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Der Lohn des Forschers


Copyright ©2005 by Hannes Kiss

Der alte Mann rückte sich in dem bequemen Ohrensessel aus Großmutters Zeiten zurecht. Sein Gesicht war vom Leben, und den nicht immer freudigen Ereignissen die es mit sich brachte gezeichnet. Die braunen Augen blickten klar, und doch spiegelte sich in ihnen Ernst und Wehmut. Es war eine Mischung, die jeden Gesprächspartner faszinierte. Die Pfeife, aus der sich langsam kräuselnd weißer Rauch auf den Weg in das große Bibliothekszimmer machte, fand bedächtig den Mund des Mannes. Genüsslich sogen seine Lippen an ihr und gaben anschließend in Intervallen kleine Wölkchen des Qualmes wieder frei. Kurzzeitig bildeten sich hübsche Kringel, die sich aber wie von Geisterhand weggewischt, auflösten. Das Feuer in dem, mit vielen aufwendigen Ornamenten verzierten Kamin, erzeugte ein warmes Eigenleben im Raum. Es ließ anmutig die Schatten der Gegenstände über die alten, schmuckvollen Eichentäfelungen an den Wänden tanzen. Ebenso spiegelte es sich in Hunderten von goldenen Lettern, die sich auf mindestens der gleichen Anzahl von Buchrücken in den bis unter die Decke reichenden Regalen befanden. Eine enorme und ebenso wertvolle Ansammlung menschlichen Wissens!

Auf einer antiken, und ebenfalls komfortablen Couch saß der zweite Anwesende. Sein Name war Jonathan Draves, Reporter einer angesehenen, landesweiten Zeitung. Er war schon öfter Gast im Anwesen des alten Mannes gewesen und immer hatte dieser Raum mit seiner besonderen Atmosphäre eine eigentümliche Anziehung auf ihn ausgeübt. Doch an diesem Nachmittag, der sich schon zum Abend durchkämpfte, kam noch etwas anderes dazu. Noch nie hatte John Garlan, so hieß der pfeiferauchende Mann, ihn so lange empfangen. Es war schon immer schwierig gewesen, von einem der begnadetesten Wissenschafter der letzten fünfzig Jahre überhaupt ein Interview zu bekommen, geschweige denn über sein Wirken hinaus etwas aus seinem Privatleben zu erfahren. Mit 49 zog sich Garlan aus der Öffentlichkeit zurück, was viel, wenn nicht alles mit den tragischen Ereignissen in seiner Familie zu tun hatte. Das war vor acht Jahren. Heute schien es, als wolle Garlan den Mantel des Schweigens, den er über sich ausgebreitet hatte, wenigstens etwas lüften. Gehörte man in den Kreis der bedeutenden Persönlichkeiten, waren viele Menschen an den Kleinigkeiten des Lebens ihrer Idole oder Sternchen interessiert.

Jonathan Draves war auf ein so langes Gespräch, er hielt sich schon fast vier Stunden in der Bibliothek auf, nicht vorbereitet und deshalb glücklich, mehrere Minikassetten für sein Diktiergerät mit zu haben, die er in der momentanen Gesprächspause austauschte. Es lag in der Mitte des rustikalen Arbeitstisches, der zwischen den beiden Männern stand. Dann nahm er einen Schluck aus dem Glas Scotch, welches er nach zwei Wassern dankbar angenommen hatte.

Der Wissenschaftler holte mit seinen Erzählungen weit aus und die Holztäfelung in der Bibliothek hätte Feuer fangen können, Draves hätte ihn nicht unterbrochen. Er hörte Bekanntes aber auch sehr viel Neues; und interessant war der Tonfall, in welchem Garlan bestimmte Ereignisse erzählte. Er schien sich vorbereitet zu haben, was und wie er es dem Reporter mitteilen wollte. Zeitweise drängte sich Draves’ der Verdacht auf, der alte Mann wolle mit sich und der Welt ins Reine kommen. Der Reporter hörte von den Studienzeiten, als Garlan noch in einer schlecht ausgebauten "Dachwohnung" hauste, wie er Assistent wurde und seine erste Arbeit veröffentlichte (teilweise von der Fachwelt belächelt), wie er seine Frau kennen lernte und, keine Ausnahme bildend, mit ihr Höhen und Tiefen des Zusammenlebens erfuhr. Jonathan Draves brauchte nur wenige Fragen zu stellen, um sicher zu sein, dass das, was nicht gesagt werden wollte, auch nicht seine Ohren erreichen würde.

Er stellte den Scotch wieder auf den Tisch. Die zwei Eiswürfel im Glas klirrten leise und bildeten mit dem beruhigenden Knistern der Holzscheite im Feuer momentan die einzigen Geräusche im Raum. Er nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, überlegte kurz und sah dann seinem Gegenüber in die wachen Augen.

"Gibt es Momente, die sie gern noch einmal erleben möchten?" fragte Draves.

"Oh. Da wären schon einige aufzuzählen. Aus der Arbeit und natürlich auch privater Natur. Unser Gedächtnis ist schon eine geniale Sache. Erhält es doch sehr oft die schönen Seiten eines Lebensabschnittes bewusst und versucht, uns vor den Auswirkungen negativer Ereignisse in unserem Geist zu schützen. Schade, dass dies nicht immer funktioniert..." In Garlans Augen zeigte sich ein leichter Schimmer. Wäre das Licht besser gewesen, hätte Draves deutlich sehen können, dass Tränen sich in ihnen sammelten. Mit der linken Hand nahm Garlan die Pfeife aus dem Mund und tat, als wäre ihm etwas Qualm in die Augen gelangt. Mit der anderen Hand wischte er sie aus und hatte sich wieder im Griff.

"Aber sich an der Vergangenheit festklammern macht nur, wer von der Zukunft nichts mehr erwartet," fuhr er fort.

"Wir können doch viel aus der Vergangenheit lernen, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen," warf Draves ein.

"Ich stimme ihnen zu, nur manchmal verwischt die Grenze zwischen der konstruktiven Auseinandersetzung und hemmungslosem Selbstmitleides nur allzu leicht."

"Entschuldigen sie die direkte Frage. Sprechen sie aus eigener Erfahrung im Privatleben?" Draves war selbst für einen Moment überrascht und hätte seine Frage gern zurückgenommen. Dafür war es nun zu spät und er glaubte, seinen Platz auf der Couch damit verspielt zu haben. Zumindest wäre es bei früheren Gesprächen so gewesen. Aber an diesem Abend war wirklich einiges anders.

"Nun, gewissermaßen trifft das zu." Der Mann im Ohrensessel holte tief Luft. "Die ersten beiden Jahre nach dem...Unfall, durch den ich meine Frau und meinen Sohn verlor. Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Mein Sohn hatte geheiratet, fünf Wochen vor dem tragischen Ereignis. Ich wollte damals unbedingt, dass er uns zu der Feier anlässlich unseres Durchbruchs bei einem unserer Experimente begleitete. Meine Schwiegertochter konnte an diesem Abend nicht dabei sein. Sie lag wegen der Schwangerschaft im Krankenhaus, nichts ernstes." Garlan hielt inne und genehmigte sich einen größeren Schluck aus seinem Glas. Er sprach leise und die Anspannung in seiner Stimme übertrug sich auf seinen Zuhörer.

"Meinen Enkel habe ich in den ganzen Jahren nur ein mal gesehen. Seine Mutter konnte mir das Geschehene nicht verzeihen."

Draves schluckte, doch der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte seinen Platz so leicht nicht hergeben. Der alte Mann ersparte ihnen beiden eine längere peinliche Pause im Gespräch und nahm Draves die Verantwortung ab, nach einem geeigneten Übergang in ihrer Unterhaltung zu suchen. Mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber sprach er: " Näher möchte ich aber darauf nicht eingehen."

Draves nickte verstehend und dankbar zugleich. Jetzt griffen beide zu ihren Gläsern und spülten das Unangenehme hinunter.

Nach einer weiteren kleinen Pause ergriff der Reporter wieder die Initiative. "Haben sie in den Jahren nach ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit weiter an bestimmten Projekten gearbeitet?" "Lassen sie es mich so ausdrücken: ich mag nicht untätig gewesen sein." Und in einem beiläufigen Tonfall: "Arbeit ist immer noch die beste Ablenkungsmethode." Garlan rückte in seinem Sessel und schlug die Beine übereinander.

"In unserer heutigen Zeit ist Forschung und Entwicklung ein sehr komplexer Prozess, also kein Ein-Mann-Job mehr. Es sind die allgemeinen Dinge im täglichen Leben, die mit Idee, Phantasie und Einfallsreichtum von Einzelnen verbessert werden. Alles wächst zusammen, überschneidet sich und greift ineinander, so dass ohne ein Team von Wissenschaftlern selten die Probleme der modernen Forschung gelöst werden können. Hinzu kommt die benötigte Technik. Was ich sagen möchte ist, dass sich meine Arbeit fast ausschließlich mit Gedankenexperimenten beschäftigte. Verschiedentlich konsultieren mich auch noch meine ehemaligen Kollegen von der Universität." Mit einem Lächeln fügte er hinzu: "Das zeigt mir, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre."

Draves schmunzelte ebenfalls. "Würden sie mir mehr über diese Experimente mitteilen?", fragte er.

"Nicht unbedingt," entgegnete Garlan. "Zumal wäre damit einige Zeit verbunden, die eindeutig den uns zur Verfügung stehenden Rahmen sprengt. Außerdem sind sie nicht ausgereift. Später vielleicht werde ich sie veröffentlichen. Doch momentan ist nicht der richtige Zeitpunkt."

Draves legte den Kopf etwas schief und blinzelte. "Darüber werden meine Leser nicht gerade sehr erfreut sein, aber ich respektiere ihre Meinung. Ich möchte ihnen nicht zu nahe treten, dennoch formuliere ich meine Frage von vorhin noch einmal anders. Gibt es Augenblicke oder Entscheidungen in ihrem Leben, die sie aus heutiger Sicht ändern würden?"

Jetzt war es Garlan, der den Kopf zur Seite neigte und seine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln verzog.

"Lassen sie mich eine Gegenfrage formulieren. Konnten sie ihr Leben so gestalten, dass sie im nachhinein keine Zweifel über Entscheidungen hegten, oder die Art und Weise wie sie in gewissen Situationen handelten? Ich bin mir sicher, sie müssten sich zum Lügner degradieren, wollten sie dies bejahen." Er schaute Draves fest an, schien aber keine Antwort zu erwarten und fuhr fort. "Wenn es nicht die Gesellschaft ist, die über uns richtet, dann übernimmt es die Zeit. Und sie ist gnadenloser in ihrer Eigenschaft des Richters, als uns letztlich lieb ist."

Garlan unterbrach sich, um an seiner Pfeife zu ziehen. Der Reporter rutschte auf seiner Couch etwas nach vorn und legte die Unterarme auf seine Knie.

"Und dann benutzen unsere Gedanken den Konjunktiv. Das ist ja so einfach, und... und... so schmerzlich in vieler Hinsicht. Was wäre wenn, hätte, könnte, wollte..." Draves sagte dies mit einem Blick der andeutete, dass er für einen Augenblick die Bibliothek verlassen hatte, sich irgendwo und vor allem irgendwann in seiner Vergangenheit befand, die dem momentanen Gesprächsinhalt auf dem Punkt entsprach.

Der Gastgeber nutzte den Augenblick und stand auf, um einen frischen Holzscheit rechts neben dem Kamin aus der schmiedeeisernen Halterung zu nehmen und ins Feuer zu legen. Die Flammen leckten gierig darüber und leises Knistern erfüllte erneut den Raum. Wenig später zog ein feiner Duft von Kiefernholz um die Nase von Jonathan Draves.

"Nun, ich merke, sie haben mich ganz gut verstanden. Die Summe aus unseren begangenen Fehlern und natürlich dem, was wir richtig machten, definiert unsere Erfahrung. Sind sie gläubig, gehen sie zur Kirche?" Wie beiläufig fügte Garlan diese Frage hinzu. Draves hob verdutzt den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was der alte Mann mit dieser Frage bezweckte. Doch er wollte ihn in dieser Phase des Gespräches nicht vor den Kopf stoßen, womöglich erfuhr er noch mehr über sein Gegenüber, wenn er sich selbst etwas öffnete.

"Nein," sagte er. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, unterbrach ihn Garlan.

"Ist es aber nicht so, dass sie schon öfters beteten? Sei es in gefährlichen Situationen oder in Erwartung eines bestimmten Ereignisses?" Diesmal runzelte Draves die Stirn, aber nicht abweisend, sondern eher nachdenklich. Nur der anscheinende Rollentausch, dass er nicht mehr der Fragesteller war, ließ seinen Nacken sachte kribbeln.

"Sie mögen durchaus richtig liegen," antwortete er. "Aber, bitte entschuldigen sie, ich verstehe nicht ganz den Zusammenhang."

"Was ich sagen möchte ist: selbst der eingefleischteste Atheist erwischt sich früher oder später einmal beim Beten zu einer höheren Macht. Genau so verhält es sich auch mit unserem Wunsch, die Vergangenheit ändern zu können, aber eben nur die Stellen, die nach unserem Ermessen schief gelaufen sind, oder falsche Entscheidungen beinhalten."

Draves griff wieder zu seinem Scotch und nahm den letzten Schluck. Die Unterhaltung hatte eine Wende genommen, auf die er mitnichten vorbereitet war.

Lächelnd deutete Garlan mit dem Mundstück der Pfeife auf das leere Glas. "Noch einen?"

Der Reporter nickte, worauf sein Gastgeber erneut aufstand, die beiden Gläser nahm und zum Servierwagen schritt, der rechts neben der Eingangstür stand. Auch Draves erhob sich, um seine Beine ein wenig zu lockern.

"Was bleibt ist, mit der Last unserer Erinnerungen zu leben, aus ihnen zu lernen," formulierte Draves vorsichtig. "Hoffnung auf die Zukunft zu setzen."

"Eigentlich Hoffnung in unsere künftigen Entscheidungen zu setzen," präzisierte Garlan, der gerade aus einer Karaffe die beiden Gläser füllte. Anschließend reichte er eines davon in Draves Richtung, der es ihm mit einem Kopfnicken als Dank abnahm. "Ist schon in vieler Hinsicht seltsam eingerichtet, unser Leben. Und oft bedienen wir uns der Schublade Schicksal, um mit ihm fertig zu werden," sagte Draves und ging auf eines der hohen Regale zu, neigte den Kopf etwas, um die Titel auf einigen der zahllosen Buchrücken zu lesen.

Inzwischen hatte es sich Garlan wieder in seinem Ohrensessel bequem gemacht und sein Glas, es schien etwas voller als das seines Gastes zu sein, auf den Tisch gestellt. Danach beschäftigte er sich mit seiner Pfeife; der Tabak war alle und mit einem kurzen Schulterzucken legte er sie in dem Halter neben seinem Glas ab.

"Von Schicksal halte ich wenig," sprach er in Draves Richtung, der sich daraufhin wieder ihm zuwandte. "Wir bestimmen den Lauf unseres Lebens, gemeinsam mit den Fakten unseres Umfeldes. Um mit meiner Unzufriedenheit fertig zu werden, gefällt mir ein anderer Gedanke wesentlich besser."

Der Reporter kam mit dem Glas in der Hand zum Tisch. "Und der wäre?" fragte er über dem Hinsetzen.

"Die Natur neigt bei allen Fehlern zum Perfektionismus. In Tier- und Pflanzenwelt spielt sie, wir nennen es Evolution, die verschiedensten Varianten durch. Manche erweisen sich als Eintagsfliege, andere bringen bessere, lebensfähigere Organismen hervor. Ist die Vorstellung absurd, dass dies nicht nur auf unsere Dimension beschränkt ist?" Er machte eine Pause und sah dem Reporter fragend ins Gesicht.

"Ich verstehe nicht, was sie damit andeuten wollen."

"Nun, wäre es nicht möglich, dass sich unsere Dimension, unser Raum-Zeit-Gefüge sekündlich, oder besser gesagt mit jeder möglichen Entscheidung die wir treffen gabelt? Das würde bedeuten, dass wir unendlich oft nebeneinander in verschiedenen Universen existieren, die ihren Ursprung in jeweils anderen Entscheidungen seitens von uns bzw. unserer Umgebung haben."

Stille im Raum. Zumindest hätte ein dritter Beobachter es so definiert. Draves dagegen nahm plötzlich das Knistern und Knacken des Holzfeuers wie kleine Explosionen im Inneren seiner Ohren wahr. Im Moment war er nicht in der Lage das Gehörte auf die Reihe zu kriegen, geschweige denn zu verarbeiten. Garlan ließ ihm Zeit.

"Sie spielen auf die Theorie der unendlichen Paralleluniversen an, richtig? Vor längerer Zeit habe ich darüber etwas gelesen. Geniale Hirngespinste. Einfach unvorstellbar." Draves schaute an dem Sessel seines Gastgebers vorbei zu den Fenstern, welche die Nacht und den Wind, der draußen ging von ihnen fern hielten.

"Mag sein. Der Gedanke, dass es mir wo anders besser gehen kann, und natürlich genau so oft auch schlechter, hat etwas Beruhigendes. Es lässt mich darauf besinnen, was in meinem Jetzt und Hier in Ordnung ist."

"Das Kind hat nur einen anderen Namen als Schicksal. Es bleibt ebenso eine Flucht für den Geist," murmelte Draves.

"Ja. Sie basiert aber auf wissenschaftlichen Überlegungen und nicht auf dem Glauben an eine imaginäre Macht." Garlan sagte dies mit nicht zu überhörenden Nachdruck, so dass Draves ins Grübeln kam. Beide griffen gleichzeitig zu ihren Gläsern. Plötzlich überkam Draves eine Eingebung. "Das ist es, woran sie arbeiten. Habe ich recht?"

Der alte Mann stellte das Glas etwas härter als gewollt auf dem Tisch ab. Er lehnte sich zurück und rutschte im Sessel kurz hin und her. Draves schien es, als hätte er ins Schwarze getroffen.

"Oh nein," entgegnete Garlan mit dem Versuch eines Lächelns. Für den Reporter hörte es sich nicht sehr überzeugend an. "Für ein Gedankenexperiment ist es nicht schlecht, mehr aber auch nicht."

"Na dann lassen sie uns doch ein wenig experimentieren," warf Draves ein. Er wollte nicht zulassen, dass Garlan das Thema wechselte. "Bestünde denn die wissenschaftliche Möglichkeit, Türen oder Korridore in diese parallelen Welten zu öffnen?"

Der alte Mann ging darauf ein.

"Rein vom physikalischen Standpunkt und einer Portion gesunden Menschenverstandes ausgehend ist dies wahrscheinlicher, als Reisen durch die Zeit zu ermöglichen."

"Wie darf ich das verstehen?" hakte der Reporter nach.

"Nun, Zeitreisen durchzuführen schließt die Möglichkeit ein, Dinge in Vergangenheit und Zukunft, soweit es in beide Richtungen funktioniert, ändern zu können. Die Folgen würden katastrophal für die gesamte Zeitlinie sein, so verlockend der Gedanke auch ist."

"Und wenn uns straffe Sicherheitsbestimmungen auf außenstehende Beobachter beschränken?"

"Angenommen, sie reisen Jahrmillionen zurück, um sich die faszinierende Welt der Urzeit anzuschauen. Bei ihrem ersten Schritt zertreten sie ein winziges Tierchen, ausgerechnet jenes Experiment der Natur, welches später die Vögel hervorbringen sollte. Ihre Welt würde nie mehr so existieren, wie sie sie verlassen haben. Ganz zu schweigen von den Prozessen die sie auslösen, wenn sie sich in einer anderen Zeit materialisieren."

"Woh, woh , woh.... langsam," sagte Draves mit einem Lächeln und hob beschwichtigend die Hände. "In unseren angenommenen Parallelwelten würden wir auch durch unsere Anwesenheit Veränderungen bewirken."

"Das stimmt schon. Nur würden wir da in den aktuellen Entscheidungsprozeß der jeweiligen Welt eingreifen, und nicht in einen schon Vergangenen. Unser Korridor würde die Parallelwelten rechtwinklig zu deren Zeitlinie schneiden. Die Weiterentwicklung der Welten würde dadurch zwar beeinflusst, da wir aber davon ausgehen, dass sich die Zukunft in jedem Kontinuum erst aufbaut, greifen wir nicht in ein schon bestehendes System ein. Ich weiß nicht, wie ich es besser verdeutlichen kann. Die Zukunft ist ungeschrieben. Jetzt und hier lege ich fest, wie sie für mich verläuft. Mir steht es frei mich weiter mit ihnen zu unterhalten, oder ich stehe auf und gebe ihnen eine saftige Ohrfeige. Zwei Möglichkeiten, die eine völlig andere Zukunft beinhalten. In einem anderen Kontinuum findet vielleicht gerade jetzt die zweite Variante statt."

"Das bedeutet, dass in jedem Moment ein neues Kontinuum entsteht? Wie bei einer unkontrollierten Kettenreaktion? Unvorstellbar!" Draves schüttelte fasziniert den Kopf.

"Das ist Einsteins Aussage, der Weltraum sei unendlich aber begrenzt, auch."

"Ich begreife nicht, nach welchen Gesetzen dies alles funktionieren soll. Was sorgt dafür, dass wir uns stets nur einer Realität, wenn ich es so ausdrücken darf, bewusst sind?"

"Genau das ist der Knackpunkt. Ein Verstehen dieser Gesetze, immer vorausgesetzt, es sind keine Hirngespinste, würde es eventuell ermöglichen, einen der besagten Korridore zu öffnen."

Draves hob beide Hände und massierte mit Zeige- und Mittelfinger seine Schläfen. Garlan machte sich inzwischen an seiner Pfeife zu schaffen. Dann stand er auf und holte vom Kaminsims ein kleines Päckchen Tabak, um sie aufs Neue zu stopfen.

"Nur so ein Gedanke: wer sagt uns, dass Menschen, die unter einer gespaltenen Persönlichkeit leiden, nicht durch solche Parallelwelten beeinflusst werden? Dass sie fähig sind, eine Verbindung aufzubauen, aber nicht in der Lage, das Phänomen zu verarbeiten?" Garlan sagte dies, während er die Pfeife entzündete.

"Sie verstehen es ausgezeichnet, mich an die Grenzen meines Intellekts zu führen." Draves schmunzelte bei seinen Worten. "Aber lassen sie sich bitte nicht aufhalten." Er leerte seinen Scotch in einem Zug.

"Darf ich ihnen noch einen anbieten?" fragte Garlan grinsend.

"In Anbetracht der Schwere unserer Unterhaltung würde ich jetzt wieder ein Sodawasser vorziehen, danke."

Der alte Mann erfüllte ihm den Wunsch, während er mit seiner Pfeife erneut kleine Rauchkringel erzeugte.

"Vergessen sie meine letzte Bemerkung. Sie entbehrt sowieso jeglicher Grundlage," sagte Garlan, als sie sich am Tisch wieder gegenüber saßen. In Draves neuem Glas schwamm neben zwei Eiswürfeln noch eine Scheibe Zitrone. Sehr aufmerksam, dachte er.

"Resümee," begann Draves. "Es existieren unendlich viele Welten nebeneinander in denen wir unendlich oft sämtliche Nuancen durchspielen, die uns das Leben bietet, sind uns aber jeweils nur einer Realität bewusst."

"Auf einen einfachen Nenner gebracht könnte man die Theorie so formulieren," bestätigte Garlan.

"Gesetzt den Fall, unsere angesprochenen Korridore sind vorhanden und wir können sie öffnen, was würde es bringen?"

Der alte Mann überlegte, aber er suchte mehr nach einer Formulierung, als einer Erklärung. In Draves wuchs immer mehr der Verdacht, dass Garlan eine wissenschaftliche Abhandlung über dieses Thema schreiben könnte - eventuell sogar mit nachweisbaren Ergebnissen.

"Wir könnten sehen, wie unsere, uns momentan bewusste Zukunft aussehen könnte, wenn wir uns in bestimmten Situationen unserer Vergangenheit anders entschieden hätten," formulierte er.

"Also doch in gewisser Weise eine Zeitreise," fiel Draves ein.

"Mehr eine Ereignisreise. Wir würden ja nicht parallel zur Zeitlinie reisen, sondern in einer Senkrechten die Zeitebene aller Welten schneiden."

Der Reporter resignierte auf seiner Couch und blies hörbar die Luft aus dem Mund.

"Einziges Manko wäre, dass sich nicht feststellen ließe, auf welches Ereignis oder welche Entscheidung es zurückzuführen ist, dass sich die dortige Realität eben so entwickelt hat."

"Wir wären also nur in der Lage nachzuschauen wie es uns dort geht, aber nicht warum." Draves war sehr bemüht, seinem Gegenüber merken zu lassen, dass er den Gedankengängen noch folgen konnte.

"Das trifft den Kern der Sache. Unendlich viele Welten würden sich auf den ersten Blick ähneln wie ein Ei dem anderen. In der gleichen Anzahl wird es uns deutlich besser bzw. schlechter gehen. Und eben so oft werden wir nicht mal mehr existieren, weil die Ereignisse in der Vergangenheit schon unseren Tod forderten." Diesmal war es Garlan, der während seiner Worte nicht mehr anwesend schien. Draves glaubte zu erahnen, wo er sich in Gedanken befand.

"Wäre es denn nicht möglich, gezielt eine der Parallelwelten auszusuchen?"

Garlan fixierte ihn mit den Augen und antwortete schnell. Für Draves Empfinden zu schnell. "Nein! Da bin ich mir ziemlich sicher." Irgend etwas verbarg der Wissenschaftler vor ihm, dessen war sich der Reporter mittlerweile bewusst.

"Kaum vorstellbar, wenn es der Menschheit gelänge, solche Reisen zu ermöglichen," sinnierte Draves.

"Ich hoffe, das wird nie geschehen," murmelte der Gastgeber. "Schauen sie sich doch die menschliche Natur an. Das Wenigste was wir tun geschieht aus Uneigennützigkeit. Wir sind uns selbst am Nächsten. Und die paar Ausnahmen gehen im brodelnden Suppentopf unserer Geschichte unter."

"Aber genau die bilden das Salz in der Suppe, um bei ihrem Vergleich zu bleiben," warf Draves ein.

"Mag sein. Trotz allem würde mit so einer Erfindung nur Schindluder getrieben."

"Wie meinen sie das?"

"Sie sind nicht zufällig naiv?" fragte Garlan und zog die Mundwinkel nach unten. Jetzt fehlte nur noch ein Kopfschütteln und das Bild eines Lehrers, der auf einen Jungen mit lebhaften Tagträumen herabsah, wäre perfekt gewesen. "Finden sie die Möglichkeit, ihre jetzige Realität mit einer besseren tauschen zu können nicht sehr verlockend?"

"Ja, da muss ich ihnen zweifelsohne Recht geben," lenkte Draves ein.

"Sehen sie? Wir würden unser bisheriges Leben nicht an dem messen, was eigentlich gut gelaufen und richtig gemacht wurde. Nein, wir würden uns nicht zufrieden geben und uns auf die Welten stürzen, die auch nur im entferntesten den Eindruck erwecken, dass es dort besser ist! Bis unsere dunkle Seite auf die Idee kommt, eine dieser Realitäten einfach zu übernehmen, ohne Rücksicht auf unser anderes, eigenständiges Ich, welches dort existiert."

"Wow! Sie gehen hart mit den Menschen ins Gericht."

"Ja. Dabei brauche ich nur unsere Geschichte als Referenz nehmen... und in mich selbst hinein lauschen."

In die entstehende Ruhe hinein schickte Draves seinen Hammer: "Auch wenn ich mir sicher bin. Sie würden mir nicht bestätigen, dass sie am Gegenstand unserer Unterhaltung arbeiten. ... Und schon Durchbrüche erzielten?" fügte er hinzu.

Garlan antwortete nicht. Statt dessen wechselte die Pfeife im Mund ihren Platz mit dem Rand des Scotchglases. Im Zwielicht des Raumes konnte Draves die Mine seines Gastgebers nicht deuten. Das Holz im Kamin erzeugte keine größeren Flammen mehr, nur die Glut spendete spärliches Licht.

"Betrachten sie mich nicht als unhöflich," begann der alte Mann bedächtig. "Mehr möchte ich aber dem ohnehin schon Gesagten nicht hinzufügen. Nehmen sie den letzten Teil unseres Gesprächs als nettes Plauderstündchen mit Beilagen, über die es sich ab und zu lohnt nachzudenken oder zu philosophieren." Sein Blick glitt zur Uhr an seinem linken Handgelenk. Ohne den Eindruck zu erwecken, seinen Gast nun los werden zu wollen sprach er weiter: " Wenn uns keine lebenswichtigen Entscheidungen dazwischen kommen, werden wir uns bestimmt wiedersehen. Sie haben heute Nachmittag schon mehr über mich erfahren, als ich je einem Menschen ihres Berufes erzählt habe. Das muss fürs Erste reichen." Mit einem Lächeln: "Außerdem hat mich ihr Besuch sehr gefreut. Sie sind ein guter Zuhörer....und verstehen es, Fragen zu stellen."

"Oh, danke für das Kompliment. Eines noch. Sollten sie jemals erwägen, mehr vom letzten Teil unserer Unterhaltung der Öffentlichkeit preis geben zu wollen....."

"...dann werde ich selbstverständlich sie anrufen," übernahm Garlan das Ende des Satzes.

Die Beiden hatten sich erhoben und während Draves seinen Minirecorder verstaute, betätigte Garlan den Dimmerschalter neben der Tür. Der Kronleuchter, einer wie ihn Draves sonst nur in Museen bewundern konnte, erstrahlte in einem seidigen Licht. Es brach sich wie es schien in Tausenden von Kristallen und erleuchtete die Bibliothek auf ganz besondere Weise. Der Reporter stand an dem Tisch und ließ noch einmal die Atmosphäre dieses Raumes auf sich wirken. Dann drehte er sich um und folgte Garlan, der schon auf dem Läufer in der Empfangshalle stand, der zur Eingangstür führte. Die antike Standuhr linker Hand zeigte, dass es schon zweiundzwanzig Uhr dreißig war. Die Zeit in diesem Anwesen schien wie im Fluge zu vergehen.

Draves schritt durch die Halle zur Garderobe, um sich seinen Mantel und Hut zu nehmen. Das gleichmäßige, auf seine weise unnahbare Ticken der großen Uhr war das einzige Geräusch, welches ihn dabei begleitete. Ohne eine bestimmte Absicht zu verfolgen fragte er: "Ihre Haushälterin ist wohl schon zu Bett?"

"Nein. Sie fuhr schon vor drei Stunden zu ihrer Schwester. Freies Wochenende. Diese Nacht muss ich allein verbringen."

Draves Gedanken kreisten fest um den Inhalt der langen Unterhaltung in den letzten Stunden, andernfalls wäre ihm sofort etwas am Unterton in Garlans Stimme aufgefallen.

Ohne weitere Worte, aber mit beiderseitigem Lächeln und einem festen Händedruck verabschiedeten sich die Männer. Im Licht der offen Eingangstür konnte der Reporte mühelos seinen Wagen erreichen. Er startete ihn, schaltete das Licht ein und folgte dem Kiesweg um die weite Beetrabatte mit Springbrunnen auf den Hauptweg. Das Tor des Anwesens stand offen. Es schloss sich automatisch, nachdem Draves auf die Strasse in Richtung Stadt abgebogen war.

Garlan stand noch immer in der offenen Eingangstür. Er verfolgte die Rücklichter des Autos, bis sie von den Bäumen am Hauptweg verdeckt wurden. Sein Blick wanderte von der Schwärze des Parks hoch zu den Sternen. Es war eine wunderbare klare Nacht und die Lage seines Anwesens erlaubte einen ungetrübten Blick in den Himmel. Wieder gingen seine Gedanken in der Zeit zurück. Viele Male saß er mit seiner Frau im Garten und sie genossen gemeinsam diese überwältigende Aussicht. Schweigend, eng aneinander gekuschelt, waren sie sich in diesen Momenten näher, als Worte es auszudrücken vermochten. Oder damals, sie wohnten noch in dem kleinen Haus seiner Mutter, hatte er oft seinen Sohn auf dem Schoß, zeigte und erklärte ihm die Sternbilder und erzählte Geschichten dazu.

Garlan faltete die Hände und legte sie so ans Gesicht, dass er sein Kinn auf die abgespreizten Daumen stützen konnte. Wieder sammelten sich Tränen in seinen Augen. Mit einem hörbaren Seufzer machte er kehrt und ging ins Haus zurück.

Sein Weg führte ihn in einen kleinen Raum neben der Bibliothek. Hier bewahrte er die wichtigen Momente seines Lebens auf, sei es als ordentlich gerahmte Schnappschüsse, dicken Sammlungen von Zeitungsausschnitten oder säuberlich archivierten Videobändern. Liebevoll berührte er einige der Bilder mit seiner Familie aus glücklichen Tagen. Er setzte sich, nahm eine Zigarre aus einer alten Holzkiste und ließ seinen Gedanken und Gefühlen freien lauf.

o

Draves fiel kurz vor Mitternacht erschöpft in seinem Hotelzimmer in der Stadt aufs Bett. Aber an Einschlafen war zumindest sofort noch nicht zu denken. Seine Gedanken waren zu beschäftigt, um dem Körper seine verdiente Ruhe zu gönnen. Ein weiterer Scotch und eine Zigarette schienen aber Abhilfe zu schaffen. Den Radiowecker stellte er auf kurz vor sieben. Die Tatsache, dass es sich bei dem morgigen Tag um einen Sonnabend handelte, änderte nichts daran, dass es ein arbeitsreicher Tag werden würde. Sein Redakteur verlangte einen Vorabbericht und am Montag musste das Interviewe gedruckt sein...

Die Stimme des Nachrichtensprechers erreichte Draves Ohren wie durch dichten Nebel.

"...konnte das Mädchen ohne nennenswerte Verletzungen geborgen werden. Ein weiteres tragisches Ereignis ließ in der vergangen Nacht Feuerwehr und Polizei keine Atempause. Wie die offiziellen Stellen verlauten ließen, ist gegen Mitternacht im Anwesen von John Garlan ein verheerendes Feuer ausgebrochen. Selbst die größten Anstrengungen der Rettungskräfte konnten nicht verhindern, dass das Haus völlig ausbrannte. Als Ursache für die Katastrophe wird Gas vermutet. Bis jetzt ist ungeklärt, ob sich John Garlan oder weitere Personen zur Zeit des Unglücks im Haus aufhielten..."

Draves stand im Bett. Trotz aufgerissener Augen nahm er seine Umgebung nur verschwommen wahr. Bruchstückhaft hämmerten Fetzen der Nachrichten in seinem Kopf: ...Katastrophe...Garlan... Anwesen niedergebrannt...

"Das kann nicht sein," stöhnte der Reporter. Der Schlaf lockerte seinen Griff und ließ ihn spontan handeln. Er stürzte sich in seine Klamotten, schnappte sich die Wagenschlüssel und rannte aus dem Hotel. Mit quietschenden Reifen fuhr er seinen nächtlichen Weg zurück, das Radio eingeschaltet mit der schalen Hoffnung, im Halbschlaf die Nachrichten nicht richtig zugeordnet zu haben. Doch der halb-acht-Bericht ließ das Fundament seines Wunschdenkens zusammenbrechen. Seine Gedanken überschlugen sich, aber er bekam nichts auf die Reihe. Bis plötzlich seine innere Sirene losheulte. ...Diese Nacht muss ich allein verbringen...

"Ich bin doch so bescheuert," sagte er und umkrampfte das Lenkrad noch fester. Die Farbe wich aus seinem Gesicht.

Vor der Zufahrt zu Garlans Haus herrschte reger Betrieb. Draves steuerte sein Auto an den Straßenrand und wollte gerade aussteigen, als ein Polizist auf ihn zu kam. Er ruderte mit seinem linken Arm mehrmals an seinem Körper vorbei.

"Sie können hier nicht stehen bleiben. Ich fordere sie höflich auf, weiter zu fahren. Es gibt nichts zu sehen."

Draves kramte in der Brusttasche seines Hemdes. "Ich bin Reporter," sagte er und hielt dem Polizisten seinen Presseausweis unter die Nase.

"Noch mehr Typen wie sie können wir hier wahrlich nicht gebrauchen."

Draves packte sein Gegenüber an den Schultern und schrie ihm fast ins Gesicht: "Ich bin Reporter und ich war gestern Abend bei John Garlan eingeladen! Ich verließ ihn erst gegen 22 Uhr 30. Sagen sie mir was mit ihm ist!"

Der Uniformierte, sichtlich ungehalten ob der kleinen körperlichen Attacke, schob den aufgeregten Mann von sich. "Steigen sie wieder in... Was haben sie gesagt?"

"Ich war gestern Abend noch bei Garlan!"

Jetzt war es der Polizist, der seine Hand an Draves linken Oberarm legte. "Sir, folgen sie mir. Es gibt ein paar Leute, die sich mit ihnen unterhalten möchten."

o

 

Nur schwer konnte Garlan sich aus seinen Erinnerungen losreißen, aber die Zigarre war geraucht, die Uhr zeigte 23 Uhr 30. Langsam erhob er sich und öffnete den kleinen Wandschrank unter den Familienfotos. Den Schuhkarton darin klemmte er sich unter den linken Arm, dann verließ das Zimmer in Richtung Küche. Auf der Anrichte entnahm er dem Karton eines von zwei selbstgebastelten Geräten und stellte es neben den Gasherd. Die Vorderseite des Gerätes ähnelte einer Zeitschaltuhr, deren Alarmfunktion er auf Mitternacht einstellte. Danach öffnete er sämtliche Ventile des Herdes.

Ohne Hast, aber festen Schrittes begab er sich in sein Arbeitszimmer im anderen Gebäudeflügel. Dort platzierte er die zweite Uhr neben dem gasbetriebenen Kamin und stellte die gleiche Zeit ein. Ein kurzer Griff in eine versteckte Nische neben dem Kamin öffnete die Gasleitung.

Wieder in der Halle atmete er laut durch und vergewisserte sich, dass noch siebzehn Minuten bis Mitternacht verblieben. Er lenkte seine Schritte zum Durchgang, der in das Kellergeschoss seines Hauses führte. Schon vor Jahren hatte er sich hier ein kleines, aber respektabel ausgestattetes Labor eingerichtet. Es befand sich im größten Kellerraum am Ende des schmalen Ganges.

Zwei Säulen, zu denen mehrere armdicke Kabel aus verschiedenen Computern und Pulten führten, standen mitten in diesem Raum.

Garlan betätigte mehrere Schalter und aus den Nebenräumen konnte man das Summen von Generatoren hören. Danach zog er sich aus und tauschte seine Kleidung gegen ein paar bereitliegende Sachen aus. Sie waren schmutzig und zerrissen, doch das schien ihn nicht zu stören. "Dann ist es jetzt wohl soweit," murmelte er. "Ich habe einen Versuch."

An den Steuerpulten, die sich an den Wänden des Labors befanden, nahm er letzte Einstellungen vor.

Die Säulen begannen zu vibrieren und ein kräftiger Bas ertönte im Labor. Energieentladungen blitzten zwischen den Säulen auf, wurden langsam stärker und tauchten den Raum stoßweise in blaues Licht. Der Boden bebte, als der Raum hinter den Säulen verschwand und einem schwach pulsierenden Nebel wich. Das Brummen wurde fast unerträglich. Die Uhr zeigte 23.56Uhr.

Garlan trat vor seine Erfindung und knetete die Hände.

Plötzlich wurde der Nebel durchsichtiger, ein Bild schien aus dem Hintergrund zu kommen, blieb aber verschwommen wie bei einer miserablen Aufzeichnung. Es sah aus wie die Landstraße, an der sein Haus lag. 23.59Uhr.

Mit zwei schnellen Schritten sprang Garlan in den Nebel zwischen den beiden Säulen, während das Haus über ihm von zwei Explosionen erschüttert wurde.

Die Krämpfe in seinen Muskeln ließen langsam nach, sein Blick war getrübt, nicht nur durch die vom Mond nur spärlich erhellte Nacht. Garlan rappelte sich auf, aber seine Gedanken konnte er nicht ordnen. Er humpelte ein paar Meter die Straße entlang, bis er an eine offene Grundstückszufahrt kam – seine Zufahrt. Ungläubig berührte er die rechte Steinsäule des Torbogens und schüttelte den Kopf.

Zum Haus... Ich muss zum Haus...sehen was damit ist..

Es waren die einzigen Gedanken, die er klar formulieren konnte.

Das Laufen tat gut und wurde immer besser, sein Kreislauf kam wieder in Schwung.

Der Hauptweg zog sich hin, zumindest zu Fuß. Die letzten Meter bis zur Biegung zum Springbrunnenrondell rannte er fast – dann blieb er wie angewurzelt stehen.

Das Haus stand da, so wie Garlan es kannte; na ja, vielleicht nicht ganz so...

In einigen Räumen der unteren Etage brannte Licht, vor dem Eingang parkten zwei Autos. Schritt für Schritt ging Garlan auf die Tür zu, seine Hand zitterte, als er nach dem Drücker griff.

Es war offen, die Eingangshalle hell erleuchtet, niemand zu sehen.

Aus der Bibliothek drangen leise Stimmen zu ihm. Jemand weinte und eine andere, männliche Stimme versuchte beruhigend zu reden.

"...Mutter. Sein Unfall ist erst 20 Stunden her. Und eine..., er wurde noch nicht gefunden. Es besteht immer noch Hoffnung."

"Ich will und kann auch nicht glauben, dass er nicht wieder kommt," entgegnete die schluchzende Stimme.

Garlan öffnete die Tür.

Die weinende Frau – seine Frau, saß in dem Ohrensessel. Bei seinem Anblick verstummte sie, öffnete den Mund, aber nichts kam über ihre Lippen. Ihr noch immer hübsches Gesicht wurde abwechselnd blass und rosa.

"Vater," rief der Mann an der Seite des Sessels, wo er eine Hand der Frau in den seinen hielt. Die beiden schnellten gleichzeitig hoch.

"John, John...," wiederholte die Frau stammelnd, während sie aufeinander zu liefen.

"Evelyn, ich..."

Sie vielen sich in die Arme und wären um ein Haar gestürzt.

"Du lebst, was ist denn nur geschehen? Bist du verletzt? Ich... ich liebe dich."

John Garlan drückte seine Frau und seinen Sohn fest an sich. Der Schmerz eines ganzen Lebens schien sich in diesem Moment zu lösen.

"Es geht mir gut, ich bin froh, euch wieder zu haben."

Und zu seinem Sohn gewandt: "Wo ist Josephine?"

"Sie ist oben bei den Kindern."

"Den Kindern?" fragte Garlan und begann unter seinen Tränen zu lachen.

 

 

ENDE

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