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I don't like Mondays

© 2003 Birger Berbüsse

Als er an diesem Morgen aufwachte, wusste Hendrik noch nicht, dass er am Ende des Tages in allen Nachrichten zu sehen sein würde. Allerdings würde er da schon tot sein. Doch davon ahnte er natürlich genauso wenig. Erst einmal war es ein ganz normaler Montagmorgen für ihn.

"-spielen wir jetzt für sie wieder drei Hits am Stück. Es beginnt Anastacia mit-"

Der Radioton erstarb wieder. Hendrik brauchte nie lange, um vom Geplapper des Radiomoderators geweckt zu werden, wenn die Digitalanzeige seines alten Radioweckers auf "6:25" sprang. Und wie immer schaffte er es auch heute, das Ding auszustellen, bevor ihm diese widerliche Pop-Musik in die Ohren dringen konnte. Deshalb hielt er ja auch an dem schäbigen kleinen Plastik-Teil fest: Nichts konnte Hendrik schneller aus dem Bett treiben als der Gedanke an Pop-Musik. Obwohl es eigentlich auch einen ganz guten Grund gab, liegen zu bleiben und nicht aufzustehen: Die Schule. Raphael und dessen Truppe aus der 10. Mathematik, die er seit der dritten Klasse nicht mehr wirklich begriffen hatte. Sport, für den er einfach zu untalentiert war. Die Mädchen, die ihn nicht beachteten. Die Lehrer, die sich nicht um ihn kümmerten...

Aber wie jeden Morgen stand Hendrik auch heute auf. Er zog sich den Schlafanzug aus, pfefferte ihn aufs Bett und suchte im Schrank nach frischer Unterwäsche und Socken. Dann noch seine verwaschene Jeans, das schwarze T-Shirt: fertig. Hendrik ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen.

Er formte mit beiden Händen eine Schale und ließ das kalte Wasser hineinlaufen. Dann wischte er sich damit übers Gesicht, um endgültig wach zu werden. Im Spiegelbild blickte ihn ein ganz normaler, sechzehnjähriger Junge an, der in knapp einem Jahr den Realschulabschluss haben würde. Knapp einssiebzig groß, gute siebzig Kilo schwer und damit leicht pummelig, aber bestimmt nicht dick. Mittellange, blonde, etwas fettige Haare und ein paar Akne-Narben. Nicht besonders hübsch, aber auch nicht wirklich hässlich. Eher ein ganz normaler Junge. Ein Junge, der sich nur deshalb so sehr auf die Sommer-Ferien freute, die in einer Woche beginnen sollten, weil er dann sechs Wochen lang ohne Demütigungen verbringen würde. Sechs Wochen, in denen er seine Ruhe-

"Hendrik! Dein Frühstück ist fertig!" Der laute, aber freundliche Hinweis seiner Mutter holte ihn aus seiner Gedankenwelt.

"Ja, ich komme sofort! Mach´ nur noch eben die Haare!" Er versuchte es zwar, aber wie immer gelang es ihm nicht.

Hendrik zuckte mit den Schultern und ging runter in die Küche.

Sein Vater hatte von der Nachtschicht Brötchen mitgebracht. Außerdem hatte ihm seine Mutter eine heiße Tasse Kakao gemacht. Sie aß schon, während sein Vater bereits im Bett lag. Seine Arbeit bei einem Sicherheitsdienst verlangte ihm viel ab. Zu viel, dachte Hendrik. Er hatte ihn in letzter Zeit immer weniger gesehen, geschweige denn mit ihm geredet. Und dabei wollte er mit ihm über so vieles reden, über seine Probleme in der Schule, seine Probleme mit den Mitschülern, seine Probleme mit Mädchen (na ja, darüber vielleicht nicht unbedingt, wer wollte darüber schon mit seinem Vater sprechen?). Aber manchmal kam es Hendrik so vor, als wäre der Mann, der manchmal mit ihm am Tisch saß und frühstückte, nur Irgendjemand, ein Untermieter oder Besucher vielleicht.

"Schreibst du heute noch eine Arbeit, Schatz?"

"Häh, was?" Schon wieder riss ihn seine Mutter aus seinen Gedanken.

"Ob du heute noch eine Arbeit schreiben musst. In der Schule", sagte sie.

"Nein", antwortete er, "natürlich nicht. Hab doch vor ner Woche die letzte geschrieben."

Manchmal konnte ihn seine Mutter wirklich nerven. Sie hatten bestimmt hundert Mal darüber gesprochen, dass er letzte Woche seine letzte Arbeit in diesem Schuljahr geschrieben hatte. Und jetzt fragte sie ihn wieder danach. Oh ja, manchmal trieb sie ihn wirklich zur Weißglut. Aber das ließ er sich natürlich nie anmerken. Dafür tat sie einfach zu viel für ihn, als dass er sie seine gelegentliche Wut spüren lassen würde.

Er ließ sich überhaupt nie etwas anmerken, wenn ihn Raphael und die anderen wieder ordentlich vermöbelten, ihm sein Geld wegnahmen oder seine Hausaufgaben klauten, so dass er wieder einen Eintrag bekam. Er ließ sich auch nichts anmerken, wenn er im Sportunterricht wieder die hämischen Sprüche mitbekam, wenn er den Basketball wieder drei Meter daneben warf oder den Hundert-Meter-Lauf erst nach 25,7 Sekunden beendete.

Nein, Hendrik verzog keine Miene, auch nicht, als Larissa ihn ausgelacht hatte, als er sie ins Kino einladen wollte. Er hatte drei Monate mit sich gerungen, bevor er das gewagt hatte, und sie hatte ihn einfach nur ausgelacht, es allen erzählt und-

Ein paar Straßen weiter schlug die Kirchturmuhr erst vier und dann sieben Mal. Das war wie immer Hendriks Zeichen zum Aufbruch. Er ging noch einmal ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, holte seinen Rucksack, verabschiedete sich von seiner Mutter und verließ das Haus. Es waren fünf Minuten Fußweg bis zu Bushaltestelle, ein paar Hundert Meter die Straße runter, dann die Abkürzung durch Müllers Garten, über die Ampel und er war da. Stand an der Straße und wartete zum letzten Mal in seinem Leben auf den Bus.

In dem kleinen Dorf, das gerade mal zweitausend Einwohner zählte (und das war noch freundlich geschätzt), war Hendrik der einzige Sechzehnjährige. Alle anderen Schüler, die mit ihm in oder vor dem kleinen Unterstand an der Hauptstraße auf den Bus warteten, waren jünger als er. Denn die Gymnasiasten fuhren schon mit dem Auto. Und obwohl man hätte vermuten können, dass Hendrik zumindest in diesem Kreis seine Ruhe haben würde, war dem nicht so. Ganz und gar nicht. Die Kleinen machten ihre Scherze mit ihm, schubsten ihn, nannten ihn "Pummelchen" oder "Kelly" (wegen seiner fettigen Haare). Auch diese Beleidigungen nahm er mit regungsloser Miene zur Kenntnis. Er hatte es vor einiger Zeit aufgegeben, sich zu wehren, weil es sinnlos war. Um sich körperlich zu wehren, war Hendrik zu ungeschickt und behäbig, und um sich mit Worten zu wehren, war er schlichtweg zu-

langsam. Er brauchte viel zu lange, um nach einer passenden Antwort zu suchen und selbst die war dann nichts Besonderes. Also ließ er alles über sich ergehen, wie er das seit der fünften Klasse gewohnt war.

Warum es überhaupt ihn getroffen hatte, der zum Prügelknaben der anderen Kinder und Jugendlichen geworden war, wusste er nicht. Und auch niemand, der an diesem grausamen Spiel teilnahm, hätte das beantworten können. Vielleicht hatte er damals nur einmal etwas Peinliches gesagt oder getan, dass den Anlass gegeben hatte. Wie auch immer, es hatte nie aufgehört und war immer schlimmer geworden. Erst ärgerten ihn nur die Jungs aus seiner Klasse, dann die anderen Gleichaltrigen und später, als sie bemerkten, dass er sich nicht wehren konnte, auch die Jüngeren. Mädchen beteiligten sich zwar nicht in diesem Ausmaße daran, aber sie lachten über ihn. Und das war möglicherweise das Schlimmste.

Als der Bus kam, entstand sofort eine wilde Rangelei um die vordersten Plätze in der Reihe. Sitzplätze waren begehrt, denn nur Loser standen im Gang. Hendrik stand. Er hatte noch nie einen Sitzplatz gehabt, und selbst wenn mal einer frei war, blieb er stehen, um nicht von hinten in den Nacken gespuckt zu werden, wie ihm das schon passiert war.

Sommerferien. In einer Woche. Daran dachte er, während der Bus zur Schule fuhr. Das würden sechs wundervolle Wochen für ihn werden. Wundervoll deshalb, weil er niemanden dieser verschissenen Wichser sehen würde. Sechs Wochen lang würde er nicht von diesen Pissern herumgestoßen, geschlagen, beleidigt oder ausgelacht werden. Er würde in seinem Zimmer sitzen, Filme gucken (am liebsten mochte er solche, in denen der Held sich am Ende an seinen Peinigern rächte oder in denen einen kleiner Underdog zum Helden wurde, wie in "Rocky"), Bücher lesen (den "Graf von Monte Christo" hatte er schon drei mal verschlungen) oder wieder diese Bilder malen, mit denen er vor ein paar Monaten begonnen hatte. Anfangs hatte er sich vor sich selbst erschrocken, als er abgerissene Gliedmaßen, vergewaltigte Frauen, Hinrichtungen, Kriegsszenarien und grausamste Morde in seinen Collegeblock zeichnete. Doch nach einiger Zeit hatte er herausgefunden, dass die Bilder ein hervorragendes Ventil für seine täglichen Grausamkeiten waren, besonders wenn er den Mordopfern die Gesichter seiner Peiniger gab (Raphael, immer wieder Raphael: enthauptet, gevierteilt, ausgeweidet, erschossen).

Der Bus hielt ziemlich abrupt, und Hendrik stolperte drei Schritte nach vorn, legte sich beinahe lang. Er konnte sich gerade noch aufrecht halten, was zu enttäuschten Ausrufen führte.

Hendrik setzte sich den Rucksack auf und stieg aus dem Bus. Auf dem Parkplatz vor der Schule kamen aus allen Richtungen Schüler zusammen und gingen scherzend oder sich über das Fernseh-Programm vom Vorabend unterhaltend in das große, graue Gebäude. Von Raphael und den anderen war nichts zu sehen, weshalb Hendrik erst einmal durchatmete. Denn oft genug schon hatten sie ihm direkt am Bus aufgelauert, um mit seinem Rucksack Fußball zu spielen oder ihm ganz profan in die Eier zu treten, so dass er mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie ging. Aber sie waren nicht zu sehen und er hoffte schon ein wenig, dass er heute einmal einen ganz normalen Schultag haben könnte. Doch diese Hoffnung endete schlagartig, als er seinen Klassenraum im ersten Stock betrat.

Die blassgrüne Tafel war weit ausgeklappt. Auf die Haupttafel in der Mitte hatte jemand ein Bild gemalt. Hendrik, der mit einemmal wieder auf dem Boden der Realität gelandet war, erkannte sofort, wen die Figur in dem Bild darstellte: Ihn.

Der Zeichner hatte sein Gesicht verblüffend gut getroffen, sogar die Akne-Narben saßen an den richtigen Stellen. Um den immensen Fettgehalt von Hendriks Haaren deutlich zu machen, sah man kleine Tiere, die daran festklebten. Doch das Schlimmste war der Rest des Bildes, Hendriks Körper. Er war nackt und unglaublich fett. Die hängenden Titten sahen beinahe wie Kuheuter aus und der Bauch blähte sich über- beinahe gar nichts. Statt seiner Genitalien besaß der Tafel-Hendrik nur einen klitzekleinen Kreidestrich zwischen zwei weißen Punkten.

Hendrik schluckte. Er versuchte verzweifelt die Fassung zu bewahren, wie er es auch sonst immer tat. Vergebens. Ihm traten die Tränen in die Augen. Es war die schlimmste Demütigung seit ihm Raphael in der siebten Klasse im Sportunterricht die Hosen runter gezogen hatte. Vor allen Mädchen. Das Gelächter war damals ebenso groß gewesen wie an diesem Montagmorgen. Die Klasse kriegte sich nicht mehr ein, alle lachten sich tot, wie Hendrik da vor seinem Porträt stand und anfing zu heulen.

Nein, heute würde kein normaler Schultag für ihn sein, das war ihm jetzt klar. Doch noch dachte er nicht an das, was er später an diesem Tag tun würde. Er war einfach der traurigste und einsamste Junge der Welt.

Sein Mathe-Lehrer trat ein und die ganze Klasse verstummte auf einen Schlag. Herr Vieth war einer der strengsten Lehrer der Schule und nicht nur Hendrik fürchtete ihn (vor allem, weil er dieses Fach einfach nicht verstand). Die Schüler hatten großen Respekt vor ihm und erwarteten eine gehörige Standpauke, wenn nicht gar Straf- arbeiten. Doch Herr Vieth schaute nur kurz in die Runde und danach zu Hendrik. Danach sah er sich die Zeichnung an der Tafel an. "Gut getroffen", war sein trockener Kommentar. Als daraufhin die Klasse wieder zu kichern begann, rannte Hendrik los. Weg, weg, er wollte nur noch weg. Sich in seinem Zimmer verkriechen, wo er alle seine Nachmittage, Wochenenden und Ferien verbrachte, weil sie ihn alle hassten und verspotteten, weil seine Eltern nicht merkten, was mit ihm los war, weil er keine Freunde hatte, weil er-

Auf dem Flur kam ihm Raphael entgegen. Ein kurzer Blick in Hendriks verheultes Gesicht genügte ihm, um zu erkennen, dass dieser das Bild bereits gesehen hatte.

"Na, hat es dir gefallen?" fragte er. "Schade, wäre gern dabei gewesen, um zu sehen, wie du anfängst, zu flennen, Pummelchen!"

Und in diesem Moment machte es in Hendriks Kopf "Klick". Sein Gesicht verfinsterte sich und zeigte zum ersten Mal Zorn. "Ich bring´ dich um."

Es war nur ein Flüstern, aber Raphael hörte es ganz genau. Für einen Augenblick war er außerordentlich verblüfft, vielleicht sogar verängstigt. Dann erinnerte er sich, wer diesen Satz gerade gesprochen hatte und sein Gesicht verwandelte sich in eine wütende Grimasse. "Halts Maul!" sagte er zu Hendrik, ging auf ihn zu und rammte ihm mit voller Wucht sein rechtes Knie in die Hoden.

"Uuuh." Hendrik griff sich mit beiden Händen zwischen die Beine, von wo aus Wellen des Schmerzes durch seinen Körper zogen. Stöhnend fiel er zu Boden, wo er zusammengekrümmt liegen blieb. Raphael schaute verächtlich auf ihn hinab. "Sag so etwas noch einmal, und wir machen dich richtig fertig, du kleiner Schwanzlutscher."

Hendrik hatte seine Augen geschlossen, aber er hörte, wie Raphael den Flur entlang in die Klasse ging. Nach einer Weile, als nur noch ein dumpfes, aber immer noch äußerst unangenehmes Pochen in seinen Eiern von dem fiesen Tritt übrig war, rappelte Hendrik sich auf. Den Rucksack, der ihm von der Schulter gerutscht war, ließ er einfach auf dem Boden liegen

Von Zorn oder Schmerz war in seinem Gesichtsausdruck nichts mehr zu erkennen. Es war noch ausdrucksloser als jemals zuvor. Denn Hendrik hatte nur noch einen Gedanken: Nach Hause, in das Arbeitszimmer seines Vaters, und dann zurück in die Schule. Raphael hatte etwas eingeleitet, was nicht mehr zu stoppen war. Hendrik wollte Rache.

Zeitgleich mit dem Läuten zur ersten Stunde (es war viertel vor acht) verließ er die Realschule. Hendrik ging wieder zur Bushaltestelle, wo er zwanzig Minuten wartete, bis der Bus kam, der durch sein Dorf fuhr. Er bewegte sich in dieser Zeit kein Stück, verzog keine Miene. Seine Gedanken konzentrierten sich einzig und allein auf sein vorläufiges Ziel: den Schrank im Arbeitszimmer seines Vaters. In diesem Schrank befand sich ein Tresor, versteckt hinter einem losen Holzstück. Ungefähr um sechs Uhr heute Morgen müsste sein Vater seine Dienstwaffe sowie zwei volle Magazine ihn ihm eingeschlossen haben, bevor er die Brötchen auf den Tisch legte und schlafen ging. Und genau diese Waffe wollte Hendrik sich jetzt holen.

Natürlich hatte ihm sein Vater den Tresor niemals gezeigt. Ganz im Gegenteil hatte er sogar peinlichst genau darauf geachtet, dass Hendrik nichts von ihm erfuhr. Doch vor ein paar Jahren hatte Hendrik sich im Dezember, als seine Eltern einmal ausgegangen waren, auf die Suche nach seinen Weihnachtsgeschenken gemacht, denn er wollte unbedingt wissen, ob er das Computerspiel bekommen würde. Als er den Schrank seines Vaters inspizierte, war er gegen die Rückwand gestoßen, wobei ein Holzstück herabfiel. Und dahinter blinkte eine kleine metallene Tür, die in die Wand eingelassen war. Hendrik war natürlich sofort klar, was er hier entdeckt hatte. Damals war ihm das allerdings ziemlich egal gewesen, und er hatte das Holzstück vorsichtig wieder an seinen Platz gerückt. Jetzt aber konzentrierte er sich völlig auf diese kleine Tür. Auf die Tür und auf den kleinen unscheinbaren Schlüssel am Schlüsselbund seines Vaters, den dieser stets auf der kleinen Kommode im Flur abzulegen pflegte. Hendrik hatte es nie gewagt, auszuprobieren, ob er auch passte. Er wusste es einfach.

Neben dem Fahrer und einer uralten Frau war Hendrik die einzige Person im Bus. Trotzdem stand er im Gang und merkte gar nicht, wie sich seine Hand um die Stange verkrampfte, an der er sich festhielt. Der Bus hielt unterwegs nicht ein einziges Mal an, weswegen Hendrik sehr schnell in seinem Dorf war. Als er aus Müllers Garten in seine Straße einbog, kam ihm Frau Thewes entgegen. Wortlos, ohne sie auch nur anzusehen, ging Hendrik an ihr vorbei. Erst war Frau Thewes empört, dass er sie nicht gegrüßt hatte, was in einem kleinen Dorf wie diesem noch zur guten Sitte gehörte. Dann schlug ihre Empörung in Verwunderung um: Was hatte der nette Junge bloß, der sie doch sonst immer so freundlich grüßte?

Auf diese Frage hätte Hendrik ihr keine Antwort geben können. In seinem Kopf war ein Schalter umgelegt worden, er funktionierte jetzt wie eine Maschine. Ihre Mission: Rache und Vergeltung für Jahre der Folter.

Die Haustür schwang auf, und er trat ein. Da, auf der Kommode! Die Schlüssel! Hendrik schloss leise die Tür, griff sich den Schlüsselbund und ging durch die linke Tür in die Küche, hinter der das Arbeitszimmer seines Vaters lag. In der Küche stand seine Mutter vor der Spüle und erledigte den Abwasch. Als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich erstaunt um.

"Hendrik, was machst du denn schon wieder hier?", fragte sie ihn. Dann blickte sie in sein blasses, geisterhaftes Gesicht. Seine Augen schienen durch sie hindurchzusehen. "Hendrik? Ist alles in Ordnung mit dir?"

Seine Hand griff nach dem Fleischermesser, das auf dem Küchentisch lag.

Sie war nicht Teil seines Planes (wenn man es denn so nennen wollte) gewesen. Eigentlich hätte sie Einkaufen sein müssen, aber ein unglücklicher Zufall hatte sie wohl zuhause gehalten. Und nun war sie Teil von Hendriks Rache-Plan.

Mit einem Mal und unglaublicher Intensität tauchten Bilder und Gefühle gegenüber seiner Mutter in ihm auf. Seine Mutter, die ihn zwar abgöttisch liebte. Die aber vielleicht gerade deshalb nicht sah, wie sehr ihr Sohn litt. Plötzlich verspürte Hendrik unbändige Wut auf sie. Er hatte ihr nie erzählen können, was er alles zu ertragen hatte. Wie er verprügelt wurde. Wie er verspottet und ausgelacht wurde. Dass er keinen einzigen Freund hatte. Dass er der einzige Junge der Klasse war, der noch nicht seine Jungfräulichkeit verloren hatte. Er hatte ja noch nicht einmal ein Mädchen geküsst! Wie auch? Wenn sie nicht einmal mit ihm reden wollten! Und warum sollten sie auch! Wer will schon mit jemanden gehen, der der Prügelknabe der gesamten Schule ist? Seine Mutter ahnte nichts davon. Hendrik konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen, weil er ihr Bild von ihm nicht zerstören wollte. Dass war er ihr doch schuldig, oder nicht? Schließlich kochte, wusch und arbeitete sie für ihn. Da sollte sie doch stolz auf ihr einziges Kind sein können!

Das alles stürzte jetzt auf ihn ein, und er hasste sie dafür. All seine Schmerzen, Leiden und Qualen hatte er immer vor ihr verstecken müssen, hatte sie alle herunterschlucken müssen, ohne sie verarbeiten zu können. Aber das würde er nun erledigen, nicht wahr? Ab heute würde er sich nie mehr verstellen. Er würde ihr und der ganzen Welt zeigen, was er fühlte.

Hass.

Sie schrie laut auf, als Hendrik das Fleischermesser in die Hand nahm und auf sie zuging. Er holte aus und stieß ihr das Messer mit seiner ganzen Kraft in den Bauch.

Es drang bis zum Schaft in sie ihn. Seine Mutter starrte ihn ungläubig an.

"Hendrik. Was…"

Als er die Klinge wieder herauszog, ertönte ein schreckliches, schmatzendes Geräusch, und seine Mutter spuckte Blut. Ohne Mitleid stach Hendrik wieder zu, diesmal in die Seite. Als seine Mutter wieder anfing zu schreien, rammte er ihr den Ellbogen ins Gesicht und brach ihr dabei zwei Zähne heraus. Dann stach er die Klinge ein drittes Mal in ihren Körper (wobei erneut dieses schmatzende Geräusch erklang). Und ein viertes. Ein fünftes. Ein sechstes…

Nach drei Minuten ließ er völlig erschöpft von ihr ab. Da war seine Mutter schon längst tot. Das Messer steckte in ihrer Brust. Irgendwann musste er ihre Halsschlagader getroffen haben, denn das Blut spritzte nur so aus ihr heraus. Auf dem Fußboden hatte sich bereits eine große Pfütze gebildet und auch seine eigenen Klamotten waren über und über von ihrem Blut besudelt. Er zog sich seinen Pullover aus und legte ihn über die Fontäne aus Blut, die aus ihrem Hals sprudelte. Dann hob er den Schlüsselbund auf, den er irgendwann fallen gelassen hatte und ging ohne einen einzigen Blick auf sein erstes Opfer an diesem Tag weiter ins Arbeitszimmer.

Er war in keinster Weise überrascht, dass sein Vater nicht von den beiden Schreien (nach dem Schlag mit dem Ellbogen hatte sie sich in ihr Schicksal ergeben) seiner Mutter wach geworden war. Der schlief wie ein Stein, wenn er Nachtschicht gehabt hatte.

Sein Vater. Der ihn mit Sicherheit auch liebte. Der aber nie Zeit für ihn hatte, weil ihn seine Arbeit vollkommen einnahm. Gerne hätte Hendrik mit seinem Vater über seine Situation geredet. Vielleicht sogar lieber als mit seiner Mutter. Oder einfach mal etwas ganz normales mit ihm unternommen wie ins Kino gehen. Aber so etwas kam nur sehr selten vor, und Hendrik wollte diese für ihn kostbaren Momente dann nicht mit einem Gespräch über seine Probleme kaputt machen. Sein Vater. Nein, er war kein Vater gewesen. Nur irgendjemand, der sich nicht genügend um seinen Sohn kümmerte. Irgendjemand, der deswegen bestraft werden musste. Sterben musste.

Während er diesen Entschluss fasste, öffnete er den Schrank und riss das lose Holzstück heraus. Er nahm den Schlüsselbund und suchte nach dem kleinen Schlüssel, der einfach passen musste. Dessen war er sicher.

Er passte nicht. Für einen kurzen Moment erstarrte Hendrik und es sah so aus, als ob sein Feldzug schon beendet war. Doch dann huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Das Schloss war einfach verkehrt herum eingebaut worden! Es stand auf dem Kopf! Hendrik, dessen Gesicht schon wieder die alte Ausdruckslosigkeit besaß, drehte den Schlüssel und versuchte wieder, ihn ins Schloss zu stecken. Diesmal passte er. Natürlich. Die Tür sprang auf und er konnte einen Blick ins Innere des Tresors werfen. Dort lagen eine Walther PPK und zwei volle Magazine.

Ruhig entnahm er die Waffe, steckte sich ein Magazin in die Tasche und das andere in die Pistole. Er lud durch und entsicherte. Den Schlüsselbund steckend lassend, wandte er sich zur Küche. Dann drehte er sich doch noch um, zog ihn ab und verstaute ihn ebenfalls in seiner Tasche. Die Pistole hielt er in der rechten Hand, als er die Treppe hinauf ins Schlafzimmer seiner Eltern ging. Leise öffnete Hendrik die Tür. Sein Vater lag auf dem Bauch, die Decke nur bis zur Hüfte hochgezogen. Hendrik ging vorsichtig zur linken Seite des Bettes, hob die Hand und hielt seinem Vater den Lauf an den Hinterkopf.

Der Knall war ohrenbetäubend. Blut, Gehirn und Knochensplitter spritzten auf das weiße Laken, das in Sekundenschnelle vollgesogen war. Dichter, beißender Pulverqualm hing in der Luft. Hustend sicherte Hendrik die Waffe und steckte sie sich hinten in den Hosenbund, so dass sie vom T-Shirt verdeckt wurde. Als er seinen Vater umdrehte, war von dessen Gesicht nur noch ein Krater übrig. Die Kugel hatte bei ihrem Austritt, nachdem sie längs durch das Gehirn geschossen war, das linke Auge, die Nase und den kompletten Oberkiefer weggerissen. Der Unterkiefer hing schief herunter, und nur die Ohren waren gänzlich verschont geblieben. Nach einem kurzen Blick verließ Hendrik das Haus.

Draußen zögerte er kurz. Eigentlich hatte er vorgehabt, wieder mit dem Bus zur Schule zurückzufahren, wo er sein Werk vollenden wollte. Doch dann erinnerte er sich plötzlich, an den Schlüsselbund, den er – aus reinem Instinkt heraus – vorhin in die Hosentasche gesteckt hatte. Hendrik ging zur Garage, wo der Audi A3 seines Vaters stand.

Zwei Mal würgte er den Motor ab, dann schoss Hendrik mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt und legte auf der Straße eine Vollbremsung hin. Zu seinem Glück war niemand in der Nähe, der dieses waghalsige Manöver beobachten konnte. Er schnallte sich an, schob eine seiner Kassetten, die im Auto herumlagen, rein, drehte die Musik auf und fuhr – langsamer, weil jetzt wieder mit der Technik vertraut – wieder zurück zur Schule. Lächelnd.

Die große Pause hatte eben erst begonnen, als Hendrik die Eingangshalle der Realschule betrat. Den Wagen seines Vaters hatte er vorher ordentlich auf dem Lehrerparkplatz abgestellt. Zuerst viel er Niemandem auf, als er hereinkam. Er war ja auch ein ziemlich normaler, eher schon unscheinbarer Junge- mal von dem abgesehen, was er alles erlitten hatte. Seine Haare waren fettig wie immer und standen wirr von seinem Kopf ab. Auch seine Klamotten waren die gleichen, die er immer trug. Mit einer Ausnahme-

"Ey, der blutet ja!" rief ein Mädchen, an dem er vorbei ging. Hendrik schaute an sich herunter. Nein, er blutete keineswegs. Die großen Flecken und Spritzer auf seiner Jeans und den Schuhen waren das Blut seiner Eltern. Darauf hatte er überhaupt nicht geachtet. Ebenso wenig beachtete er jetzt das Mädchen, das ihren Ausruf noch einmal wieder holte, und die Dutzende von Schülern, die ihn daraufhin anstarrten. Mit versteinerter, zielstrebiger Miene bahnte er sich seinen Weg. Raphael stand mit seinen Jungs in der Regel hinter der Sporthalle (wenn sie nicht gerade ihren Spaß mit Hendrik trieben) und rauchte. Das war sein Ziel, die anderen interessierten ihn nicht, waren nur Gesichter in der Menge. Bedeutungslos. Außer-

Larissa stand vor dem Vertretungsplan. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, erkannte er sie sofort. Die zierliche Figur, der knackige Hintern appetitlich von einer engen, beigen Hose verpackt, die blonden Haare zu einem Zopf gebunden. Sie unterhielt sich mit ihrer besten Freundin Kristin über den morgen ausfallenden Biologie-Unterricht. Sie lachte.

"Schlampe!" Hendrik presste das Wort zwischen seinen farblosen Lippen hervor.

Sie drehte sich um, und warf ihm mit ihrem sonst so hübschen Gesicht einen überaus bösen Blick zu: "Was?"

"Schlampe", wiederholte er. Denn war sie das nicht etwa? Er hatte aus Gesprächen im Umkleideraum herausgehört, dass sie es schon mit Vielen getan hatte. Gefickt hatte. Und ihn, der sie ganz unschuldig und ohne solche Hintergedanken eingeladen hatte, hatte sie nur ausgelacht und verspottet. Sie war bei weitem nicht so nett und so süß, wie sie aussah, oh nein! Aber das war jetzt vorbei!

"Schlampe", sagte er noch einmal. Als sie gerade den Mund aufmachte, um ihm eine passende Antwort zu geben, griff Hendrik hinter sich und holte die Pistole hervor. In einer einzigen, überraschend flüssigen Bewegung zog er sie aus seiner Hose, brachte sie in Position und entsicherte. Er zielte auf Larissa. Er zielte tief. Sie blickte ihn flehend an, aber Hendrik registrierte sie nicht mehr. Sein Finger krümmte sich um den Abzug und er schoss.

Alles erstarrte. Stille. Bis auf Larissas Schmerzensschreie. Die Kugel hat ihre Vagina in Stücke gerissen und den Schritt ihrer Hose sofort tiefrot gefärbt. Für Hendrik war es ein Volltreffer. Wimmernd ging Larissa in die Knie, fassungslos in ihren Schoß blickend.

Dann brach die Hölle los. Es wurde geschrieen und geweint, alle stürmten auf die Ausgänge zu. Inmitten dieses Chaos stand Hendrik seelenruhig vor Larissa und Kristin, die sich vor Schock nicht rühren konnte. Erneut hob er die Waffe und schoss ihr mitten ins Gesicht. Von der Wucht des Einschlags wurde ihr Körper einen Meter zurück an die Wand geschleudert, wo er zu Boden sank. Das bekam Hendrik gar nicht mehr mit. Er ging zielstrebig zum Ende der Eingangshalle, öffnete die Tür und trat nach draußen. Vor ihm lag der große, graue Betonklotz Sporthalle. Ging man den schmalen Weg links an der Halle vorbei, kam man zu einer kleinen Nische zwischen Gebäude und Begrenzungsmauer. Dorthin ging er.

Raphael war mit seinen drei Kumpels soeben in überaus tiefsinnige Gespräche über Saufen, Frauen, Ficken und Saufen vertieft, als Patrick ihn anstieß.

"Ey, guck ma´! Ich glaubs nicht, was will der Fettsack denn hier?"

"Häh?" Raphael drehte sich um und sah Hendrik auf sie zukommen. "Verdammt noch mal, Kelly, ich hab dich vorhin gewarnt! Jetzt bist du dran! Jungs."

Raphael, Patrick, Mike und Timo schmissen ihre Kippen weg, spannten die Muskeln und gingen auf Hendrik zu, der gut zehn Meter vor der Nische stehen geblieben war. Mike sah die Pistole in seiner Hand als erster: "Scheiße, der hat ne Knarre!!"

Zu spät. Mit einem erstaunten Aufschrei riss es Patrick von den Füßen. Zu seinem Glück hatte Hendrik nicht gut gezielt. Der Schuss traf nur Patricks Knie und zerfetzte es . Während Patrick fluchend am Boden lag und sich das Bein hielt, blieben die anderen wie angewurzelt stehen.

"Hey, Hendrik, mach keinen Scheiß! Komm, schmeiß die Waffe weg, ja? Wir lassen dich ab jetzt…"

Weiter kam Raphael nicht, denn Hendrik eröffnete ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken das Feuer. Raphael schmiss sich noch geistesgegenwärtig auf den Boden, aber seine beiden Freunde waren zu langsam. Zwei Kugeln trafen Timo in die Brust, eine weitere in den Bauch. Blut spuckend sackte er zu Boden. Mike wurde in Kopf und Hals getroffen. Er war sofort tot. Eine weitere Kugel schlug hinter ihnen in der Mauer ein.

Jetzt ging Hendrik langsam auf Raphael zu, der heulend am Boden lag. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen und schaute in das verängstigte Gesicht. Ein Gesicht, das ihn hundert Mal ausgelacht hatte. Ihn beleidigt und ihm gedroht hatte. Ein Gesicht, dass ihm mehr als alles andere auf der Welt verhasst war. Jetzt war es panisch verzerrt vor Angst, sämtliche Farbe war aus ihm gewichen.

"Du bist tot", sagte er grinsend zum Raphael. Dann hielt er ihm die Pistole vor die Stirn und drückte ab.

Nichts. Nur ein metallenes Klicken.

Von einer Sekunde auf die andere brach Hendrik der Schweiß aus. Raphael atmete erst durch, dann erkannte er seine Chance, sprang auf die Beine, stieß den völlig verwirrten Hendrik zu Boden und sprintete los. Der Sturz und die damit verbundene Erinnerung, brachte Hendrik wieder zurück. Er stand wieder auf, klickte das Magazin aus der Waffe, holte das zweite aus seiner Hosentasche und schob es rein. Kurz blickte er noch auf Patrick, der immer noch keuchend zwischen seinen zwei toten Freunden in einer riesigen Lache aus Blut lag. Aber für den war jetzt keine Zeit, er wollte Raphael. Das rettete Patrick das Leben, wenn seine sportliche Karriere auch beendet war.

So schnell ihn seine siebzig Kilo tragen konnten, rannte Hendrik um die Ecke. Er wusste, dass er nur eine Chance hatte. Raphael war nach Patrick der Schnellste der Klasse. Und wirklich, er war ihm auch schon gute dreißig Meter voraus und würde gleich die Mauer erreichen, die das Schulgelände hier vom Buswendeplatz trennte, von dem mittlerweile Sirenengeheul zu hören war. Deshalb blieb Hendrik blieb stehen und schoss einfach auf gut Glück. Die ersten vier Schüsse peitschten an Raphael vorbei. Der vierte dagegen traf ihn im Rücken und trat durch die Lunge wieder aus. Raphael stürzte nur wenige Meter von seiner Rettung entfernt zu Boden.

Als Hendrik ihn endlich erreicht hatte, war er bereits tot. Trotzdem trat Hendrik ihm noch ins Gesicht. Und noch einmal. Und ein weiteres mal. Plötzlich kamen ihm die Tränen, er fing an zu heulen und zu schreien. Er war einfach wieder nur Hendrik Vössing, der einfach in Ruhe leben wollte.

"Du bist Schuld! Du hast alles kaputt gemacht! Du bist Schuld!" schrie er Raphaels Leiche immer wieder an, während er auf sie eintrat.

"Hendrik Vössing! Hier spricht die Polizei! Legen Sie die Waffe auf den Boden und nehmen Sie die Hände hinter den Kopf! Kommen Sie langsam auf die Mauer zu! Ihnen wird nichts geschehen, wenn Sie alles befolgen!"

Hendrik schaute hoch, zur Mauer, von wo aus er die Megafonstimme vernommen hatte. Dort lagen mittlerweile Polizisten bereit und nahmen ihn ins Visier. Er schaute sich zum Schuleingang um. Auch dort Polizisten, Gewehre mit Zielfernrohren. Sie hatten ihn umstellt, es gab keinen Ausweg mehr. Aber das war Hendrik egal. Für ihn gab es seit heute morgen keinen Ausweg mehr. Eigentlich, so dachte er, hatte es für ihn nie einen gegeben. Es war alles darauf hinaus gelaufen, was er jetzt tat.

"Hendrik Vössing! Legen Sie die Waffe auf den Boden und nehmen Sie die Hände hinter den Kopf!" wiederholte die Megafonstimme.

Doch Hendrik wandte sich wieder zur Mauer und ging langsam auf sie zu, die Waffe immer noch in der Hand, mit ausdrucksloser Miene. Nur in seinen Augen schimmerte der Schmerz, der jahrelang innerlich an ihm genagt hatte.

"Stopp! Bleiben Sie stehen, oder wir sehen uns gezwungen, zu schießen! Legen Sie die Waffe auf den Boden!"

Und Hendrik blieb stehen. Vor seinem inneren Auge spielten sich noch einmal die schönen Ereignisse seiner Kindheit ab. Zoobesuche mit den Großeltern. Fahrradtouren mit seinen Eltern. Sein erster Kinobesuch. Die Sandburg, die er mit seinen Freunden aus dem Kindergarten gebaut hat. Wie sie im Garten eines der Jungen gezeltet hatten. Doch plötzlich verschwammen diese Erinnerungen, und er sah Raphael und die anderen vor sich. Sie stießen ihn herum, gaben ihm Schimpfnamen, verprügelten ihn, trieben ihre Scherze mit ihm. Die Mädchen, die ihn nicht beachteten. Larissa, die nur lachte, als er sie ins Kino einlud. Raphael, der ihn "Pummelchen" nannte.

Eine Träne floss ihm die Wange herab.

Hendrik hob die Pistole und schob sich den Lauf in den Mund.

Langsam schloss er die Augen.

 

ENDE

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