In der Geisterbahn
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Als ich neulich mit ein paar Bekannten einen Jahrmarkt in der Stadt auf der Suche nach etwas Amüsantem durchkämmte, entdeckten wir eine Geisterbahn. Ein aus-geschriebenes Schild verkündete, dass Geister zum Mitreisen gesucht würden. Trotz Bedenken der anderen bekam ich Lust, und da ich gerade ein paar Wochen frei verfügbar und örtlich nicht gebunden war, stellte ich mich vor und wurde sofort eingestellt.
Man führte mich hinter die Kulissen, während meine Bekannten sich kopfschüttelnd und deutlich amüsiert verzogen. Ein Wisch wurde mir vor die Nase gehalten, den ich zu unterschreiben hatte, während man mir die Wahl ließ zwischen drei Kostümen. Das erste Teil wirkte flauschig und zerfressen, es sollte wohl so etwas wie einen übermäßig stark behaarten Gorilla darstellen, King Kong oder dergleichen. Die Maskenbildnerin stand parat, falls ich in Erwägung ziehen sollte, das zweite Kostüm zu wählen – ein schlichtes Bettlaken mit Augenschlitzen. Ich entschied mich für das dritte Kleidungsstück. Mein Kostüm bestand aus einem dunklen Mantel mit Kapuze. Meine ohnehin dunklen und bedrohlich wirkenden Augen wurden noch fieser durch die Schminke entstellt. Mir hatte es schon auf der Schulbühne Spaß gemacht, den Bösewicht zu spielen und die Leute zu erschrecken.
Ich solle doch gleich mal richtig einsteigen, wie mir die Bosse anboten. Eigentlich war nichts anderes zu tun, als vorzuspringen und die Ärmel in der Luft herumschlottern zu lassen, sobald ein Gefährt mit Kunden sich ächzend durch die Schienen zu biegen wusste. So weit das Grundprogramm. An diesem Tag hielt ich es ein, danach begann ich zu improvisieren.
Mit einem gewissen Erfolg. Die Kleinen hatten ihren Thrill, und die ganz Kleinen weinten auch schon mal, und ich entdeckte auch Erwachsene, die dem Kind in sich freien Raum ließen. Meist überzeugend zwangen sie sich meist zu einem überlegenen Lächeln. Geisterbahn ist ein faszinierendes Marktelement und doch gleichzeitig auch eine Marktlücke, weil die Show meist nur billige Trash-Effekte bietet und die technischen und auch schauspielerischen Möglichkeiten nicht nutzt, die man heute kennt.
Immer weiter versuchte ich, meinen äußeren Eindruck zu verbessern und die Leute weniger zum Lachen als zum Weinen zu bringen. Den Bossen gefiel es (anfangs nicht so) sehr, und mündliche Propaganda tat das Ihrige, so dass wir mit unserer reisenden Geisterbahn bald die Attraktion der Jahrmärkte wurden.
Wir reisten durch die Städte, die Aufführungen erhielten immer stärkeren Zulauf, und ich ließ mich stöhnend neben die Wagen fallen. Oder ich tippte aus dunklen Ecken den Kunden auf die Schulter, was den besten Effekt hervorrief. So ganz okay fand ich es immer noch nicht, und ich begann, mir ernstere Späße auszudenken. Irgendwie entdeckte ich, dass es nicht viel Sinn macht, nach Methoden zu suchen, die Gäste zu erschrecken. Man musste vielmehr anfangen, sich selbst als Geist zu fühlen – wirklich so zu fühlen, dann erst würde es automatisch laufen. Die Atmosphäre selbst war ja großartig genug, was man daraus machte, war es eben. Vielleicht würde ich mit etwas Übung wirklich bald zum perfekten Geist werden.
Die Grundausstattung war kahl und düster zugleich. Die Schienen quietschten, und die Spinnweben schienen wirklich echt zu sein. Auch die Rüstungen, die sich bewegten, waren authentisch, sie stammten aus dem schönen Mittelalter, wie ich erfuhr. Da war auch eine riesenhafte fleischfressende Pflanze, die der Venusfliegenfalle verblüffend ähnlich war.
Manche der Angestellten hier schienen furchtbar alt zu sein. Den Spaß, den ich bei meinem neuen Job hatte, fühlte keiner, nicht einmal die Bonzen, die mit blassen Gesichtern ihre Tageseinnahmen zählten. So siechten die Tage dahin, und besonders aufregend war es eigentlich nicht mehr, das alles zur Routine anwuchs – bis dann das passierte, das alles so sehr veränderte, dass ich es für beeindruckende Fantasie gehalten hätte, wäre es Fantasie geblieben.
Einmal wagte sich ein ziemlich ängstlich dreinschauender Bursche allein in die Geisterbahn. Eigenartigerweise bekam er einen einzelnen Wagen zugeteilt. Ich bezog Posten und sah ihn kommen. Die Leuchtraketen, die künstlichen Puppen beunruhigten ihn, aber sie erschreckten ihn nicht sonderlich. So sah es jedenfalls aus. Doch gleich darauf wirkte er, als wäre ihm mehr als nur ein bisschen schlecht. Blass sah er aus, aber halbwegs gefasst. Als er schon fast an mir vorüber war, legte ich ihm die Hand auf die Schulter, während ich auf ihn einflüsterte. Der Junge blickte in die Richtung, in der ich stand, hob die Augen und verjagte sich mit einiger Verspätung auf das Grässlichste.
Und in haargenau diesem Moment verbreitete sich endlose Dunkelheit, die Lichter fielen aus, und ich fühlte deutlich, dass der Junge tot war, als der Wagen weiter fuhr. Irgendwie glaubte ich zu spüren, dass er, wie ich selbst, ein schwaches Herz hatte und vielleicht trotz elterlicher Anweisungen den Jahrmarkt betreten hatte und nun buchstäblich vor Schreck gestorben war.
Ich weiß nicht, ob es stimmte, es war eben eine Art Vision. Aber ich weiß, was ich trotz der Dunkelheit gesehen habe. Und während ich das alles zu verarbeiten versuchte und überlegte, ob ich Hilfe suchen sollte, während der Wagen mit dem toten Jungen vor die im fernen Draußen wartende Kundschaft hinfuhr und während schon das nächste Gefährt mit kreischenden Kindern angefahren kam, fühlte ich, dass mir jemand die Hand auf die Schulter legte und auf mich einflüsterte.