ ihren Tränen freien Lauf. Diese Stunde war die schlimmste gewesen, die sie seit langem erlebt hatte. Die Geschichte hatte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf abgespielt, sodass sie sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren konnte und den Schülern einfach eine Aufgabe gestellt hatte, die sie den Rest der Stunde beschäftigen sollte. Dann hatte sie sich hingesetzt und immer wieder die Sache von damals vor sich abspielen lassen. Sie wollte es nicht, aber sie konnte nichts dagegen tun, es passierte einfach.
Plötzlich fasste sie einen Entschluss: Sie würde nie wieder an die Geschichte denken.
Sie verließ die Toilette, holte ihre Tasche und bewegte sich in Richtung Toilette. Nicht auf die Lehrertoilette, dort konnte sie nicht hin, sonst würde sie gefragt werden, warum sie ihre Tasche holte, nur um auf Klo zu gehen.
Sie betrat die Schülertoilette, ging in eine Kabine, schloss diese ab und zog ihr Taschen- messer aus ihrer Tasche.
Nein, sie würde nie wieder an diese Geschichte denken ... .
E-N-D-E