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Über die Umkehrung des Schmetterlings

© 2006 Patrick Henning ("Fresh")

Die Phase Schmetterling

Das Blitzlichtgewitter ist gen Sternenhimmel gerichtet.

Trotz der Tatsache, dass es mittlerweile Nacht ist, kann man nicht wirklich von Dunkelheit sprechen. Das riesige Objekt welches über der Silhouette der Stadt am Himmelszelt thront beleuchtet die unzähligen kleinen Menschenhaufen am Boden. Diese, als wollten sie es dem Objekt gleichtun, bilden mit den Blitzlichtern ihrer Kameras das Pendant.

Cristóbal, der sich selbst inmitten einer kleinen Ansammlung von Leuten befindet, blickt starr zu einem gigantischen, rot farbenen Mond empor.

"Was sagen die Medien?"

Christóbal sieht sich um. Ein kleiner Mann im Jogginganzug hat gesprochen und schaut sich nun fragend um.

Jemand aus der Menge antwortet: "Sie sagen es sei ein seltenes kosmischen Phänomen,

vergleichbar mit den Nordlichtern in Alaska. Durch irgendwelche Vorgänge in der Atmosphäre verändern sich scheinbar Größe und Farbe des Mondes. Und der Eindruck wird dann noch verstärkt durch die Häuser am Horizont, die die Verhältnismäßigkeit trügen."

Eine weitere Stimme meldet sich zu Wort: "Nee, nee. Mit Nordlichtern hat das nichts zu tun. Der Effekt kommt davon, wenn denn der Mond vollständig in Kernschatten der Erde eintritt. Und das von der Erdatmosphäre gestreute Licht macht dann, dass der Mond plötzlich rot ist. Das mit der Größe stimmt ungefähr. Das liegt daran, dass der Mond ziemlich knapp über dem Horizont steht. Dann haben wir so eine optische Täuschung. Liegt alles nur an unserer Wahrnehmung."

Während die erste Person wieder eine Bemerkung zurückgibt, wandert Christóbal langsam weiter. Wenig später sind die streitenden Stimmen kaum noch zu hören.

Christóbal durchquert eine kleine Allee von Bäumen, deren silberne Kronen kurz den Blick auf den Mond verdecken. Dann ist er wieder zu sehen: monumentaler als je zuvor. Der kleine Spanier genießt den Anblick und versucht dabei kühle Nachtluft in seine Lungen zu pressen. Aber die Luft ist plötzlich nicht mehr kühl. Sie ist warm. Fast heiß. Und sie scheint noch heißer zu werden. Erschreckt blickt er sich um. Am Horizont ist ein merkwürdiges Licht auszumachen. In dem einen Moment noch ein Stecknadelkopf, ist es im Nächsten schon fünfmal so groß. Etwas scheint sich schnell zu nähern. Sekunden später erkennt er das Licht als eine Feuerwand, die auf ihn und die gesamte restliche Welt zu gerast kommt. Christóbal gerät in Panik. Was tun? Wohin? Doch es ist zu spät. Schmerzen und Angst beherrschen seinen Körper und noch bevor irgendetwas tun kann, wird er von den Flammen verschlungen.. Er fühlt seinen Körper verbrennen. Nicht länger kann er die unglaubliche Hitze ertragen...

...umso erfrischender ist die kühle Gischt der See, die einen Moment später sein Gesicht benässt. Christóbal reckt seine große Adlernase dem leichten Sturm entgegen. Seine weißen Haare wehen im Wind. Mit festem Stand auf den Schiffsplanken starrt er mit zusammengekniffenen Augen auf das offene Meer hinaus. Bis zum Horizont sind nichts als riesige Wassermassen zu erkennen, die in weiter Ferne nur kurz durch ein braunes Etwas unterbrochen werden, welches scheinbar immer wieder kurz von den peitschenden Wellen verschluckt wird. Auch ohne es genau zu erkennen, weiß der Admiral, dass es sich um die Karavelle "Pinta" handelt.

Sie eilt als schnellstes Schiff voraus. Backbord, nicht ganz so weit entfernt, sind weitere Segel zu sehen. Sie gehören zur Karavelle "Niña".

Der hohe Seegang macht das Vorankommen der Schiffe schwierig. Seit sie am 6. September , nach Julianischem Kalender, den Hafen von La Gomera verlassen hatten gab es keinen vergleichbar starken Seegang.

Heute ist der 11. Oktober. Christóbal richtet seinen Blick zum Himmel, an dem einige Sturmvögel ihre Kreise ziehen und richtet ein kurzes Gebet zu Gott.

Aufruhr auf dem Deck.

"Don Colón!"

Chritóbal dreht sich langsam zu der Stimme um. "Was gibt es?"

Ein kleiner Matrose gestikuliert wild mit seinen Armen:"Das müßt Ihr Euch ansehen, Señor Colón!"

Ohne weiter darüber nachzudenken folgt der Admiral dem Matrosen über das Schiffsdeck der Karacke.

"Da! Im Wasser!"

An der Bordwand der "Santa Maria" streift langsam ein Stück Schilfsrohr entlang.

Christóbal kann seine Freude kaum verbergen. "Das ist Schilf!" Er reckt seine Hände dankend zum Himmel. "Großer Gott. Ich bin mir sicher: bald erreichen wir Festland."

Schon in den letzten Tagen war des öfteren im Wasser treibendes frisches Gras zu sehen gewesen. Dazu verschiedene Vögel die von Norden nach Südwesten zogen. Dieser Umstand hatte Chritóbal, oder Christoph Kolumbus wie der lateinischer Name des in Italien geborenen Spaniers lautet, letztendlich auch dazu veranlasst, den ursprünglich Westlichen Kurs zu ändern und West-Südwestlich einzuschlagen.

Das Schilf war wieder einmal ein untrügerisches Zeichen dafür, dass sie bald zumindest eine Insel erreichen mußten. Die Stimmung auf den drei Schiffen ist heute ausgesprochen gehoben und freudig. Alle Vorboten deuten daraufhin, dass Christóbal Recht behalten und bald Land in Sicht kommen mußte.

Die Nacht ist längst hereingebrochen und noch immer ist nichts zu sehen. Bald schreiben wir den 12. Oktober 1492.

Chritóbal schreitet das Deck des Hinterschiffes auf und ab und wirft immer wieder einen Blick hinaus zum Horizont. Als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hat heute noch etwas zu sehen, entdeckt er plötzlich ein Licht am Horizont.

Nein kein Licht. Er hat sich getäuscht. Oder doch?

Christóbal kneift die Augen zusammen und lässt seinen geschärften Blick noch einmal über das Meer wandern. Doch ein Licht! Es scheint zu schimmern. Aber soo undeutlich.

Der Admiral beschließt eine zweite Meinung einzuholen.

Die Meinung von Pietro Gutierrez’, Truchseß des Königs. Gemeinsam starren beide nun hinaus auf die offene See.

Kolumbus: "Was meint Ihr?"

Gutierrez schüttelt den Kopf. "Ich..." Plötzlich scheint er doch etwas wahrzunehmen. "Wartet. Ja! Jetzt sehe ich es auch. Ihr habt Recht! Dort ist Licht."

"Wenn Ihr mich fragt, sieht es aus wie eine kleine Wachskerze die man auf und ab bewegt."

Der Truchseß scheint jedoch skeptisch: "Dort mag ein Licht sein, Don Colón, aber wer sagt Euch, dass es Land bedeutet?"

"Vertraut mir! Ich bin mir sicher. Dort ist Land so Gott es will."

"Ihr seid Euch schon die ganze Reise sicher..."

"Und ich werde Recht behalten."

Gutierrez wirft Kolumbus einen ungläubigen Blick zu. "Vielleicht sollten wir unsere Beobachtung mit Segovia teilen?"

"Eine ausgezeichnete Idee!"

Wenig später hat sich die Nachricht ein Licht sei am Horizont, auf der ganzen Santa Maria verbreitet. Manche wollen es auch gesehen haben, andere wiederum bestreiten dessen Existenz. Nichts desto trotz hat sich eine Art Aufbruchstimmung breit gemacht. Auf dem Deck ist es trotz der späten Stunde sehr geschäftig aber ruhig. Die Mannschaft hat sich zusammengefunden gemeinsam das "Salve Regina" zu beten. Danach herrscht Stille und gebannte Erwartung auf der Karacke.

Christóbal hat seinen Männern den Hinweis gegeben das Meer im Auge zu behalten.

Er hatte versprochen, demjenigen der als Erster das besagte Land entdecken würde, sofort eine seidene Jacke zu schenken, zusätzlich zu dem Geld was das spanische Herrscherpaar auf die Sichtung ausgesetzt hatte.

Inmitten der Ruhe, die nun auf dem Schiff herrscht ertönt plötzlich das Krachen einer Bombarde.

Ein Schrei geht über das Deck: "Die Pinta hißt eine Flagge am Großmasttop!"

Die vereinbarten Signale!

Christóbal tanzt vor Freude. "Großer Gott. Die Pinta hat Land entdeckt! Sie hat Land entdeckt!"

Ein Grenzenloser Jubel verbreitet sich auf dem Deck. Land! Endlich!

Gegen 2 Uhr morgens ist es soweit. Ca. 8 Seemeilen entfernt ist nun das lang ersehnte Festland in Sichtweite gekommen.

Christóbal läuft geschäftig auf dem Deck umher und erteilt Befehle: "Holt die Segel ein! Ab sofort fahren wir nur noch mit einem Großsegel, ohne Nebensegel. Morgen früh, bei Tagesanbruch gehen wir an Land."

Seine Freude ist unendlich. Er hatte Recht! Aus Ungewißheit wird Gewißheit. Auch wenn es wie es scheint nur eine Insel ist, die dort am Horizont thront, Indien muss ganz nah sein. Er wird in die Geschichte eingehen, als der Mann, der den westlichen Seeweg nach Indien entdeckte. Und die Reichtümer!

Mitten in seinen grenzenlosen Jubel hinein verschwimmt plötzlich die Welt vor seinen Augen. Alles wird kurz schwarz und dann wieder farbig. Die Welt beginnt zu flackern. Erschrocken blickt er sich um. Wieder Dunkelheit. Dann ein helles Licht und alles ist rot: Das Meer, der Himmel, das Schiff. Er blickt hinab zu seinen Händen, auch sie sind rot. Rot. Woher kenne ich das? Alles ist so bekannt. Ein Déjà vu.

Bevor er auch nur seinen nächsten Gedanken formulieren kann, verliert alles an Form und Festigkeit.

Christóbal öffnet die Augen.

Nichts außer verschwommenen Weiß ist zu sehen. Nichts ist zu erkennen.

Christóbal will sich mit den Händen die Augen reiben, doch da sind keine Hände, mit denen er das machen könnte. Zumindest keine die er spürt oder sonst irgendwie wahrnehmen könnte. Und wo wir schon dabei sind: er spürt auch keine Beine, Füße, Arme, Oberkörper...

Das einzige was er spürt ist sein Kopf. Dieser macht sich mit ungeheuerlichen Schmerzen bemerkbar.

Christóbal versucht etwas zu sagen, aber es geht nicht. Es kommt nur unverständliches Gebrabbel heraus. Was ist los mit ihm? Warum kann er nicht einmal mehr sprechen?

Durch die halb blinden Augen sind plötzlich Schemen von Gestalten zu erkennen, die sich flink vor ihm bewegen. Er versucht erneut etwas zu sagen. Wieder scheitert der Versuch.

Doch die Gestalten scheinen ihn jetzt wenigstens bemerkt zu haben. Plötzlich beginnen sie zu reden. Miteinander oder mit ihm? Er weiß es nicht.

Die Sprache ist unverständlich. Er kann kein ihm bekanntes Wort erhaschen. Was sind das für Wesen? Christóbal bekommt panische Angst. Kann ihm denn niemand helfen? Was passiert mit ihm? An der warmen Nässe, die seinen Wangen hinab läuft, erkennt er, dass er zu weinen begonnen hat.

Er will seinen Kopf hin und her bewegen um überhaupt etwas zu tun. Unter Aufbietung seiner gesamten Kräfte gelingt es ihm. Er scheint in einem Kissen zu liegen. Doch selbst das ist wenig tröstlich. So groß ist die Verzweiflung, dass er nur noch sterben will. Halb blind und gelähmt in einer Welt zu liegen, die man weder wahrnehmen kann, noch mit der man auf irgendeine Art kommunizieren könnte. Welchen Sinn hat das?

Christóbal fragt sich ob er vielleicht tot ist? Sieht so der Tod aus? Sind das Engel, die um mich herum wandeln? Oder bin ich entführt worden? In eine andere Welt mit anderen Wesen? Mittlerweile schließt er nichts mehr aus.

Was ist seine letzte Erinnerung? Christóbal versucht sich zu konzentrieren. Aber es ist schwierig mit den merkwürdigen Stimmen der schemenhaften Gestalten um ihn herum.

Und die letzte Erinnerung liegt so weit weg. Was war es? Feuer! Er meint, dass es Feuer war, ist sich aber nicht sicher. Vielleicht liegt er schwer verletzt und mit Verbrennungswunden in einem Krankenhaus. Vielleicht mußten sie ihm etwas amputieren? Die Panik steigt. Aber was erklärt die komischen Schatten und deren unverständliche Sprache?

Die Kopfschmerzen werden wieder schlimmer. Christóbal wünscht sich er wäre tot. Bitte.

Doch sein Wunsch wird vorerst nicht erfüllt. Statt tot wird vorerst alles wieder rot.

Mehrere kleine Boote bewegen sich langsam auf die Insel zu.

An Bord des Führenden befinden sich neben Christóbal noch Vicente Yánez, der Kapitän der "Niña" und dessen Bruder Martin Alonso Pinzón, der Kapitän der "Pinta".

Als Sicherheit ist das Boot mit Waffen ausgestattet. Kolumbus kann nicht ausschließen, dass die Eingeborenen nicht vielleicht kriegerisch gesinnt sind. Darüber hinaus weiß er, dass es sich möglicherweise auch einfacher gestalten könnte eine primitive Kultur mit Schwertern zu einem neuen Glauben zu bekehren, als ohne. Aber auch das wird sich zeigen.

Immer weiter nähert sich das Trio der Sandküste. Soweit sich jetzt schon erahnen lässt, ist die Insel unglaublich grün und fruchtbar. Zahlreiche tropische Bäume laden auf Entdeckungstour ein.

Christóbal fragt sich welche Schätze es hier wohl geben mag. Vielleicht Gold? Zur Zeit ist das sein einziger Gedanke: der Reichtum, den ihm seine Entdeckung bringen wird.

Mittlerweile ist das Boot gelandet. Die drei Kapitäne betreten erstmals das neue Land.

Christóbal, der bis vor einigen Tagen noch befürchten mußte nie wieder Land unter seinen Füßen zu spüren, fällt auf die Knie und dankt Gott in dem er die Erde küsst. Strahlend richtet er sich wieder auf und wandert kurz umher um die Lage zu inspizieren.

Als er scheinbar zufrieden ist, mit dem was er sieht ruft er den Notar der Armada zu sich: "Señor d'Escobedo!"

Dieser eilt zusammen mit Rodrigo Sánchez von Segovia zu ihm.

Kolumbus entfaltet darauf stolz die königliche Flagge und richtet sich an die beiden Herren.

"Hiermit nehme ich unter der persönlichen Gegenwart dieser beiden Augenzeugen diese Insel im Namen des Königs und der Königin von Spanien in Besitz."

Währenddessen schwenken die beiden Kapitäne der "Pinta" und "Niña" zwei riesige Fahnen mit einem grünen Kreuz.

Dies ist der Moment des größten Triumphes Christóbals. Jetzt ist er der strahlende Admiral, der allen bewiesen hat, dass er Recht hat. Jetzt ist er strahlende Sieger!

 

 

"Der Patient ist ein Herr Christóbal Mendez. Er ist 48, in Spanien geboren und im Jugendalter mit seinen Eltern und zwei Geschwistern nach Deutschland gezogen. Er ist, naja war, das hat sich ja jetzt wohl erledigt, Professor für Geschichte an der Universität. Dazu können Sie ihn aber später selbst befragen. Ich liefere Ihnen nur die Grunddaten."

Der hochgewachsene Psychologe nickt, während Dr. Albert Wächtler traurig fort fährt:

"Ein paar Passanten haben ihn gefunden. Er lag regungslos unter einem Baum. Das ist alles sehr tragisch." Der Arzt wird kurz still, dann spricht er weiter. "Zur Person ist vielleicht noch erwähnenswert, dass er ziemlich angesehen unter seinen Kollegen war. Aber Sie sehen: eigentlich weiß ich nicht wirklich etwas über ihn." Der junge Arzt macht eine weitere Pause, in der ihm wieder etwas einfällt. "Ach ja, doch noch etwas: Als wir versucht haben irgendwelche Familienangehörigen ausfindig zu machen, hat sich herausgestellt, dass es niemanden hier in der Nähe gibt. Er hatte weder Frau noch Kinder und seine beiden Schwestern hat es beide zurück nach Spanien gezogen. Wie es mit Freunden aussieht weiß ich nicht. Das müssen Sie dann wohl selbst in Erfahrung bringen. Ich kann nur wiederholen: ein großes Unglück. Jetzt wo er Hilfe durch Personen braucht, die ihm nahe stehen, scheint es, als gäbe es solche Menschen bei ihm überhaupt nicht."

Dr. Holger Bürck nickt ein weiteres Mal langsam, während er die letzten Notizen auf seinem Zettel vollendet.

Wächtler macht ein betrübtes Gesicht: "Er wird sie wirklich nötig haben. Ein Schwerer Schicksalsschlag."

Bürck überlegt, ob der Arzt wohl gleich mit Heulen anfangen wird, verdrängt dann aber schnell den belustigenden Gedanken. Stattdessen richtet er sich mit einem nach jahrelanger Erfahrung als Psychologe, routinemäßig betrübten Tonfall an den Arzt: "Wirklich schrecklich das Ganze. Könnten Sie denn vielleicht noch einmal kurz zusammen fassen, mit welchen Einschränkungen zu rechen ist?"

Wächtler nickt trübselig. "Ja, natürlich. Herr Mendez hatte einen schweren Schlaganfall. Sein Körper ist vom Hals an abwärts gelähmt und damit auch berühungsunempfindlich. In wie weit sich das wieder regenerieren wird, ist noch unklar. Wahrscheinlich aber so gut wie gar nicht. Seine rechte Gesichtshälfte ist ebenfalls gelähmt. Sie hängt ziemlich unansehnlich herab. Mundwinkel verzogen. Das rechte Augenlied hängt herab. Bekommen sie keinen Schreck, wenn sie ihn das erste Mal sehen. Ziemlich furchterregender Anblick."

Der Psychologe ist zusehendes genervter. Dass der sich schnell fürchtet hab ich fast erwartet. Gedanklich schüttelt er den Kopf, lässt sich aber von seinem Gemütszustand nichts anmerken. Er nickt nur ein weiteres Mal, als Aufforderung dass der Arzt weiter machen soll. "Also, er hatte zwischenzeitliche Erblindungserscheinungen. Die scheinen wir jedoch Gott sei Dank wieder in Griff bekommen zu haben, zumindest kann er wieder einigermaßen sehen. Der Sprachfehler nach dem Schlaganfall regeneriert sich auch zusehends, ist allerdings noch vorhanden. Sollten sie Schwierigkeiten haben ihn zu verstehen, dann ist das normal.

Am Anfang war sein Gehirn auch noch etwas ‘verknotet‘. Er konnte Sprachen nicht richtig einordnen und verstehen. Zwischenzeitlich hat er nur spanisch geredet. Das alles sollte mittlerweile aber wieder in Ordnung sein. Was nicht in Ordnung ist, sind seine schweren Depressionen. Er weint fast Tag und Nacht. Will unbedingt sterben. Wer will es ihm verübeln? Und noch etwas: außerdem ist er oftmals weggetreten. Fällt in komaähnlichen Zustand. Das wird allerdings weniger."

Bürck beendet kurz seine Notizen und richtet sich dann direkt an Wächtler: "Noch eine Frage. Was kann man über die Ursache des Schlaganfalls sagen?"

Der junge Arzt verzieht etwas das Gesicht bevor er antwortet: "Also die Ursache liegt eigentlich noch im Dunkeln. Ein etwas rätselhafter Schlaganfall. Naja, Schlaganfälle, um genau zu sein. Dazu kommt ein Herzinfarkt. Fast ein Wunder, dass der Mann überhaupt noch lebt." Wächtler seufzt kurz und redet dann weiter: "Also ein Schlaganfall entsteht

ja durch Durchblutungsstörungen im Gehirn. Blutgefäße werden verstopft, dadurch Teile vom Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, Nervenzellen sterben ab und es kommt zum Beispiel zu Lähmungen und Sprachfehlern."

Bürck, der sich ein wenig als Idiot behandelt fühlt nickt nur und schluckt die zynische Bemerkung, die sich gerade ihren Weg aus dem Mund bahnen will, herunter.

Der Arzt dagegen seufzt erneut. Diesmal etwas geistesabwesend. Danach bestätigt er sich noch einmal das gerade von ihm gesagte. "Ja richtig, so ist das." Dann schweigt er wieder und richtet seinen leeren Blick Richtung Decke.

Der Psychologe überlegt mittlerweile wer wohl wirklich in diesem Krankenhaus eine psychologische Betreuung nötig hat und stellt sich den in einer Zwangsjacke abgeführten Arzt vor. Während Bürcks abschweifenden Gedankengängen, hat Wächtler bereits seinen langweiligen Monolog fortgesetzt: "...ein primär ischämischer Schlaganfall. Es gibt noch andere Typen, wenn Sie..." Bla bla bla. Bürck hofft, dass es noch einmal spannend wird und der Arzt etwas sinnvolles berichten kann, bezweifelt dieses aber äußerst stark. Mit einem halben Ohr lauscht er weiter Wächtlers Ausführungen.

"Als Grund für den Schlaganfall gehen wir von einer speziellen Verengung der Blutgefäße, einer Arteriosklerose aus. Um auf den Punkt zu kommen, muss ich leider kurz ausholen."

Oh Gott! Bürck vermutet, dass der Großteil aller Komapfleglinge in diesem Krankenhaus wohl auf Arzt-Patienten-Gespräche von Wächtler zurückzuführen sind, behält das aber für sich und zuckt nur kurz mit den Schultern: "Nur zu."

Gestenreich beginnt der Arzt mit seinen Ausschweifungen. "Also gut. Ich will Ihnen versuchen zu erklären, wie Arteriosklerose entsteht. Eine Arterie besteht aus mehreren dünnen Schichten. Die innerste ist die sogenannte Intima. Die Intima..."

Bürcks Gedanken irren ab und kreisen um andere Dinge. Warum habe gerade ich das Pech, der Welt größten Langweiler kennen zu lernen? Von nun an schnappt Bürck nur noch Bruchstücke von Wächtlers Bericht auf. "... Endothelzellen, die auf einer dünnen Schicht ... Bindegewebe ... Blutplättchen... Intima jetzt natürlich dünner ... Abwehrsystem.... Fresszellen ...Schaumzellen bilden..." Und letztendlich das Schlüsselwort: "...Chalmydien..."

Bürcks Gehirn schaltet auf Stand-by, während Wächtler weiter quasselt.

Das weiße Krankenhausbett, in dem Christóbal Mendez in der Zwischenzeit unter Schmerzen erwacht, steht in einem kleinen Einzelzimmer. Für einen Moment weiß er weder, wo er ist, noch wer er ist, dann fällt es ihm wieder ein. Die Zeit um sich von diesem erneuten Blackout zu erholen wird sich noch eine Weile erstrecken. Erschöpft versucht die Augen zu öffnen. Nach schwerem Kampf gelingt es ihm. Durch die noch halb geschlossenen Schlitze versucht er einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Noch ist jedoch alles verschwommen.

Er lässt sich wieder in das Kissen sinken und gönnt seinen Augen noch einen Moment Ruhe. Christóbal versucht zu entspannen, als plötzlich in die Stille um ihn herum Gemurmel dringt.

Erst leise, dann immer lauter werdend. Erst nur von wenigen Stimmen, dann von vielen hundert Stimmen, wie es ihm scheint.

Erneut versucht er einen Blick auf den Raum um ihn herum zu erhaschen. Diesmal wird alles etwas deutlicher.

Zahlreichen Gestalten umlagern sein Bett wie eine Arme der Finsternis. Und sie rücken näher! Langsam aber beständig zieht sich der Ring um ihn herum zusammen. Jetzt kann er auch Gesichter erkennen. Einige sind dunkelhäutige Männer in Anzügen, andere wiederum sehen aus wie Dämonen direkt aus der Hölle. Lange spitze Zähne, blass-gelbe Haut und kleine, Knopf große, orange leuchtende Augen.

Sie alle sind nur wegen ihm gekommen. Christóbal weißt nicht wieso, aber er weiß, dass es so ist. Die Schreie, die er auszusenden versucht, ersterben noch in seiner Kehle, als die Wand aus Phantomen sein Bett erreicht.

Als er glaubt zu sterben, setzt plötzliche Schwärze ein und Christóbal erwacht einen Moment später im 15. Jahrhundert. Die Verfolger abgehängt.

Wächtler ist noch immer damit beschäftigt seinen Vortrag zu halten. Bürck wieder etwas aus seiner Trance erwacht.

"Wenn Arterien verstopft sind und Sauerstoff nicht mehr in eine bestimmte Regionen des Körpers transportiert werden kann, dann stirbt wie gesagt Gewebe ab. Im Herz kann das zu einem Herzinfarkt führen, im Gehirn zu einem Schlaganfall."

Bürck schüttelt erschöpft mit dem Kopf. "Und worauf wollen sie nun hinaus?"

Euphorische beginnt Arzt zu erklären. "Nun ja, dieser Vorgang dauert normalerweise sehr lange. Das passiert nicht von einem Tag auf den anderen. Bei Mendez scheint dieser Vorgang aber entgegen aller Möglichkeiten äußerst schnell abgelaufen zu sein."

"Und woher wissen sie das?"

Der Arzt nickt als hätte er die Frage bereits erwartet. "Wir haben Mendez’s Blut untersucht und dabei eine erhöhte, sehr erhöhte, Ansammlung von Chlamydien gefunden. Das sind bestimmte Bakterien, die vor allem Infektionen in den Augenschleimhäuten, im Genitalbereich und in den Atemwegen auslösen. Hierzulande weitestgehend unkritisch, da es gute Therapien mit Antibiotika gibt. In den Dritte Welts Ländern machen sie aber immer noch große Probleme. Sie sind einer der Hauptgründe für die zahlreichen Vorfälle an Erblindungen dort. Selbst in..."

Bürck unterbricht ihn genervt, bevor Wächtler weiter sprechen kann. "Wir waren bei Mendez, auch wenn die Dritte Welt noch so interessant ist."

Wächtler schüttelt etwas verlegen den Kopf, während sich seine Wangen ein wenig rot färben. Mit nun etwas leiserer Stimme entschuldigt er sich: "Oh ja, natürlich. Verzeihung. Ich schweife schnell einmal ab."

Wer hätte das gedacht? Bürck schließt kurz die Augen. "Schon gut. Was ist nun mit dem Patienten?"

Der junge Arzt räuspert sich und erzählt dann weiter: "Jedenfalls hatte Mendez eine sehr hohe Konzentration von diesen Bakterien in seinem Blut. Wir vermuten, dass diese Chlamydien auch die Ursache für Schlaganfälle sind. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, dass diese Bakterien öfters Entzündungen der Atemwege auslösen. Nun stellen sie sich das folgende Szenario vor: Die Atemwege sind durch Chlamydien infiziert worden. Das menschliche Abwehrsystem schlägt Alarm und schickt wieder seine Fresszellen zu den eingeatmeten Bakterien um diese wieder zu beseitigen. Dieser Erreger hat nun aber die Fähigkeit die Fresszellen unbeschadet zu überleben und sich in ihnen sogar noch zu vermehren. Statt also ‘gefressen‘ zu werden, versteckt er sich in den Zellen bis diese über den Blutkreislauf in die Arterien gelangen. Dort angekommen haben die Chlamydien nun freies Spiel. Sie können nach belieben Entzündungen an den Gefäßwänden verursachen, also mit anderen Worten Schäden an der Intima erzeugen. Zu was das führt habe ich Ihnen gerade erklärt. Zur Arteriosklerose!"

Der Psychologe überlegt kurz. "Sie meinen also, dass dieser Mendez eine Bakterieninfektion hatte, die dafür gesorgt hat, dass sich seine Arterien verstopfen und damit einen Herzinfarkt und mehrere Schlaganfälle ausgelöst haben."

Wächtler reißt beide Hände in die Höhe, um seine Worte gestenreich zu unterstreichen. "Richtig. Aber das Problem, bzw. das Merkwürdige ist etwas anderes. Ich habe Ihnen erzählt, dass die Konzentration an Chlamydien in seinem Blut sehr hoch war. Nun beschränken sich seine Infektionen aber fast lediglich auf die Atemwege und Arterien. Das ist äußerst merkwürdig. Wenn er die Bakterien schon so lange in seinem Blutkreislauf hatte, dass sie die Arterien befallen konnten, dann muss es überall in seinem Körper weitere Spuren von Chlamydienerkrankungen geben. Zum Beispiel Entzündung der Harnröhre, Entzündungen im Darm, in den Augenschleimhäuten. Irgendetwas in der Art. Aber es gibt nichts. Die Erkrankung muss meiner Ansicht nach sehr schnell ausgebrochen sein. Allerdings sind diese Bakterien nicht in der Lage das Arteriensystem so schnell außer Gefecht zu setzen. Egal wie viele es sind."

Bürck unterbricht den Arzt plötzlich, diesmal scheinbar sogar etwas interessiert. "Nur damit wir uns nicht falsch verstehen. Sie reden die ganze Zeit von ‘äußerst kurzen Zeiträumen‘. Was bedeutet das bei Ihnen? Wie lange hat es Ihrer Meinung nach gedauert, bis die Bakterien den Schlaganfall verursacht haben."

"Ich gehe von nicht mehr als zwei, drei Tagen aus!"

"Autsch, sind diese Dinger denn ansteckend?"

Der Arzt nickt ernst mit dem Kopf. "Ja, sehr sogar." Dann beginnt er zu lächeln und redet weiter: "Aber ich kann sie beruhigen: wir haben keine weiteren Infektionen registriert, außerdem befand sich Herr Mendez lange unter Quarantäne."

"Dann kann ich Ihnen nicht folgen. Was genau denken Sie ist los? Kann es auch eine andere Ursache für die Arterienschädigungen geben?"

Wächtler denkt nach. "Mhm." Eine kurze Pause. "Keine die die Chlamydien und deren hohe Konzentration erklärt. Außerdem deckt es sich mit der Tatsache, dass es mehrere Schlaganfälle und noch dazu einen Herzinfarkt gab. Alles in allem stehen wir vor einem Rätsel."

Dr. Holger Bürck scheint wieder zu überlegen. "Eine letzte Frage noch. Wieso glauben Sie, dass die Intimainfektion nur zwei bis drei Tage bis zum Ausbruch gebraucht hat?"

Wächtler beißt sich auf die Lippe. "Wie bereits gesagt, ich muss zugeben, dass wir an den Chlamydien festmachen. Nach unserer Ansicht sind diese nämlich keinesfalls länger in Mendez’s Körper gewesen, als er eingeliefert wurde."

Der Psychologe nickt nur wieder. Ich fasse zusammen: Er weiß, dass er nichts weiß.

 

Der Empfang in Barcelona durch das spanische Herrscherpaar ist gigantisch. Christóbal hat es geschafft. Die Gedanken an Reichtum und Weltruhm lassen sein Herz höher schlagen. Dazu die Ehrungen. Don Colón der Entdecker!

Wenn man so will ist dies der Moment in dem der Schmetterling seine Flügel entfaltet.

 

Die Phase Puppe

 

Zwischenzeitlich sind sechseinhalb Monate vergangen, in denen sich Christóbal mit den Folgen seiner Schlaganfälle auseinandersetzen musste.

Er ist seit einigen Woche wieder in seine Wohnung zurückgekehrt. Laufen kann er immer noch nicht und wird es wohl auch nie wieder können. Um sich vom Schlafzimmer ins Bad zu bewegen nutzt er einen elektrischen Rollstuhl, den er durch eine Konsole bedient, die sich, befestigt am Stuhl, in Reichweite seiner teilweise wieder genesenen, rechten Hand befindet.

Ein Großteil seiner Selbständigkeit ist verloren gegangen. Außerhalb seiner vier Wände war er schon lange nicht mehr. Die Menschen sind eine Plage für ihn geworden. Jedesmal wenn er gesehen wurde kam er sich wie eine Affe in einem Käfig vor. Begafft von allen Seiten. Kinder die mit Fingern auf ihn zeigen und ihre Mütter fragen wie der Mann da schmelzen konnte. Christóbal haßt sein Gesicht. Faltig und, da rechtsseitig gelähmt, unschön herunter hängend. Was aber noch mehr haßt als sein Gesicht, ist der Arzt der fast täglich kommt. Bürck! Ein Nervenklempner, der ihn ausfragt und in Gespräche verwickeln will. Fast sein ganzer Hass konzentriert sich auf diese eine Person, wie als wäre es der Psychologe, der Schuld an Christóbals Zustand hat.

Neben Hass gibt es jedoch noch ein anderes, dominierenderes Gefühl. Ein Gefühl, welches er just in diesem Moment wieder verspürt: Panische Angst!

Angst vor den beiden Schwarzen, in ihren Dunklen Anzügen, mit ihrem merkwürdigen Akzent und ihren bohrenden Blicken. Christóbal sitzt in einem Ende seines Wohnzimmers, während die beiden dunkelhäutigen Gestalten am anderen stehen. Sie kommen seid geraumer Zeit fast täglich zu ihm und scheinen von Mal zu Mal unheimlicher zu werden. Vorgestellt haben sie sich nie. Er kennt keine Namen oder Bezeichnung aber da sie sich wie eineiige Zwillinge gleichen, hätte ihm da sowieso wenig genützt. Er unterscheidet sie im Geiste nur durch ‘Rechts‘ und ‘Links‘ – die Tatsache ignorierend, dass beim nächsten Mal ihre Rollen vertauscht sein könnten.

Das unheimlichste an ‘Rechts‘ und ‘Links‘ ist aber, dass sie alles über ihn zu wissen scheinen. Selbst seine Gedanken! - Sind es überhaupt Gedanken? Christóbal weiß es nicht, er weiß nur, dass es oft nur eine Möglichkeit der Flucht vor diesen beiden Schatten gibt. Die Flucht in die Vergangenheit. Die Flucht zu Christoph Kolumbus.

Ja, mittlerweile kann er sich erinnern. Mittlerweile weiß er, dass er oftmals ab taucht in eine andere Welt. Oftmals? Immer öfters!

‘Rechts‘ reist ihn aus seinen Gedanken. Seine langsamen, stark akzentuierten Worte hängen schwer im Raum. "Nun, Señor Colón? Wie geht es Ihnen heute?"

Christóbal dreht sich weg. Er will nicht antworten. Will nicht mit diesen Männern sprechen. Aber er konnte sich ihrem Bann noch nie entziehen. Auch diesmal wird er wieder reden.

‘Rechts‘ hakt flüsternd nach: "Señor?"

Oh diese Stimmen. Sie lassen deine Augen tränen und deine Gehirn vibrieren. Obwohl es jedesmal scheint, als würden sie schreien, ist es doch nur ein Flüstern in tiefer Tonlage.

Lang gezogen und leise: "Señor?"

Christóbals Kopf droht zu zerspringen. Er will nicht mehr. Zu groß sind die Anstrengungen sich gegen alles zur Wehr zu setzen.

"Señor?"

Christóbal will aufgeben. Wird aufgeben. Gibt auf: "Schlecht! Es geht mir schlecht! So wie immer." Er ist der Verzweiflung nah: "Was wollt Ihr?"

‘Links‘ ergreift das Wort. Sein Tonfall erinnert an den eines Vaters, der seinem Sohn geduldig zum hundertsten Mal erklärt warum die Erde rund ist:"Aber das wissen Sie doch! Wir wollen Sie überzeugen, wie wichtig Sie für uns sind. Das Sie uns erzählen, was sie erleben. Wie Sie handeln, denken... was Sie sehen."

Christóbal antwortet mit einer trotzigen Stimme, die gar nicht zu einem Mann seines Alters passen mag: "Was soll ich schon erleben? Ich war seid Wochen nicht mehr raus aus diesem Haus."

"Aber Señor. Wir wollen nicht wissen, was Mendez erlebt, wir wollen wissen was Sie erleben. Sie, Christóbal Colón!"

"Ich bin nicht Kolumbus. Ich bin emeritierter Professor in Geschichte."

‘Links‘ und ‘Rechts‘ schütteln im Gleichtakt ihre beiden Köpfe: "Nein. Sie sind Entdecker. Sie sind der große Christóbal Colón! Der weltberühmte Christóbal Colón!"

"Kolumbus ist ein Traum! Das sind Gedanken. Wenn ich träume bin ich er. Wenn ich wach bin, bin ich ich."

"Und woher wissen Sie, wann Sie wachen und wann Sie träumen Señor? Wie können Sie es unterscheiden?"

Der Raum scheint schlagartig dunkler zu werden, wie als wollten die beiden Schwarzen ihre Worte unterstreichen. Doch es ist nicht nur Dunkelheit. Es ist wie, als würden Schatten die Wände ersetzen. Und hinter den Schatten nur noch Schwärze. Leere. Das Nichts.

Während die Dunkelheit versucht nach Christóbals Gedanken zu greifen, wächst seine Angst ins Unermessliche. Zu was sind diese Männer fähig?

Er reist sich zusammen und formt die einzigen sinnvollen Worte, die ihm dazu einfallen: "Weil ich mich jetzt erinnern kann, dass ich manchmal Kolumbus bin, mich aber andersherum nicht an ein anderes Leben erinnern kann, wenn ich Colón bin. Und ist das nicht so in Träumen? Wir erinnern uns an sie, wenn wir wachen, aber wir wissen nicht, dass wir träumen, während wir träumen."

Das Gesicht der beiden Schwarzen erhellt sich. Leise ertönt ein: "Ahhh!", als hätte Christóbal gerade den Sinn des Lebens entdeckt. "Nun Señor, das ist natürlich ein Argument. Aber bedenken Sie, woher sollten wir von ihren Reisen wissen, wenn sie nur in Ihrem Geiste statt finden würden? Wir verraten Ihnen etwas. Etwas Großes! Wenn sie uns im Gegenzug von ihrer letzten Reise erzählen. Was halten sie davon?"

Christóbal will ‘nein‘ sagen. Sträubt sich innerlich dagegen diesen unheimlichen Menschen auch nur eine einzige Sache zu verraten. Aber er kann nicht widerstehen, wie als würde er Stück für Stück einsehen, dass sie früher oder später sowieso alles erfahren würden.

Langsam dringen durch seine zusammengepressten Zähne die Worte hervor: "Na los! Sagt mir euer großes Geheimnis! Sagt mir, was ihr wißt, dann erzähle ich euch von Kolumbus."

Plötzlich tritt ‘Rechts‘ langsam hervor und nähert sich Christóbal mit kleinen Schritten, bis er diesen erreicht hat und nun direkt vor ihm steht. Dies ist der Moment, in dem Mendez erkennt, dass die Männer nicht wirklich schwarz sind, sondern nur dunkelhäutig. Wie eine Faust, schlägt ihm plötzlich eine beängstigende Ähnlichkeit ins Gesicht. Die zu den Eingeborenen, aus seinen Träumen. Träumen? ‘Rechts‘ lächelt. Hat er meine Gedanken gelesen? Der Schwarze lächelt nur weiter, während er zu sprechen beginnt: "Sie müssen wissen Señor Colón, die Sache ist so geheim, dass ich sie Ihnen nur ins Ohr flüstern möchte. Sie wissen ja: Wände haben Ohren." Noch während sich ‘Rechts‘ zu ihm herunter beugt, versucht Christóbal diesem Dämon auszuweichen und sich von ihm weg zu drehen. Zu sehr ekelt ihn die Vorstellung diese Person so nahe an sein Ohr heran zu lassen. Doch erfolglos. Das Tränen seiner Augen und vibrieren seines Gehirns setzt wieder ein, als ihm der Schwarze mit seiner leisen Stimme sorgfältig ins Ohr flüstert:

"Der Traum ist nicht Kolumbus. Der Traum sind Sie! Sie!"

 

 

Das weiße Ärztezimmer in dem Dr. Albert Wächtler auf einem Drehhocker sitzt, ist klein.

Die Schallusien der Fenster sind halb geschlossen um der Nachmittagssonne so gut es geht auszusperren. Bürck steht, an die Wand gelehnt und wartet auf die Reaktion des Arztes.

Wächtler überlegt. Nach einem kurzen Augenblick beginnt er in einem betrübten Tonfall zu sprechen: "Sie meinen also, dass eher von einer Verschlechterung seiner psychischen Lage auszugehen ist? Das ist wirklich schlimm."

Bürck nickt nur. Er haßt es wieder mit dem verweichlichten Onkel Doktor sprechen zu müssen, aber er weiß auch, dass es leider nötig ist. "Wirklich schlimm, ja. Er hat sich zurückgezogen wie ein Wurm in ein Loch. Er scheut Menschen, fürchtet sich teilweise vor ihnen und haßt sie sogar. Er hat sich in seinem Haus verkrochen und kommt nicht mehr raus. Darüber hinaus werden seine Wahnvorstellungen stärker und länger."

Wächtler scheint nun sogar fast entsetzt zu sein. "Herrje, Schlagen Sie eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt vor?"

Der Psychologe schüttelt energisch den Kopf: "Nein! Auf gar keinen Fall. Das würde ihn komplett zerstören. Ich will ihn dort wo er ist weiter unter Kontrolle halten. Er tut niemanden etwas zu leide,... kann niemanden etwas zu leide tun. Sie wissen selbst wie es mit seiner körperlichen Verfassung aussieht. Ich versuche mein Bestmögliches, aber es ist ausgesprochen schwierig an ihn heran zu kommen." Gedanklich fügt er hinzu: Bevor ich mir von Patch Adams meinen interessantesten Patienten wegnehmen lasse, lass ich mich lieber gleich mit einliefern. Bürck atmet tief durch und richtet sich dann weiter an den Arzt: "Wie oft sehen sie ihn noch?"

Wächtler zuckt mit den Achseln, während er gleichzeitig seine Unterlippe fast bis zum Nasenansatz hinauf zieht. Bürck muß dabei an einen Orang Utan denken, der im weißen Ärztekittel eine Gruppe von kleinen Bonobo-Schimpansen unterrichtet und muss deshalb etwas lächeln. Wächtler scheint das nicht zu bemerken und beantwortet deshalb mit gewohnter Ernsthaftigkeit die Frage. "Einmal alle drei Wochen. Er braucht kaum noch wirkliche Behandlung. Ich überprüfe regelmäßig seine Blutwerte um eine erneute Infektion auszuschließen. Er bekommt ein paar Mittel die sein Blut verdünnen und den Blutdruck senken. Was in meinen Augen bei seinem Fall aber ehrlich gesagt überflüssig ist. Er ist und bleibt eine ganz besondere Situation. Wir überwachen ihn jedenfalls alle drei Wochen. Nehmen alle möglichen Daten auf um einem erneuten Schlaganfall vorzubeugen und das war es auch schon."

Der Psychologe nickt bloß, bevor er weiter fragt. "Welchen Eindruck hat er denn zuletzt auf Sie gemacht?"

Wächtler beginnt erneut mit einer längeren Denkpause, als hätte man ihn vor die Aufgabe gestellt zu schätzen wie viele Schweine ein Kleinbauer im Süden von Pakistan wohl durchschnittlich hätte. Nach reichlicher Überlegung antwortet er: "Er war ansprechbar und geistig vollkommen klar. Etwas paranoid hatte ich das Gefühl, aber ansonsten ging es. Er weiß von seinen Halluzinationen oder?"

"Auch wenn ich es nicht als Halluzinationen bezeichnen würde: ja, er weiß davon. Er erinnert sich daran, wie er als Christoph Kolumbus den Atlantik überquert oder in Spanien als Held gefeiert wird. Er weiß auch, dass es sich nur um Einbildungen, Träume handelt. Psychologisch gesehen sind diese Fluchten in eine andere Welt zwar auch bedenklich, aber im Moment bereiten mir seine Verpuppung und sein Menschenhass mehr Sorgen."

Wächtler nickt nur betrübt. "Ja. Das verstehe ich. Um ehrlich zu sein, habe ich aber auch kaum Ahnung davon. Die Behandlung liegt allein in Ihrer Hand. Ich werde in physisch überwachen und Sie ihn psychisch."

Der Psychologe grinst. "Ganz richtig." Wenigstens hat er das begriffen. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Gibt es eigentlich schon Neuigkeiten zu diesen Bakterien? Wie hießen die gleich...?"

Wächtlers Gesichtsausdruck erhellt sich. "Chlamydien!"

"Ja, genau. Chlamydien. Wo sie herkamen? Wie sie das bewirken konnten? Irgendwas?"

Der Arzt reibt sich am Kinn und setzt einen ernstem Blick auf. Er zögert kurz, bevor er sich näher zu Bürck gesellt und dann in verschwörerisch leisem Ton antwortet. "Naja. Nicht offiziell. Aber inoffiziell gibt es ein paar Informationen." Dabei nickt er, als wolle er sich selbst noch einmal bestätigen.

Mit übertrieben großen Augen und fast noch geheimnistuerischen Tonfall antwortet der Psychologe: "Ach wirklich? Und was wären das für Informationen?"

Die Reaktion auf diese Frage besteht diesmal jedoch aus einem bösen Blick des Arztes. Autsch. Unterschätzt! Bürck ruft sich ins Gedächtnis, dass er hier vielleicht einem Weichei gegenüber sitzt, aber keinesfalls einem Idioten. Ein Dr. Albert Wächtler merkt sehr wohl, wenn man ihn verarscht. Fehleinschätzungen seines Gegenüber können für einen Psychologen fatal enden. Bürck beschließt, dass das so schnell nicht mehr vorkommt.

Der Arzt dagegen scheint längst wieder darüber hinweg gesehen zu haben und berichtet im gewohnt unermüdlichen Tonfall. "Also, wir haben hier Kontakte mit ein paar Forschungseinrichtungen. Eine davon war zuletzt zusammen mit Cambridge an der Entwicklung eines Chlamydien Soforttests beteiligt. Es ging darum, einen möglichst billigen Test zu entwickeln, um diesen in Afrika und Asien weiträumig zum Nachweis einer Chlamydien Infektion einzusetzen. Ich habe Ihnen glaube ich schon mal erzählt wie groß die Probleme dort mit diesem Erreger sind. Vor allem durch Geschlechtsverkehr wird es großflächig verbreitet. Frauen laufen dort teilweise Monate herum, ohne überhaupt etwas davon zu ahnen, dass sie die Bakterien in sich tragen. Mit diesem Soforttest könnte man so die Ausbreitung der Chlamydien einschränken. Bei den dortigen Fällen genügen teilweise schon einfache Medikamente.

Auf jeden Fall setzt sich diese Einrichtung gezielt mit dem Erreger auseinander."

Bürck sieht den Arzt fragend an: "Und die haben etwas raus bekommen?"

"Ja, aber noch nicht viel. Wir haben ihnen eine Probe geschickt. Die Antwort war ziemlich überraschend. Die Abart des Erregers ist ihnen bekannt. Allerdings nur aus den eigenen Laboren. Und genau dort sollte sie auch nur existieren: im Labor! Speziell gezüchtet. Viele Informationen über den Erreger wurden nicht heraus gegeben, aber die Ansteckungsgefahr soll drastisch reduziert sein. Keine Übertragung durch Tröpfchen oder ähnliches. Das würde auch erklären, warum es zu keinen weiteren Fällen gekommen ist."

"Wie wurde dann der Erreger frei gesetzt? Ein Fehler im Labor?"

"Keine Ahnung. Das weiß wohl niemand. Zumindest können wir jetzt wenigstens sagen, dass dieser spezielle Chlamydien-Typ identifiziert worden ist."

Bürck dreht eine kleine Runde im Raum und scheint zu überlegen. Zumindest ist der Arzt in den letzten paar Minuten drastisch in seinem Ansehen gestiegen. Er ruft sich erneut ins Gedächtnis: Der Mann ist definitiv kein Idiot. Während der Psychologe das Zimmer durchwandert, beobachtet Wächtler ihn ruhig. Nach einem Moment hebt Bürck den Finger und richtet sich wieder an den Arzt: "Und dieser Erreger löst Schlaganfälle in diesem Maße aus?"

Albert Wächtler schüttelt den Kopf. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn er sich derart aggressiv gegenüber den Atemwegen verhält, und viele andere Organe überhaupt nicht befällt, dann ist das an sich schon sehr merkwürdig. Aber alles in allem kann ich auch nur sagen: ich weiß es nicht, wie er sich genau verhält. Wie gesagt: die Informationen, die ich habe sind spärlich, genauso wie meine Biologiekenntnisse in diese Richtung. Es werden kaum Informationen herausgegeben."

Der Psychologe nickt. "Ja, verstehe. Trotzdem würde mich brennend interessieren, wie es sich zugetragen hat."

"Nicht nur Sie..."

 

Wenn es eine Sache gibt, die Christóbal Mendez innerhalb der vergangen paar Monate gelernt hat, dann ist es die, dass es zwei verschiedene Arten von Stille gibt.

Einmal die einsame Stille. Diese vermittelt innere Ruhe und gibt dir das Gefühl des alleinseins. Und dann natürlich noch die andere Stille. Die die in einem unter Tonnen von Erde begrabenen Sarg herrschen muss, wenn man jeden Augenblick damit rechnet, dass die Dämonen der Unterwelt von außen an die hölzernen Wände dieser letzten Ruhestätte klopfen. Doch sie klopfen nicht! Du wartest und wartest und wartest und weißt, dass es gleich tock, tock, tock machen wird. Aber nichts passiert. Im Sarg bleibt es still! Still für alle Ewigkeit.

Und während Christóbals Gedanken ein ums andere Mal um dieses Paradoxon kreisen, weiß

er noch nicht, dass heute der Tag sein soll, an dem das Pochen ertönt. Und es würde lauter und gleichzeitig stiller sein, als der am Anfang von Allem stehende Urknall.

Im Haus herrscht Ruhe. Kein Geräusch von nirgendwo her. Trotzdem das Gefühl, als würde diese Ruhe augenblicklich zerrissen werden. Aber dieses Gefühl hat Mendez öfters. Dann gibt es im Allgemeinen zwei Möglichkeiten, was als nächstes passiert. Entweder verschwindet es urplötzlich nach ein oder zwei beängstigend langen Stunden wieder oder aber Christóbal entschwebt vorher in seine beruhigende mittelalterliche Welt.

Wieder einmal hofft er, dass es vorüber geht. In seinen Rollstuhl gepresst starrt er die Wände an und wartet. Wenn man nur lange genug das Fischschuppen Muster der Fließtapete anstarrt, dann scheint es irgendwann, als würde es sich in Bewegung setzen und wie ein dünner Überzug aus Wasser an den Wänden herunter laufen. Natürlich ist das nur Einbildung. Die macht des Geistes und die Betrügereien der Augen, wenn diese zulange ein und das selbe Ziel fixieren müssen.

Dann unvermittelt ein Knarren. Das Knarren von Dielen. Das Knarren von Dielen in einem Dielenlosen Haus! Christóbal zuckt zusammen. Sein Blick wandert zur Tür, die jedoch weiterhin geschlossen bleibt. Plötzlich hat er das Gefühl von Tausenden kleinen Augen angestarrt zu werden. Das Gefühl beobachtet zu werden. Wie Recht er hat, kann er nicht im Geringsten erahnen.

Das Knarren ist mittlerweile verstummt. Alles was noch zu hören ist, sind die schnellen kurzen Atemstöße des Spaniers. Für Mendez selbst sind diese jedoch nicht wahrzunehmen. Zu laut sind wie Kanonenschläge wirkenden, rhythmischen Geräusche seines eigenen Herzes, das wie wild versucht immer schneller Blut durch den geschundenen Körper zu pumpen. Christóbal rechnet fest mit einem erneuten Herzinfarkt, als sich plötzlich langsam die Tür öffnet und sich weitere Schwärze in den ohnehin schon dunklen Raum drängt. Er betet zu Gott, dass sein Herz zerspringen möge, um diesen, einem Albtraum gleichenden Leben, endlich ein Ende zu setzen. Aber kein Gott kommt diesem Wunsch nach. Stattdessen, wird sichtbar, was Christóbal ursprünglich für quellende Dunkelheit gehalten hatte: Ein kleines Kind. Ein kleines Kind, dessen Silhouette durch eine Art langen, schwarzen Schleier verzerrt wird, der auf dem Boden hinter ihm her schleift. Davon abgesehen ist es barfüßig und ausgenommen der vom Schleicher verdeckten Teilen, ist der Oberkörper nackt. Die Lenden sind durch ein dunkelrotes Tuch bedeckt.

Mit langsamen, bedächtigen Tempo bewegt es sich vorwärts, bis es nach wenigen Schritten halt macht. Christóbal, dessen Lungen scheinbar plötzlich kaum noch Sauerstoff zu bekommen scheinen, erkennt, dass es sich um ein Kind mit äußerst dunkler Haut handelt. Noch nicht schwarz, aber auch nicht wirklich weit davon entfernt. Müßte man das Alter des kleinen Besuchers schätzen, so würde man dies am wahrscheinlichsten auf fünf beziffern.

Christóbal starrt mit offenem Mund auf die Stelle, an der sich nun der kleine Junge befindet.

Verzweifelt versucht Mendez etwas zu sagen. Etwas zu fragen. Aber es geht nicht. Sein ganzer Körper ist vorübergehend erstarrt.

Alles was sich bewegt, ist sein zuckender Mund, dem es nicht gelingt ein Geräusch zu erzeugen. Ein Angstschock. Hervorgerufen durch die erdrückende Surrealität der Situation.

Bewegungslos starrt er das Kind an und erkennt abermals die offensichtlichen Ähnlichkeiten zu den Gestalten aus seinen Reisen. Erst jetzt bemerkt Christóbal, dass der Junge weint. Die Nässe fließt wie ein kleiner Bach an dessen Nase entlang. Mendez ist sich nun sicher: jeden Augenblick wird sein Herzt zerreißen und allem ein Ende machen. Gleich. Er will sich mit einigen letzten Worten an das Kind wenden, doch noch immer ist dieses sonst so einfache Unterfangen unmöglich. Kein Laut schleicht sich aus seiner Kehle.

Christóbal entschließt sich alle weiteren Versuche aufzugeben, aber noch während er diesen Beschluss fasst, wird ihm überraschenderweise die Gesprächseröffnung abgenommen. Wie ein Echo schallt plötzlich ein Flüstern des Jungen immer und immer wieder durch das Zimmer: "Warum?"

Und während sich die Augen des kleinen Jungen weiter mit Tränen füllen, zeigt das Zauberwort seine Wirkung. Wie als wäre der Fluch den eigenen Körper nicht mehr kontrollieren zu können, von Christóbal genommen worden, ist dieser nun wieder in der Lage zu antworten. Mit einem brüchigen Krächzen richtet er sich an das Kind: "Was willst du?"

Die Reaktion besteht jedoch nur aus weiteren Fragen: "Wieso tust du das? Warum lässt du es zu? Warum?"

Langsam beginnen nun auch Christóbals Augen zu schwimmen. Wie ein Vorhang bildet sich eine Tränenwand vor seinen Augen, die die Umgebung verwischen lässt. "Was meinst du?" Doch die Frage klingt mehr wie ein Flehen. Und in Strömen brechen die Tränen nun ganz aus ihm heraus. "Was?"

Das Kind schüttelt nur seinen dunklen Kopf. "Warum tötest du uns? Immer und immer wieder? Lass und in Ruhe. Bitte!"

Bestürzt blickt sich Christóbal um. Uns? Nachdem er nichts entdeckt zu haben scheint, richtet er sich etwas mutiger wieder an den Jungen: "Ich soll Euch in Ruhe lassen? Laßt Mich in Ruhe! Alles was ich tue geschieht in Gottes Willen!"

Abrupt stoppt der Tränenstrom des kleinen Schwarzen. Mit ernstem Blick starrt er Christóbal an. Mit einem Blick, aus dem der blanke Hass spricht. Diesmal sind die Worte des Jungen lauter und kräftiger, fast wie ein Schrei: "Dein Gott ist nicht unser Gott! Rechtfertige deine Taten nicht durch den Glauben Anderer, nur weil du meinst selbst vom Schöpfer im Stich gelassen worden zu sein."

Unbändige Wut kämpft sich wie Galle, aus Christóbals Rachen hervor: "Ich habe Euch meine Hand gereicht um Euch mit dieser zum Christentum zu führen, doch ihr habt sie gebissen. Ihr seid keine Christen. Ihr seid das Böse. Diener des Teufels. Und alles was ich tue geschieht im Auftrag des Herren und im Auftrag meiner eigenen Rache. Ich werde Euch töten so oft und so lange wie ich es für richtig erachte und so Gott es will, wird das für immer sein!"

Der kleine Junge schüttelt nur erneut betrübt mit dem Kopf. "Dann wird es auch für Dich nie Erlösung geben!"

 

Seit dem ersten und einzigen Auftauchen, des kleinen dunkelhäutigen Kindes sind nun mehrere Tage vergangen. Mendez weiß, dass es sich damals um einen einmaligen Besuch gehandelt hat. Beängstigenden Besuch!, wie er sich ebenfalls wieder erinnert. Das Erscheinen einer anderen, ebenfalls äußerst beängstigenden Partei, dagegen, nimmt ständig zu: ‘Links‘ und ‘Rechts‘. Soeben sind die beiden Schwarzen wieder einmal verschwunden. Gerade gegangen. Aber Christóbal weiß ganz genau, dass ihr nächster Auftritt nicht lange auf sich warten lassen wird. Für den Moment hat er jedoch Ruhe. Endlich. Er lässt sich in seinen Rollstuhl zurück sinken und schließt die Augen. Wie still das Haus doch sein kann. Mendez entspannt. Jegliche panische Angst die durch die Anwesenheit von ‘Links‘ und ‘Rechts‘ erzeugt wurde fällt wie eine alte Haut von ihm ab. Jetzt ist er für sich. Mindestens eine paar Stunden. Christóbal wünscht sich jetzt eine kleine Zeitreise machen zu können, aber noch kann er es nicht steuern. Immer wieder fragt er sich, ob er überhaupt jemals können wird. Die Träume kommen und gehen. In letzter Zeit aber öfter. Dafür ist er dankbar. Besser Kolumbus sein als ein verkrüppelter Frührentner.

Mitten in die angenehme Stille hinein, ertönt plötzlich ein Signal. Zweimal kurz. Die Türklingel. Mendez flucht leise. Als nächstes ist zu hören, wie sich ein Schloß und anschließend die Tür öffnet. Christóbal flucht erneut. Wer hat diesem Idioten eigentlich einen Schlüssel gegeben?- War ich es womöglich selbst? Er kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.

Dann ein Klopfen an der Wohnzimmertür.

Der Spanier bleibt still.

Ein weiteres Klopfen, dazu ein Ruf: "Christóbal?"

Mendez flucht erneut leise in den Raum, bevor er sich widerstrebend meldet. "Ja!"

Die Tür öffent sich langsam und im nächsten Moment hat Dr. Holger Bürck den Raum betreten und lächelt seinen Patienten an. "Hallo."

Mendez erwidert nichts.

Bürck startet einen erneuten Versuch Kontakt aufzunehmen: "Ich habe gesehen, Sie hatten Besuch?"

Der Spanier sieht den Psychologen mit einem Blick an, der sowohl abschätzig als verwirrt wirkt: "Besuch?"

"Ja, Zwei Herren, die aus Ihrer Wohnung heraus kamen. Kein Besuch?"

Mendez beginnt zu begreifen: Natürlich, ‘Rechts‘ und ‘Links‘, die beiden Bastarde. Haben sich scheinbar gut Zeit gelassen zu verschwinden.

Chritóbal richtet sich wieder missbilligend zu Bürck: "Doch. Ich hatte Besuch."

Der Psychologe lächelt: "Das freut mich. Kontakt ist in der gegenwärtigen Situation äußerst wichtig für Sie. Darf ich fragen, wer die beiden waren?"

"Nein."

Bürck nickt nur als hätte er schon mit dieser Reaktion gerechnet. "Wenn wir beide irgendwie zusammen arbeiten sollen, dann sollten wir vielleicht auch etwas umgänglicher miteinander umgehen. Vor allem offener. Meinen Sie nicht auch?"

"Nein."

"Christóbal. Ich..."

Der Spanier unterbricht ihn, noch bevor Bürck zu Ende sprechen kann.

"Um ehrlich zu sein... und natürlich auch offen zu sein, so wie sie es wollen, frage ich mich Tag und Nacht wie ich sie los werden kann. Warum kann nicht einfach sagen: ‘Bleiben Sie ganz weit weg von hier‘, so dass Sie dann auch ganz weit weg von hier bleiben! Warum?"

Der Psycholge seufzt. Am liebsten würde er sagen, was er denkt: Weil ich mir dann unter anderem wohl die Möglichkeit nehmen lassen würde, dir irgendwann, bei passender Gelegenheit, in deinen alten verkrüppelten Arsch zu treten, um zu schauen wie stark die Krafteinwirkung sein muss um dir Selbigen zu brechen. Und was macht ein Mann, der sowieso nur noch sitzen kann mit gebrochenem Arsch? Aber anstatt seinen Gedanken Worte zu verleihen, bleibt Bürck ruhig: "Weil Sie sich einer Anordnung für psychologische Betreuung nicht wieder setzen können. Wäre es Ihnen lieber in eine Klinik eingewiesen zu werden?"

Mendez lacht verächtlich. "Wenn ich Sie dann nicht mehr sehen muss: Ja! Auf der Stelle. Laßt den bunten Wagen vorfahren."

Innerlich muss Bürck lächeln. Mach deine dummen Scherze noch so lange du kannst. Irgendwann sorge ich dafür, dass du zu keinen mehr fähig bist. Nach außen schüttelt der Psychologe jedoch nur betrübt den Kopf. "Ich will doch nur mit Ihnen reden. Warum ist das so schwer für Sie?"

"Weil ich keine Interesse an Gesprächen mit Ihnen habe. Deshalb!"

Nach einem kurzen Moment fügt er hinzu: "Sie kommen und gehen wie es Ihnen gefällt! Wer gibt Ihnen dazu das Recht?"

"Sie stehen unter ärztlicher Aufsicht. Offiziell rund um die Uhr."

Trotzig verzieht Mendez sein Gesicht. "Sie sind kein Arzt. Sie sind Psychologe. Gilt das für die auch?" Eine Pause. "Ach egal. Ich mache Ihnen ein Angebot. Ich versuche mit Ihnen zu reden und dafür kommen sie nur noch einmal alle vier Tage. Was halten Sie davon?"

Bürck seufzt: "Ich kann nicht..."

"Drei Tage!"

"Christóbal, verst..."

Der Spanier unterbricht ihn erneut. "Zwei Tage. Na ist es Ihnen das nicht Wert? Besser alle zwei Tage und ich rede mit Ihnen, als jeden Tag an denen ich Ihnen verspreche: ich werde jeden einzelnen dieser Tage schweigen wie ein Grab!"

Der Psychologe schaut Mendez ernst an. "Wenn sie das tun, werden wir nicht um eine Einweisung in die Klinik umher kommen."

Christóbal lacht laut auf, als hätte er gerade den wunderbarsten Witz auf Erden gehört. "Hören Sie auf! Sie können mir nicht drohen. Ich weiß genau, dass Sie mich nicht hergeben wollen. Sie wollen mich doch genauso wenig in einer Anstalt sehen, wie ich mich selbst. Das sehe ich Ihnen an. Na, was ist es? Stolz? Ehre? Die Schmach gescheitert zu sein?"

Bürcks Blick verfinstert sich. "Okay. Alle zwei Tage. Aber dafür werden wir jetzt ausgiebig reden!"

Mendez nickt. "Ich werde mein Bestes versuchen.", im selben Moment schießt aber ein ganz anderer Gedanke durch seinen Kopf: Wie weit sich wohl ein Lügenspiel aufziehen lässt...

Bei dieser Überlegung muss Christóbal lächeln.

 

 

Die Phase Raupe

 

Das weiße Ärztezimmer ist, bis auf zwei diskutierende Personen, leer.

"Es ist alles so schrecklich! Entschuldige Sophie, aber ich weiß nicht, was ich machen soll."

Die Frau im weißen Kittel wirkt ernst: "Entspann dich erst mal."

Wächtler gelingt das offensichtlich nicht. "Aber ich kann mich doch so schwer entspannen. Es wird doch immer schlimmer. Jedes Mal geht es Herrn Mendez noch schlechter."

"In wie fern denn schlechter? Gesundheitlich?"

Wächtler schüttelt traurig den Kopf. "Nein, nein. Psychisch. Er ist ganz aggressiv und überhaupt nicht umgänglich."

Die Ärztin legt Wächtler sanft eine Hand auf die Schulter um ihn zu beruhigen. "Aber das ist doch nicht dein Problem. Für so etwas gibt es doch Psychologen."

Wächtler atmet tief durch. "Jaaa. Aber der von Herrn Mendez ist so schlecht. Normalerweise sollte sich doch sein Gemütszustand verbessern und nicht stetig verschlechtern. Ich weiß einfach nicht weiter."

Sophie Werth seufzt. Am liebsten würde sie sofort wieder gehen und Wächtler seinem Elend überlassen. Gespräche mit ihm können sich als äußerst anstrengend erweisen. Doch jetzt einfach abzuhauen und ihn stehen zu lassen, würde ihr Gewissen wohl noch mehr belasten, als wie sie das derzeitige Gespräch bereits nervt. Mitfühlend fragt sie:"Warum lässt du ihn denn nicht einfach in eine psychologische Anstalt einweisen, wenn du meinst, er wäre dort besser aufgehoben?"

Wächtler schaut sie nur betrübt an: "Das habe ich schon versucht. Her Bürck – sein Psychologe – verhindert das irgendwie immer wieder. Ich weiß wirklich nicht, welche Beziehungen er hat, um... um..." Wächtler sucht nach dem richtigen Ausdruck " ...naja, um ihn halt noch allein zu Hause behandeln zu dürfen. Du weißt was ich meine. Herr Mendez gehört in ein Krankenhaus!"

Die Ärztin lächelt nachsichtig: "Aber du bist kein Psychologe. Woher willst du denn wissen, ob er wirklich in ein Krankenhaus für psychisch gestörte Menschen gehört?"

"Weil er doch immer so aggressiv ist. Er beschimpft mich. Macht sich über mich lustig. Einfach schrecklich."

Sophie denkt darüber nach, ob es nicht vielleicht die Besuche von Wächtler selbst sind, die Mendez so aggressiv machen. Sie überlegt, dass sie vermutlich sehr genervt und aggressiv wäre, wenn sie ständige Besuche von ihm ertragen müßte. Und dabei noch die ganze Zeit in einem Rollstuhl sitzen, ohne die Möglichkeit auf Flucht und Entspannung. Oh ja. So etwas kann sicherlich äußerst wütend machen. Die Ärztin verdrängt den Gedanken schnell wieder und seufzt: "Armer Herr Mendez.", ohne hinzuzufügen, dass sich die Aussage eigentlich auf ihre Überlegungen bezog.

Wächtler nickt nur betrübt. "Ja. Da hast du Recht." Nach einem Moment der Insichgekehrtheit spricht er weiter. "Weißt du, Herr Mendez ist jetzt schon seit fast zehn Monaten mein Patient. Die meiste Zeit ist er ja sowieso nicht bei Bewußtsein. Auch wieder ein Grund, warum er eigentlich längst in einer Anstalt sein müßte. Es ist doch so furchtbar nichts tun zu können."

Sophie Werth ist mehr als nur bewußt, dass Wächtler besonders naiv im Umgang mit Menschen ist. Dass er früher oder später auf einen Patienten treffen würde, der ihn wegen seiner Persönlichkeit so frustriert, war absehbar. Nur um etwas zusagen, richtet sie sich wieder mit einer Frage an ihren Kollegen: "Und wie oft siehst du ihn noch? Vielleicht ist er ja sonst viel entspannter?" Während die Ärztin darüber nachdenkt, glaubt sie, dass sie auf Letzteres wohl sogar 100 Euro setzen würde.

Wächtler seufzt wieder. "Naja, einmal alle drei Wochen komme ich immer noch vorbei. Hauptsächlich wegen Blutproben. Aber die will er sowieso nicht mit sich machen lassen. Ich versuche mit ihm zu reden, aber er blockt dann sofort ab und wird ausfallend."

Die Ärztin setzt ein nachsichtiges Lächeln auf. "Aber es sind doch nur alle drei Wochen! Dazwischen bemerkst du doch gar nichts von ihm. Das sollte doch nicht allzu belastend sein."

"Doch, doch. Weil ich ja ständig daran denken muss, wie schlecht es ihm geht. Ich weiß ja, dass er großen psychischen Qualen ausgesetzt ist, sonst würde er sich nicht so verhalten, wie er sich verhält. Wie ein Mensch aus einem Albtraum."

Sophie hat klares Bild vor Augen, was bei Wächtler schon einem ‘Albtraum‘ gleichen könnte: Ein Mann der nie seine Blumen gießt und alle Nase lang das Wort ‘Scheiße‘ benutzt.

Beruhigend versucht sie auf Wächtler einzureden. "Jetzt übertreibst du bestimmt. Albtraum geht doch zu weit."

Wächtler ist unschlüssig. "Naja, vielleicht nicht ganz so schlimm. Du hast wohl recht. So etwas zu sagen ist nicht nett. Aber es geht schon in diese Richtung." Wenn dies überhaupt möglich war, dann schaut der Arzt nach diesen Worten sogar noch bedrückter als vorher. Nach einem Moment der Stiller spricht er weiter: "Er ist mir ehrlich gesagt sogar ein bisschen unheimlich. Ich glaube fast, dass ihm Herr Bürck, das war der Psychologe, irgendetwas falsches gibt. Weißt du? So dass seine Gemütslage sich verschlimmert anstatt sich zu verbessern..."

Die Ärztin schüttelt jedoch nur verneinend den Kopf. "Wenn der Mann Psychologe ist, dann weiß er auch, was er tut. Glaub mir, er gibt ihm bestimmt keine falschen Mittel."

"Ach ich versteh es doch selbst nicht! Aber warum ist Herr Mendez denn sonst so unheimlich?"

Sophie Werth hebt prüfend die Augenbraue: "Was genau meinst du denn mit unheimlich?"

"Mhm. Seine Art und sein Aussehen. Es ist ja nicht sein Schuld! Aber dieses fürchterliche deformierte Gesicht. Seine kleinen unförmigen Bewegungen. Und dazu noch seine herablassende Arroganz und Boshaftigkeit. Wie ein Wurm oder eine Raupe." Wächtlers Augen werden groß, als er sich der Ärztin nähert und ernst erklärt: "Eine langsam vorwärts kriechende, riesige Raupe die statt Blättern Menschen verschlingt."

Die Ärztin schaut in resignierend an. Jetzt wird er auch noch aggressiv emotional. Mit ihren beiden Händen fährt sie sich genervt durchs Gesicht: "Du übertreibst!"

Wächtler schaut ernst zurück: "Und du kennst ihn nicht!"

"Menschen verschlingt! Das tut er wohl nicht mal metaphorisch."

"Ich glaube er verschlingt Persönlichkeiten. Macht andere und seine eigene kaputt... und wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sogar sagen, dass man das ‘metaphorisch‘ streichen kann..."

 

 

Der Raum ist klein und weitesgehend unmöbliert. Nur ein Laptop auf einem Hocker. Dazu zwei Personen.

Die erste von beiden meldet sich zu Wort: "Hier sind die Mitschnitte." Er dreht den Laptop zu Person zwei und spricht weiter: "Das Wichtigste ausgewählt und zusammen geschnitten. Die kompletten Aufnahmen stehen bald zur Verfügung. Ich sortiere noch."

Ein Tonbad wird eingeschaltet.

Hastig fügt Person eins noch hinzu: "Das ist von der zweiten Reise.", dann ist die aufgezeichnete Stimme von Christóbal Mendez zu hören.

"Der 28. November."

Eine längere Pause, dann fährt die Tonbandstimme fort. "1493. Wir haben heute La Navidad erreicht. Die Kolonie von der ersten Fahrt. Alles war herunter gebrannt, alle Leute tot. Ich war wütend." Pause. "Warum? Natürlich, weil diese Idioten auf ihren Streifzügen die Eingeborenen ausgeplündert haben. Ihre Frauen vergewaltigt haben. Was haben sie erwartet? Dass es keine Gegenwehr gibt?" Christóbal knirscht mit den Zähnen. "Ich wollte eine intakte Kolonie als Stützpunkt aber..." dann ist ein kurzer Ton zu hören, der eine neue Aufzeichnung signalisiert.

Wieder Mendez’s Stimme, diesmal klingt sie beunruhigt, fast ängstlich.

"Der zweite Januar 1494. Wir haben heute "Isabella" gegründet. Nach der spanischen Königin benannt. Von hier aus will ich die Trupps ins Landesinnere organisieren. Ich will Gold finden und weiß, dass es da ist." Wieder eine längere Pause. Es scheint als würde Christóbal mit jemanden reden, jedoch ist die Stimme eines Gegenüber nicht zu hören. Er fährt fort, plötzlich leicht aufgebracht: "Diesmal nicht. Nein! Ich lasse Forts anlegen. Kein Eingeborener wird uns ungestraft überfallen. Diesmal nicht! Dazu kommen weitere Siedlungen, das Land wird uns eigen gemacht."

Wieder das Signal, dann eine neue Aufzeichnung.

"Der 12. März. 1493. Ich habe mich heute mit 500 Mann selbst auf den Weg ins Landesinnere gemacht. Es wird Krieg geben, das weiß ich. Aber ich kenne auch den Sieger."

Wieder eine neue Aufnahme.

Diesmal meldet sich Mendez mit schwacher Stimme. "Mir geht es nicht gut. Ich bin krank." Eine lange Pause, dann weiter. "Wir sind mit den Schiffen nach ‘La Isabella‘ zurück gekehrt. Ich, ich ... der..." Kurze Stille. "...der 29. September 1494...mein Bruder Diego... Herrscher über ‘La Isabella‘. Bartolomeo habe ich... zum Provinzgouverneur ernannt. Ich..." Eins starkes Husten ist zu hören, dann ist auch diese Aufnahme beendet.

Im nächsten Mitschnitt ist die Stimme wieder kräftig, diesmal klingt sie fast tollkühn.

"Das Klima macht und zu schaffen. Viele meiner Leute sind krank. Aber wir geben nicht auf. Ich habe mich zum Vizekönig und Gouverneur von "La Isabella" ernannt. Es muss wieder Ordnung einkehren. Meine Leute ziehen los und misshandeln grundlos die Eingeborenen. Ich habe die Todesstrafe wieder eingeführt. Anders kann ich mir keinen Respekt verschaffen." Eine längere Unterbrechung durch Stille. Dann fährt ein selbstbewußter Christóbal stolz fort: "Es stehen zwei Dinge im Vordergrund. Erstens: Ich will Gold sehen. So viel wie möglich und sobald wie möglich. Und zweitens: die Inder müssen zum Christentum bekehrt werden. Und das um jeden Preis. Das bedeutet: wer sich nicht an passt muss mit zunehmender Härte rechnen." Ein trockenes lautes Lachen wird von dem Signal für eine neue Aufnahme unterbrochen.

Überheblichkeit und Arroganz sind nun nicht mehr aus Mendez’s Stimme zu leugnen.

"Der 24. März 1495. Ich habe eine Strafexpedition mit 200 Soldaten angeordnet. Ins Innere von Hispaniola. Wir haben dort ein Gebiet mit Unmengen von Gold entdeckt. Die Eingeborenen dort werden unterworfen. Wer sich nicht unterwirft wird getötet. Ich..."

Dann ist die Bandaufnahme beendet.

Person eins richtet sich an seinen Gegenüber. "Und? Sind sie mit der Entwicklung zufrieden?"

Die Antwort besteht aus einem Nicken und zwei Wörtern. "Ja, sehr!"

 

 

Der Anruf vom Labor. Endlich.

Wächtler ist gespannt: "Können Sie mir sagen, was die Untersuchung ergeben hat?"

"Eine Menge! Aber wieso diesmal die Gaschromatographie-Massenspektrometrie? Was war ihre Vermutung?"

"Naja. Eigentlich möchte ich nur gerne wissen, was ein Psychologe einem meiner Patienten verabreicht. Er wird immer aggressiver und verwirrter. Der Patient, nicht der Psychologe."

Ein amüsiertes Lachen vom anderen Ende der Leitung. "Ja, schon klar."

"Ich habe die Befürchtungen, dass die Behandlungen nicht ganz richtig durchgeführt werden, dass er vielleicht versehentlich eine falsche Behandlungsstrategie eingeschlagen hat." Wächtler macht eine kurze Pause, dann fährt er fort: "Entschuldigen Sie. Das interessiert wahrscheinlich gar nicht. Was wurde denn nun gefunden?"

"Nun ja, am interessantesten sollte sein, dass wir im Blut des Patienten ein Alkaloid entdeckt haben!"

Auf Wächtlers Stirn bildet sich eine Schweißwand. So etwas kann doch kein Versehen sein! Keinem Psychologen kann und darf das passieren und vor allem nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Er schluckt, bevor er noch einmal nachfragt. "Ein Alkaloid? Welches denn?"

"Das Halluzinogen Meskalin. Jemand hat es ihm zusammen mit einem Cocktail anderer Stoffe vermutlich oral verabreicht."

Der Arzt schluckt erneut. Vieles beginnt plötzlich zusammen zu passen. "Welche anderen Stoffe?"

Wächtler hört schockiert und betrübt zu während die Aufzählung des Laboranten beginnt.

 

 

Es ist kurz vor fünf.

Der Raum ist etwas abgedunkelt, so wie es Christóbal zu Hause am liebsten hat.

Doch in diesem Moment bekommt der Spanier sowieso nichts von seiner Umgebung mit. Er sitzt mit geschlossenen Augen in seinem Stuhl, während sich sein Geist in einem anderen Wann und Wo befindet.

Dr. Holger Bürck dagegen ist sowohl physisch als auch psychisch anwesend. Er lehnt an der Wand des Wohnzimmers und beobachtet lächelnd seinen Patienten. Nicht mehr lange. Dann ist es beendet. Das Lächeln wird breiter.

Plötzlich wird die Stille von einem knackenden Schloss unterbrochen. Es ist Wächtler der die Eingangstür öffnet und das geräumige Haus von Mendez betritt.

Bürck dreht sich in Richtung des Geräusches, lauscht und wartet darauf, wer im nächsten Moment das Wohnzimmer betritt.

Zögerlich wird die Klinke nach unten gedrückt, die Tür anschließend langsam aufgeschoben. Wächtler betritt den Raum. Er überfliegt kurz mit seinen Augen das Zimmer, bis er sich zurückhaltend an Bürck wendet, der ihm jetzt gegenüber steht. "Guten Tag."

Der Psychologe lächelt wieder. "Hallo. Welch Überraschung Sie hier zu sehen. Eine spontane Visite?"

Wächtler schüttelt den Kopf. "Nein. Ich habe nämlich bereits erwartet gehabt Sie hier zu finden."

Bürck antwortet in einem äußerst sarkastischen Tonfall: "Mich hier? Aber wieso denn? Warum Herr Wächtler? Warum haben Sie das denn gedacht?"

Der Arzt zieht schmollend die Lippe nach oben, sagt aber nichts.

Stattdessen spricht der Psychologe weiter: "Also wollten Sie zu mir und gar nicht zu Ihrem Patienten?"

"Ganz genau."

"Und womit habe ich diese große Ehre verdient?"

"Ich möchte von ihnen wissen, was hier vor sich geht!"

Bürck beginnt zu grinsen. "Was soll den hier vorgehen? Irgendwelche Anschuldigungen gegen mich, Her Doktor?"

Der Arzt scheint gerade damit zu ringen seine Wut zu unterdrücken. "Allerdings. Sie haben Herrn Mendez unter anderem Halluzinogene verabreicht. Oder wollen Sie das leugnen?"

Bürcks Grinsen wird breiter. "Nein. Das will ich nicht leugnen. Sie haben vollkommen Recht."

Albert Wächtler, der etwas irritiert ist von dieser plötzlichen Offenheit, gerät kurz aus dem Konzept. "Was? Dann... " Einen Augenblick später hat er sich wieder gefangen: "Warum?"

Der Psychologe seufzt, als wäre das offensichtlich. "Ach, nur ein Experiment. Aber ein großes Experiment!"

"Was denn für ein Experiment?"

"Nicht so forsch! Sie wollen mich doch nicht verschrecken. Ich bin ein scheues Reh. Eines nach dem anderen. Sie dürfen nochmal fragen."

Wächtler beißt seine Zähne fest aufeinander und zischt zwischen diesen hervor: "Lassen Sie es, mich zu veralbern. Ich bin kein Idiot, auch wenn Sie das von mir denken."

"Aber nicht doch! Sie sind kein Idiot. Allein das Sie hier sind ist bemerkenswert."

Der Arzt wirft Bürck noch immer einen wütenden Blick zu. "Also?"

Der Psychologe nickt lächelnd. "Also gut. Erinnern Sie sich an dieses Mondphänomen vor ein paar Monaten? Die Presse hatte kurz berichtet. Irgendwas mit Kernschatten oder so."

Albert Wächtler schüttelt den Kopf. "Nein."

"Nein? Na gut. Auch egal. Auf jeden Fall hat es in dieser Nacht begonnen. Reiner Zufall. Im Grunde genommen war geplant einen kontrollierten Schlaganfall bei einer Testperson hervorzurufen. Das ist uns ja auch ziemlich gut gelungen. Dazu auch die Chlamydien - es sollte möglichst ‘natürlich‘ aussehen. Und dazu natürlich einige bewußtseinserweiternde Drogen..."

"Ich verstehe kein Wort."

"Gut. Dann von vorn. Zur Zeit läuft das sogenannte ‘Schmetterlings‘ Projekt. Bei einer Testperson werden gezielt bestimmte motorische Funktionen ausgeschaltet. Das haben wir mit Hilfe eines starken Schlaganfalls realisiert. Dieser erste Teil dient eigentlich nur dazu um die Testperson zugänglicher für die weitere Behandlung zu machen. Wir erreichen etwas, was wir als ‘Umkehrung der Entwicklung des Schmetterlings‘ bezeichnen. Man nehme also diese Testperson und sorge dafür, dass sich, wie in unserem Fall, ein angesehener Universitätsprofessor, erfolgreicher Forscher – das symbolisiert die Perfektion des Schmetterlings – immer weiter zurück entwickelt zu etwas... Abstoßendem, Schleimigem, Kriecherischem... Sie wissen was ich meine, Sie kennen ja Mendez selbst."

Wächtler kann nur erneut mit dem Kopf schütteln. "Ich habe keine Ahnung was Sie meinen."

"Vielleicht verstehen Sie, wenn ich fort fahre. Diese rein körperliche Rückentwicklung reicht im allgemeinen natürlich noch nicht aus um auch eine mentale Rückentwicklung zu erreichen. Deswegen besteht das Schmetterlingsprojekt desweiteren darin, auch eine geistige Entwicklung zu veranlassen. Diese erfolgt durch etwas, was wir als ‘erzwungene Schizophrenie‘ bezeichnen. Oder einfach: wir pumpen ihn soweit mit Drogen voll, bis sich eine zweite Persönlichkeit in ihm bildet. Wir wollen aber nicht irgendeine Persönlichkeit in ihm. Wir haben spezielle Anforderungen. Die Persönlichkeit muss bereits real existiert haben und sie muss eine ähnliche Schmetterlingsentwicklung durchgemacht haben. Das ist allerdings ein schwieriger Prozess. Als erstes benötigt man eine geeignete Testperson, ein Schmetterling, der noch dazu das Wissen über das Leben zahlreicher Menschen in sich trägt. Dann ist die Wahrscheinlichkeit am Größten, dass einer dieser Menschen das von uns geforderte Potential für eine zweite Persönlichkeit mit sich bringt. Und wer ist dann für eine solche Testperson prädestinierter als eine Geschichtsprofessor, so wie Herr Mendez es einer ist?

Ich fasse zusammen: Wie setzen Christóbal Mendez über ein paar Tage hinweg kleineren ‘Staubwolken‘ und eines Nachts einer größeren aus. Diese tragen einerseits die Chlamydien und andererseits die Halluzinogene in sich. Er ist jetzt gelähmt und meint in seinen Träumen jemand anderer zu sein. Dieser andere macht nun langsam eine Entwicklung durch – die Umkehrung des Schmetterlings. Wir beeinflussen Mendez so, dass er nicht mehr weiß, wer er wirklich ist. Ergo: Die Entwicklung seiner zweiten Persönlichkeit überträgt sich nun auch auf seine erste, eigentliche Persönlichkeit. Er vollzieht nun also auch selbst den Schmetterlingsprozess. Dabei diente das Außer-Kraft-Setzen einiger Körperfunktionen nur dazu, um den Hauptprozess etwas einfacher zu gestalten für uns. So haben wir ihn hier unter Kontrolle, er verlässt nicht sein Haus, ist deprimiert und will sterben - die Grundlage in mental möglichst effektiv zu beeinflussen ist gegeben."

Wächtler starrt seinen Gegenüber fassungslos an: "Sie sind krank!"

Bürck lacht nur kurz ohne etwas darauf zu erwidern.

Wächtler fühlt sich plötzlich müde und etwas schwindelig, dann schüttelt er das Gefühl wieder ab. "Großer Gott." Der Arzt fährt sich durch das Gesicht und wendet sich dann erneut an den Psychologen: "Wer ist er? Was ist seine zweite Persönlichkeit? Wer glaubt Herr Mendez zu sein?"

Bürck antwortet fast stolz: "Er ist Christoph Kolumbus! Toll nicht war?"

Wächtler schüttelt erneut den Kopf. "Woher wissen Sie das? Ich meine, er ist ein...", der Arzt sucht nach dem richtigen Wort, findet es sogleich und nutzt es widerstrebend: " ein Scheusal. Auf seine Art meine ich natürlich. Ich meine, er kann nichts dafür. Es ist doch... Er... Er lässt niemanden an sich heran. Erzählen Sie mir nicht, dass es bei Ihnen anders ist. Er haßt Sie doch genauso. Niemals hat er es Ihnen erzählt. Woher wissen Sie also? Und genauso: diese Beeinflussung von der Sie geredet haben. Ihn zu überzeugen, sein anderes Ich sei genauso real – wie haben Sie das angestellt?"

Der Psychologe lächelt. Wie schön. Jetzt wird er langsam nervös. Die ganze Sache überlastet wohl gerade Wächtlers naiven kleinen Verstand. Ohne jedoch auf diesen Gedanken einzugehen antwortet Bück anerkennend: "Ja, eine sehr gute Frage! Ich gebe zu er war wirklich nicht besonders kooperativ mit mir. Die Sache war deshalb nicht besonders einfach. Wir haben uns hier einem kleinen Trick bedient. Angst führt zum Erfolg. Wir haben für ihn über die Halluzinogene Angstcharaktere erzeugt. Das heißt, er hat jeden Tag Besuch von etwas bekommen, vor dessen Verkörperung er Angst hat. Wahrscheinlich hat sein Geist irgend eine Art indianische Eingeborene erschaffen, die ihn heimsuchen. Genau weiß ich es nicht, dass kam nie genau rüber. Auf jeden Fall haben ihn diese Geister, die wir erschaffen haben und denen Mendez selbst ein Gesicht gegeben hat, die Rolle der Einflußperson übernommen. Er hat geglaubt ausgefragt worden zu sein, obwohl niemand hier war. Und er hat zunehmend daran gezweifelt was wirklich ist und was nicht."

Das Schwindelgefühl kehrt zu Wächtler zurück. Er atmet tief durch und spricht dann wieder: "Wie sind Sie nun an die Informationen gekommen, wenn er sie nur imaginären Eingeborenen erzählt hat?"

Bürck deutet mit dem Finger in verschiedene Ecken des Wohnzimmers. Aufgrund der Abdunklung ist jedoch nichts zu entdecken. "Videoüberwachung. Das ganze Haus ist verkabelt und verwanzt. Wir haben jedes Gespräch aufgezeichnet. Die Entwicklung festgehalten."

Zum Schwindelgefühl gesellt sich nun auch noch Übelkeit. Wächtler stützt sich ab.

"Wir! Sie reden die ganze Zeit von einem ‘Wir‘. Es ist doch nicht etwa noch jemand außer Ihnen zu so etwas fähig?"

Bürcks Mundwinkel verziehen sich. "Alles werden auch Sie nicht erfahren."

Das Atmen fällt immer schwerer, die Umgebung verschwimmt. Wächtler reist sich erneut zusammen. "Warum erzählen Sie mir überhaupt alles?"

"Das merken Sie nicht? Ich verpasse Ihnen eine letzte Lektion: Unterschätzen Sie nie, aber auch nie eine andere Person. An diese Lektion wurde ich übrigens letztmals von Ihnen erinnert. In wenigen Minuten sind Sie tot. Ich dachte dann schinde ich vorher nochmal Eindruck." Während der letzten Worte zwinkert der Pschyologe Wächtler zu.

Der Arzt sinkt auf den Boden und bricht dort zusammen. Mühsam formt er: "Wie?"

Bürck tritt nach vorne und beginnt dann zu erklären. "Sie wissen doch: alles ist verkabelt hier. Überwachungskameras überall. Natürlich auch vor dem Haus. Ich habe Sie längst kommen sehen, bevor Sie das Haus betreten haben. Genug Zeit. Ich habe einfach mal darauf spekuliert was Sie wollten. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Und für solch einen Fall der Fälle habe ich natürlich immer etwas im petto. Ich habe die Türklinke mit Kontaktgift präpariert. Nach der Berührung kommt es zu einer schleichenden Vergiftung. Das Gift gelangt über die Haut ins Blut und lähmt dann die Atemwege. Und das beste: es ist nicht nachweisbar!"

Wächtler, der jetzt röchelnd am Boden kauert starrt den Psychologen mit großen Augen an.

Bürck grinst. "Und einen Entsorgungsplan für Sie gibt es auch schon."

Wächtler führt ein letztes Mal sein restliche Kraft zusammen. Leise und traurig keucht er: "Warum? Warum das Ganze? Nur um aus einem Mann ein dahinsiechendes Monster zu machen? Was ist der Sinn? Vom Schmetterling zur Raupe..."

Bürck kommt näher. "Sie verstehen immer noch nicht. Das Ziel ist doch nicht die Raupe. Das Experiment ist noch nicht beendet. Es gibt noch ein Stadium nach der Raupe! Das was wir wirklich wollen."

Wächtlers Kraft verschwindet. Er schließt die Augen. Und während sich die Dunkelheit schlussendlich langsam über seinen Geist legt, hört er als letztes die flüsternden Worte des Psychologen: "Das Ziel ist nicht die Raupe. Das Ziel ist das Ei! Das Ei!"

Ein Schmetterling durchläuft während seines Lebens vier Phasen.

Wie bei fast allen Insekten beginnt dieses Leben mit dem Ei.

Danach werden drei weitere Stadien des Umwandlungsprozesses durchlaufen, in denen der Schmetterling eine vollkommene Verwandlung durchmacht.

Vom Ei geht es über die Raupe, zur Puppe, bis hin zum Imago – dem fertigen Schmetterling.

Würde man sich nun diese Entwicklung im Zeitraffer rückwärts ansehen, so würde sich der perfekte Schmetterling als erstes verpuppen. Aus dieser Puppe würde dann irgendwann die Raupe schlüpfen, bis diese sich dann irgendwann in ihr Ei bis zum Lebensende zurückzieht.

Doch was ist dieses Ei dann?

Ein Körper ohne Geist oder doch eher ein Geist ohne Körper? – Wohl beides zu gleich!

Bürck durchwandert langsam das Zimmer und lässt den Arzt hinter sich. Er weiß, dass er jetzt Zeit hat. Warum hetzen? Das folgende kann er genießen. Lange hat er darauf gewartet. Nun wo Wächtler aus dem Weg geräumt ist und nur noch er Mendez zu Gesicht bekommen wird, kann er sich auch ein wenig bei Mendez für die Unannehmlichkeiten ‘bedanken‘, die dieser ihm in den vergangen Monaten bereitet hat. Der Psychologe hält ein kleines Skalpell in seiner rechten Hand und nähert sich damit langsam Christóbals Gesicht. Bürck grinst wieder.

Ja, jetzt kann der Spaß beginnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Phase Ei

 

Flankiert von ‘Links‘ und ‘Rechts‘, bewegt sich Mendez im Rollstuhl langsam durch einen langen, durch zahlreiche Neonröhren beleuchteten Korridor. Er lächelt und hebt fast unmerklich, seinen auf die Brust gesackten Kopf. Dabei wirft er kurze, verstohlene Blicke auf die beiden Schwarzen, die neben ihm her wandern. Erstmals glaubt Mendez nun auch, sie hätten zurück gelächelt. Ja! Warum auch nicht? Jetzt wo alles am rotieren ist.

Er lässt sein Kinn wieder ganz nach unten sacken und schließt die Augen. Der Spanier weiß genau, was als nächstes passieren soll und wird. Es ist nur noch eine Frage des ‘Wie‘. Aber das klärt sich noch. Ganz bestimmt. Jetzt ist er am Zug. Der Zirkel schließt sich.

Von all diesen Gedanken bekommt der Polizist jedoch, der Mendez gerade langsam durch die Station schiebt, nicht viel mit. Er hat wohl nicht einmal Mendez’s kurzes Lächeln bemerkt. Besser so.

Weitere Polizisten wandern nun im Korridor umher. Einer von ihnen kommt geradewegs auf den zu, der gerade dabei ist Mendez umher zu verfrachten.

"Lass ihn stehen. Wir haben die Psychologie verständigt. Die schicken gleich jemanden für den da." Dabei deutet er auf Mendez.

Der Schieber ist verwirrt. "Und wohin solange mit ihm? Ich kann ihn ja schlecht hier stehen lassen!"

"Mhm. Vielleicht eine freie Zelle. Zur Not passt du halt eine halbe Stunde auf ihn auf."

"Na toll. Warum ist niemand von den Ärzten geblieben?"

"Weil es nichts für sie zu tun gibt. Das ist nicht deren Aufgabe."

"Aber meine?" Der Schieber schüttelt den Kopf und fährt dann fort: "Okay. Aber dein Papierkram!"

"Natürlich."

Dann ist das Gespräch beendet und Mendez wird wieder in Bewegung gesetzt.

 

 

"Ich habe was!" Die Stimme klingt aufgeregt. "Ich habe einen Puls."

"Sehr gut. Laßt ihn jetzt bloß nicht wieder wegsacken."

Drei Notärzte und zwei Sanitäter schwirren im Hinterteil des Krankenwagens herum.

"Sein Zustand stabilisiert sich leicht."

Ein Sanitäter hält eine Infusion über dem leblosen Körper und beobachtet dabei das Treiben im Fahrzeug. Auch er weiß, dass hier wohl gerade ein Wunder geschehen ist.

Niemand hatte noch wirklich daran geglaubt, dass der Mann noch zu retten sei.

"Ich glaube er kommt zu sich."

Unter großer Anstrengung versucht Wächtler seine Augen zu öffnen, scheitert aber letztendlich.

Ein Arzt fast ihn an der Schulter: "Ruhig Albert. Alles in Ordnung. Wir haben dich stabil und wollen dass das auch so bleibt."

Wächtler versucht etwas zu sagen, merkt aber schnell, dass das momentan noch schwieriger ist, als die Augen zu öffnen.

Der Notarzt spritzt eine kleine Dosis eines Sedativs in den Schlauch der Infusion, die direkt in Wächtlers Handgelenk führt. "Ruhig."

Und diesmal bleibt Wächtler ruhig.

Mehrere Stunden sind verstrichen. Albert Wächtler, wieder vollständig bei Bewußtsein und ansprechbar, liegt in einem weißen Krankenhausbett auf der Intensivstation.

Er atmet durch. Ein gutes Gefühl, wenn man es wieder kann. Kein gutes Gefühl, wenn man glaubt zu erstickten.

Der Notarzt aus dem Rettungsfahrzeug betritt vorsichtig das Einzelzimmer des Krankenhauses und wendet sich lächelnd an Wächtler. "Wie geht’s?"

Dieser lächelt zurück: "Echt nicht gut."

"Ich weiß nicht ob ich dir gratulieren soll für deine Brillanz oder dir eine rein Hauen soll für deine Dummheit! Was war es? Mut? Größenwahn? Oder doch nur Blödheit?"

Wächtler schnieft ein Grunzen durch seine Nase. "Wohl alles zusammen. Bin mir jeder Schuld bewußt."

"Du hättest dich beinah verkalkuliert, weißt du das?"

"Wie knapp war es?"

"Eine Minute später und du wärst mit ziemlicher Sicherheit tot. Du kannst dich bei diesem Laboranten, Karsten, bedanken."

"Lass mich raten, er hat sich nicht daran gehalten, was ich ihm gesagt habe?"

"Was hast du ihm denn gesagt? Dass er die Polizei eine drei viertel Stunde nach dem ihr miteinander gesprochen hattet verständigen soll? Wozu?"

"Ich wollte erst einmal allein mit Bürck reden. Um zu schauen, was er so über seine Beweggründe verrät. Nach dem genügend Zeit verstrichen war, sollte Karsten, dem ich erzählt habe, was ich vermute, die Polizei rufen. Damit sie dann eintrifft und Bürck verhaftet."

Der Notarzt schütttelt den Kopf. "Was für eine dämliche Idee. Du bist manchmal wirklich naiv. Was hast du gedacht würde Bürck tun, nachdem du ihn bloß stellst? Dir gratulieren und dich zu einem Stück Himbeertorte einladen?"

"Nein, das nicht, aber..."

"Meintest du dir verrät er mehr als der Polizei?"

"Normalerweise nicht und deshalb war es wohl auch nicht so clever. Aber rückblickend vielleicht ja, da er ja dachte ich würde sterben und da wäre es egal, was ich weiß."

"Dann wäre es aber dämlich von ihm gewesen uns nach der Festnahme durch die Polizei zu verraten, was er dir verabreicht hat!"

Wächtler ist offensichtlich erstaunt. "Das hat er?"

"Hatte wohl keine Lust auch noch wegen Mordes angeklagt zu werden. Jedenfalls wärst du ohne ihn ebenfalls tot."

"Was hat er den Polizisten denn alles verraten?"

Der Notarzt lacht laut auf: "Keine Ahnung. Das werden die mir sicherlich nicht auf die Nase binden. Aber ich denke, dass sie heute nochmal bei dir vorbeischauen werden um mit dir zu reden. Zu schauen was du weißt und ob sich deine Geschichte mit Bürcks deckt."

Wächtler nickt. "Und wieviel zu früh hat Karsten nun eigentlich die Polizei verständigt?"

"Nach einer halben Stunde!"

Wächtler lacht schwach. "Eine viertel Stunde? Hey, das war aber viel zu früh."

"Viel zu früh? Genau richtig würde ich sagen um zwei Menschenleben zu retten. Sei etwas dankbarer, Albert!"

Wächtler ist irritiert: "Zwei?"

"Ja, deines und Mendez’s."

Wächtler starrt ungläubig zu dem Notarzt hinüber. "Er wollte Herrn Mendez umbringen?"

"Er war gerade mit einem Messer dabei, als die Polizei eingetroffen ist."

"Das glaube ich nicht, nicht nach dem was ich weiß. Das war irgendein psychologisches Experiment mit dem Spanier. Und er bringt nicht einfach so seine fast einjährige Forschungsarbeit um. Er hatte sicherlich etwas anderes mit dem Messer vor."

"Ist das wieder Naivität? Dich wollte er jedenfalls töten, oder willst du das auch bestreiten?"

"Du hättest erleben sollen, wie besessen er von diesem Experiment mit Herrn Mendez war. Ich denke ganz einfach, dass es ihm aus irgendeinem Grund so wichtig war, dass er es keinesfalls opfern wollte. Zumindest nicht wegen mir... aber das sind nur Vermutungen."

Der Notarzt macht eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was weiß ich. Spätestens wenn die Polizei hier klopft weißt du mehr."

Wächtler nickt.

"Aber eins noch Albert. Abgesehen von allen Vorwürfen, die ich dir machen kann: Du hast echt Mut bewiesen! Das hätte ich dir niemals zugetraut. Meinen Respekt."

Der Arzt lächelt verlegen. "Danke."

Das Verhör von Wächtler dauert circa 90 Minuten, bringt aber keine neuen Erkenntnisse für die Polizei. Wie es scheint hatte Bürck ihnen genauso viel verraten, wie er wußte, dass der wieder genesene Wächtler wissen würde. Also weder wer seine Komplizen sind, noch was das Ziel des Experiments ist.

 

 

 

Das Gemeinschaftszimmer, wie es vom Klinikpersonal genannt wird, ist äußerst geräumig und bietet daher den umherwandernden oder einfach nur stumm dasitzenden Patienten viel Platz. Viele beschäftigen sich mit sich selbst, andere spielen gemeinsam Gesellschaftsspiele und wieder andere, so wie Christóbal, sitzen einfach nur sabbernd und ins Leere starrend in ihren Stühlen. Seid 28 Tagen nun beheimatet die Psychiatrische Klinik schon ihren neusten Patienten: Mendez. Die erste Woche war er noch zeitweise ansprechbar. Zwar selten, aber er war es. Das Ganze liegt nun aber bereits drei Wochen zurück. Seit dem ist sein Zustand jedoch unverändert. Häufig ist er einfach nur weggetreten und liegt bewußtlos in seinem Rollstuhl oder im Bett. Die restliche Zeit ist er jedoch in einem anderen Zustand vorzufinden: Zwar nicht bewußtlos, aber auch nicht wirklich bei Bewußtsein. Mit leerem Tunnelblick und beinah regungslos sitzt er im Gemeinschaftsraum. Ein Bewegung seines nicht gelähmten rechten Armes ist äußerst selten und meistens nun kurz. Ansprechbar ist er nicht. Auf äußere Reize reagiert er nur schwach. Wenn man ihn füttert beginnt er zu kauen und zu schlucken, ähnlich läuft es beim Trinken. Für seine Geschäfte besitzt er eine Windel. Christóbal ist klar ein Pflegefall.

Wächtler bahnt sich seinen Weg durch die Patienten in Richtung Mendez. Das ist das zweite Mal, dass er dem Spanier einem Besuch abstattet. Er weiß selbst nicht warum, wahrscheinlich einfach nur, um ihn und seinen Zustand im Auge zu behalten. Um zu sehen, was möglicherweise noch passiert. Aber bis jetzt ist noch nichts passiert.

Der Arzt nimmt sich einen Stuhl, stellt diesen vor Mendez und setzt sich.

Eine Weile starrt Wächtler in Mendez’s ausdruckslose Auge und überlegt sich dabei, was wohl gerade im Geiste des Spaniers vorgeht. Ob überhaupt etwas vorgeht. Ab und zu blinzelt Mendez, jedesmal glaubt der Arzt aufs Neue, dass Christóbal plötzlich los quasseln würde, wie als wenn das Blinzeln den Übergang von dumpfer Bewußtlosigkeit in einen klaren Verstand signalisieren würde. Natürlich ist das nie der Fall.

Wächtler bemitleidet Mendez. Das Opfer eines Psychopathen.

Dass er beinah selbst Opfer des gleichen Psychopathen geworden wäre, hat er für den Moment verdrängt.

Wächtler seufzt und richtet sich an den nicht bei Verstand seienden Mendez: "Du bist ein echt arme Kerl, Christóbal. Tut mir leid, was mit dir passiert ist. Vielleicht kommst du ja irgendwann nochmal wieder zu Bewußtsein, ich würde zu gerne noch einmal mit reden."

Wie zu erwarten gibt es keine Reaktion seitens des Spaniers. Wächtler seufzt erneut.

Leise Gespräche sind nun im Raum zu hören. Der Arzt wendet sich und sieht einen Polizisten, der langsam auf ihn zu kommt. Wächtler erkennt ihn. Er hatte bereits ein paar Mal wegen der ganzen Sache mit ihm zu tun. Schwach erinnert er sich an seinen Namen: Malura oder so ähnlich. Zaghaft schaut Wächtler dabei zu, wie der Beamte auf ihn zu kommt. Ohne es wirklich wahrzunehmen ist der Arzt seit den letzten Ereignissen vorsichtiger im Umgang mit Menschen geworden.

Der Polizist steht nun direkt vor ihm. "Ich grüße Sie, Dr. Wächtler."

Der Arzt lächelt. "Guten Tag. Womit kann ich Ihnen helfen?"

"Man hat mir gesagt ich würde Sie hier finden. Es geht um Herrn Bürck." Der Polizist seufzt und fügt dann hinzu: "Um was sonst."

Wächtler nickt. "Hat er etwas Neues gesagt?"

"Noch nicht, aber er signalisiert Bereitschaft. Zumindest teilweise."

"Ist das gut?"

Malura lächelt schwach. "Zumindest nicht schlecht."

"Was verrät er denn?"

Der Polizist zuckt mit den Schultern. "Naja, Chancen dass er uns verrät, wer seine Partner sind, stehen äußerst schlecht. Darüber bekommen wir nichts raus. Vermutlich hat er Angst. Irgendwelche Leute in höheren Positionen. Vielleicht Mafia oder so. keine Ahnung."

Wächtler nickt. "Aber dafür verrät er etwas anderes?"

"Ich hoffe. Es ist so: Herr Bürck erkundigt sich ständig nach der Verfassung von Herrn Mendez. Wir geben ihm die Informationen, aber von dem was er hört, scheint nicht besonders zufrieden zu sein. Um genau zu sein: seitdem er weiß, dass Mendez nur noch vor sich hin vegetiert ist er ziemlich durcheinander. Scheint jedenfalls nicht nach seinem Plan zu verlaufen. Er will ihn unbedingt nochmal sehen."

"Herr Bürck will Mendez sehen? Das wird doch hoffentlich verhindert."

"Darum geht es. Wenn wir ihn nochmal – unter polizeilicher Aufsicht natürlich – noch einmal zu seinem ehemaligen Patienten lassen, verspricht er über das Ziel des Experiments zu reden. Dieser Deal ist aber nicht besonders einfach. Aus ermittlungstechnischer Sicht ist seine Information nämlich nicht sonderlich wertvoll. Es interessiert kaum jemanden, was er nun genau vorhatte, solange bekannt ist, was er getan hat und wie er es getan hat. Das Risiko dagegen die beiden nochmal zusammen zu führen ist äußerst hoch."

Wächtler runzelt die Stirn. "Ich verstehe nicht. Also doch kein Deal?"

"Doch wie es im Moment aussieht schon. Es gibt ein Ringen bei den Verantwortlichen und wohl einen Haufen Papierkram, aber letztendlich ist davon auszugehen, dass wir einwilligen."

"Dann ist doch alles in Ordnung. Aber was habe ich jetzt damit zu tun?"

Der Polizist räuspert sich. "Naja, die Forderung von Bürck besteht noch aus einem weiterem Punkt: er will nur mit Ihnen darüber sprechen. Warum sagt er nicht."

Wächtler wirkt konfus. "Nur mit mir? Wieso?"

"Wie gesagt: keine Ahnung. Würden Sie denn überhaupt mit ihm reden oder nicht? Ich würde voll und ganz verstehen wenn Sie in Anbetracht..."

Der Arzt unterbricht ihn, noch bevor er zu Ende sprechen kann. "Nein, nein. Schon in Ordnung. Ich rede mit ihm. Mich interessiert schließlich auch, worum es sich nun genau beim ‘Ei‘ handelt."

Der Polizist nickt. "Das freut mich."

 

 

Eine Dünne Trennwand mit Sprechschlitzen separiert Wächtler und Bürck.

Die Begrüßung war wie zu erwarten nicht besonders herzlich, aber für den Moment verdrängt Wächtler seine persönlichen Hassgefühle gegen den Psychologen.

Der Arzt atmet durch. "Also warum bin ich hier?"

Bürck grinst – oh wie Wächtler dieses Grinsen haßt – und beginnt dann zu erklären: "Das ist eine kleine Belohnung für Ihre Brillianz. Sie sind schließlich dahinter gekommen, dass etwas nicht mit Rechten Dingen zugeht."

Wächtler grunzt. "Um ehrlich zu sein, fand ich es nicht sonderlich schwer, Dr. Bürck. Eigentlich sollten Sie mich nicht noch dafür belohnen, dass ich Ihnen offensichtlich Ihr ganzes schönes Experiment verdorben habe."

"Oh, ich schätze es Niederlagen einzustecken, wenn sie verdient sind. Sie haben mich ausgetrickst. Mit der Polizei habe ich nicht mehr gerechnet. Ich habe Sie noch einmal unterschätzt. Zweimal. Einmal zuviel."

"Also bin ich hier, weil Sie mir einen Gefallen tun wollen?"

Bürck zuckt mit den Schultern. "Wenn man so will: ja! Ich glaube nicht, dass Sie die Informationen die ich heute Preis gebe sonst von irgendwem von der Polizei erhalten hätten. Nicht als ‘Außenstehender‘. Und das obwohl Sie wahrscheinlich die Person sind, die es am meisten interessiert. Das ist meine kleine Anerkennung an Ihre Leistung."

Wächtler schüttelt den Kopf. "Sie sind derjenige, der in die Psychiatrie gehört."

Bürck lacht laut auf. "Das mag ich so an Ihnen. Ihre gute Beobachtungsgabe."

"Also fangen Sie an. Warum wollen Sie nochmal einmal zu Herrn Mendez?"

"Alles zu seiner Zeit. Zuerst stellt sich eine andere Frage."

Der Arzt nickt. "Sie haben Recht. Also: Was haben Sie beabsichtigt? Einen Mann zu einem sabbernden Idioten zu machen, der nicht mehr klar denken kann?"

"Natürlich nicht. Zu was wäre das gut? Außerdem könnte ich das einfacher haben. Nein. Das ganze ‘Schmetterlingsprogramm‘ ist auf eine einzige Sache ausgerichtet: Möglichst effektiv eine zweite Persönlichkeit zu erzeugen, die jedoch nur im Geiste der Versuchsperson existiert, nicht jedoch, dass ist sehr wichtig, während die Person ‘wach‘ ist. Diese zweite Person soll möglichst schnell die Überhand gewinnen und die erste Person komplett ‘ablösen‘."

Wächtler kratzt sich am Kinn. "Ich verstehe glaube ich nicht ganz. Was meinen Sie mit ablösen?"

"Person eins komplett zu eliminieren. Mendez lebt nur noch das Leben von Person zwei. Und das im Geiste."

"Er ist also ständig in diesem Koma ähnlichen Zustand und lebt im Geiste während dieser Zeit das Leben eines anderen?"

"Bingo. Ganz genau."

"Dann muss ich Sie enttäuschen. Zur Zeit sabbert er hauptsächlich und starrt ins Leere."

"Und genau das ist mein Problem. Das passt überhaupt nicht ins Schema. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder er regeneriert sich langsam, da er nicht mehr den von mir verabreichten Cocktail bekommt. Das heißt: zumindest aber würde sich sein Zustand nicht mehr verschlechtern im Gegensatz zu der Verfassung, in der er vor drei Wochen war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Dort war er nämlich, zumindest zeitweise, vollkommen ansprechbar. Die zweite Möglichkeit wäre die, dass das Experiment zu jenem Zeitpunkt vor drei Wochen so weit fortgeschritten war, dass die letzte Phase sich automatisch eingeleitet hat. Also seine erste Persönlichkeit komplett getötet wurde. Dann wäre er aber, wie Sie es so schön ausdrücken, im Dauerkoma. Er ist aber weder in Zustand eins noch ins Zustand zwei. Seine erste Persönlichkeit wurde irgendwie degeneriert. Ist einfach verblödet. Dafür gibt es aber keinen erkennbaren Grund. Ich muss deshalb raus finden wieso. Unbedingt."

Wächtler blickt ernst durch die Trennscheibe. "Aber warum? Was nützt Ihnen das? Sie sitzen hinter Gittern?"

Bürck grinst plötzlich über beide Backen: "Aber nicht für immer. In ein paar Jahren bin ich hier wieder raus. Schließlich bin ich ja kein Mörder."

Wächtler hat große Mühe in dem Moment, wo er begreift, seine Wut zu unterdrücken. "Das ist es! Deshalb haben Sie mich auch nicht sterben lassen! Haben denen verraten welches Gift in mir ist. Damit Sie nicht wegen Mordes angeklagt werden können und Ihr ... Ihr blödes Experiment nicht umsonst war. Um irgendwann wieder raus zu kommen und Ihre kranken Phantasien möglicherweise ganz zu verwirklichen."

Bürck grinst. "Ganz genau. Sie sind in der Tat ein Genie!"

"Sie widern mich an."

"Das habe ich fast erwartet."

Wächtler schluckt eine weitere Bemerkung herunter und besinnt sich wieder darauf, warum er hier ist. "Okay. Was hat es nun mit dem ‘Ei‘ auf sich? Warum dieser ganze Psychokram?"

"Sehr gut." Bürck nickt befriedigt, "endlich kommen wir zur Sache.

Also gut. Angenommen, wir hätten erreicht was wir wollten. Die Persönlichkeit Christóbal Mendez ist tot. Naja, vielleicht nicht tot, nur abgeschaltet. Die zweite Persönlichkeit, Christoph Kolumbus, ist stets präsent. Unser Spanier bildet sich also ein, ein großer Entdecker zu sein, lebt dies aber nur im Geiste aus. Die Zeit vergeht. Auch wenn seine zweite Persönlichkeit nur in Gedanken existiert, entwickelt sie sich trotzdem weiter. Das haben auch meine bisherigen Untersuchungen bestätigt. Der geistige Kolumbus wir also älter, erlebt chronologisch verschiedene Höhepunkte seines Lebens und so weiter. Allerdings beruht dieses Leben nur auf den Informationen, die ein gewisser Mendez irgendwo in seinem Kopf abgespeichert hat. Kann also überhaupt nicht jede Minute, jeden Moment von Kolumbus‘s wirklichen Leben kennen und erfassen. Ergo: Das Leben was Mendez im Geiste durchlebt ist drastisch zusammen gekürzt, läuft also wesentlich schneller ab, als die Realität. Was nun wenn das ‘Band‘ in seinem Kopf zu Ende ist. Sprich keine Informationen mehr über Kolumbus zur Verfügung stehen? Dann wird das Szenario von Kolumbus’s Tod abgespielt, so wie Mendez glaubt, dass es statt gefunden hat. Was meinen Sie nun was dann passiert? Wenn nun auch noch die zweite Persönlichkeit stirbt?"

Wächtler überlegt und schaut dabei Bürck ernst an. Nach einem Moment antwortet er: "Keine Ahnung. Vermutlich stirbt Mendez jetzt wirklich. Also sein Körper auch."

"Falsch. Zumindest bin ich mir sehr sicher, dass es falsch ist. Ich spekuliere auf etwas anderes. Die erste Persönlichkeit ist abgeschaltet. Der Verstand bildet sich ein er wäre Kolumbus, diese Persönlichkeit hat aber eigentlich nie wirklich existiert. Wenn diese, eingebildete Persönlichkeit nun stirbt, dann ist der darauf folgende Tod ebenfalls nur eingebildet. Das ist wie mit Leuten, die sich aufgrund eines Traumas einbilden Blind zu sein. Biologisch arbeitet alles wie gewohnt weiter, aber sehen tun sie trotzdem nichts. Weil das Gehirn ihnen sagt: Du bist blind! Davon gibt es einige dokumentierte Fälle.

Ein weites Beispiel sind Menschen, die immer noch ihre Gliedmaßen spüren, die sie schon längst bei Unfällen verloren haben. Ebenfalls ein Trauma sorgt dafür, dass das Gehirn eine andere Information an seinen Körper vermittelt. Der Sieg der Psyche über den Körper.

Genau das hoffen wir hier zu haben. Ein rohes Ei, wenn man so will: Ein Körper, dessen Gehirn noch hundertprozentig intakt ist, es aber selbst nicht merkt. Es blockiert Gedanken und Reize und das obwohl es noch völlig funktioniert."

"Zu was soll das gut sein? Das haben wir doch auch bei einem Komapatienten. Eine Person, die biologisch zwar noch lebt, aber geistig tot ist. Töten Sie Nervenzellen dann haben Sie den gleichen Effekt. Warum das Ganze? Warum der Aufwand?"

Bürck springt nun beinah auf, ist geradezu euphorisch. "Verstehen Sie es doch! Gerade so ist es nicht. Wir haben keine Zellen abgetötet um das Gehirn abzuschalten, denn das wäre irreparabel. Wir haben, das Gehirn dazu veranlasst jegliche gesammelten Information zu isolieren! Zu isolieren, nicht zu löschen! Löschen können wir nicht. Löschen tötet das Gehirn! Noch dazu ist der Verstand immer noch intakt, dass heißt, wir können ihn von außen jeder Zeit ganz, oder phasenweise reaktivieren. Nicht die isolierten Informationen!, die hat das Gehirn weggeschlossen, auch für uns. Aber den Verstand, die Fähigkeit zu denken, die können wir reaktivieren. Verstehen Sie jetzt?"

Das Begreifen kommt schlagartig. "Sie meinen so etwas wie Neuprogrammierung? Den Verstand neu anzulernen und ihm eine neue Identität verpassen?"

"Ja. Ganz genau. Wie einem Kind alles von Neuem beibringen. Nur das die Vorgänge im Gehirn etwas anders ablaufen. Bei Kindern werden neue Informationen frisch abgespeichert, bei unseren Kandidaten werden einfach die entsprechenden Abschnitte im Gehirn von ihrer Isolierung befreit. Was aber im Endeffekt einem neu Abspeichern gleich kommt. Erkennen Sie die unglaublichen Möglichkeiten die damit zur Verfügung stehen?"

Wächtler ist fassungslos. "Ich will es gar nicht erkennen. Sie könnten den Verstand von jeglichen Personen nach Belieben manipulieren! Wichtige Menschen ersetzen, neu programmieren und sie dann machen lassen, was Sie wollen. In der Politik..."

Bürck winkt ab. "Nun hören Sie auf. Keine Paranoia. Mir geht es nicht um politische Verschwörungen oder so etwas. Viel grundlegender Dinge stehen für mich im Vordergrund. Was ist mit einem Kind mit einer traumatischen Kindheit, zum Beispiel einem ständig sexuell missbrauchten Mädchen. Es wird nie ein normales Leben führen können, egal was passiert. Ständig am Rand von Selbstmord und tiefen Depressionen. Glauben Sie mir, davon hatte ich einige Fälle. Jetzt haben wir jedoch die Möglichkeit, all diese Informationen in einem frühen Alter zu isolieren und ihr damit die Möglichkeit zu geben ein komplett neues Leben zu beginnen!"

"Aber dann ist alles gelöscht! Auch die positiven Ereignisse in einer solchen Kindheit!"

"Das ist richtig. Aber ist es das nicht Wert? Dafür wird sie in der Lage sein ein normales Leben zu führen. Wir geben ihr eine neue Identität!"

"Was weiter? Wo sehen Sie noch Ihre Anwendungsmöglichkeiten?"

"Zum Beispiel bei Schwerverbrechern, die lebenslängliche Haftstrafen absitzen müssen oder Kandidaten in der Todeszelle. Wenn man ihre Gehirne säubert, kann man sie neu integrieren. Der geistige Schwerverbrecher wird damit getötet. Es gibt so viele Möglichkeiten!"

Wächtler schüttelt entsetzt den Kopf. "Und was unterscheidet Ihr Verfahren von einer anderen Art der Gehirnwäsche?"

"Die Effektivität! Keine Art von Gehirnwäsche schafft es einen ganzen Verstand lahm zu legen. Phasenweise ist das natürlich möglich. Jemanden neue Ansichten zur vermitteln, Gedächtnislücken zu erzeugen, aber doch nicht in dem Umfang!!! Jemanden die Möglichkeit geben ein vollständig neues Leben zu beginnen ist etwas, was bis jetzt nicht realisierbar ist mit herkömmlichen Methoden zur Gehirnwäsche. Vor allem können wir sicher gehen, dass die alten Erinnerungen und Erfahrungen nicht plötzlich wieder aufbrechen. Wir können Menschen nach belieben eine Vergangenheit verpassen und sie von dort an neu starten lassen. Das alles ist möglich mit einem Gehirn, was wir selbst programmieren können."

"Und was hatten Sie noch mit Mendez vor? Ihm auch eine neue Identität verpassen? ... Das wäre dann wohl seine dritte gewesen."

Bürck zuckt mit den Achseln. "Um ehrlich zu sein: vorerst nichts. Vielleicht später, aber im Moment sind wir noch nicht weit genug, um den Verstand auch wirklich gezielt zu verändern. Das wird wohl auch noch einige Jahre dauern. Bei Mendez ging es nur darum, ob wir überhaupt diesen Rohzustand des Gehirnes erreichen können. Schließlich ist der Grundlage aller Theorie. Alle weitere Forschung macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir die ‘Ei-Phase‘ gar nicht erreichen können."

Wächtlers Augen weiten sich. "Großer Gott! Dann war ja bei Mendez alles umsonst. Sie haben ihn mental hingerichtet ohne zu planen, dass ganze wieder rückgängig zu machen oder zu verändern."

"Bauernopfer. Ganz richtig."

"Sie sind ein eiskalter Psychopath!"

"Über Mittel und Wege lässt sich stets streiten Dr. Wächtler."

Der Arzt ist noch immer fassungslos. "Und wie gedenken Sie, dass man bei Menschen stets diesen Ei-Zustand, wie Sie ihn nennen, erzeugen kann? Wollen Sie bei einem sieben-jährigen Mädchen Schlaganfälle auslösen, bis es fast vollständig gelähmt ist?"

"Das nun wirklich nicht, nein. Mit der Zeit werden sich weitere, bessere Verfahren entwickeln lassen, die mit weniger Aufwand und geringeren Nebeneffekten den selben Status bei dem Patienten erzielen. Das war doch nur der erste Versuch! Der der am sichersten und einfachsten zum Ziel geführt hätte. Das erste Experiment in diese Richtung. Wir brauchten doch erst einmal eine Grundlage und die sollte hier geschaffen werden."

Wächtler atmet tief ein. Wut hackt wie ein fleißiger Specht in seinem Hinterkopf.

"War das alles? Das verbirgt sich hinter der ‘Umkehrung des Schmetterlings‘?"

"Ja. Genial, nicht?"

"Mir würden viele Begriffe dazu einfallen, aber keiner davon wäre genial."

Wächtler holt erneut tief Luft um sich zu beruhigen, dann fährt er fort: "Also, ich habe keine Fragen mehr und da Sie auch nichts mehr zu sagen haben, ist mein Part hier wohl beendet. Bevor ich noch explodiere gehe ich besser. Ich wünsche Ihnen einen gescheiterten Versuch und dass Sie ewig hinter Gittern bleiben, aber davon ist leider nicht auszugehen. Ich hoffe Sie nie wieder sehen zu müssen."

Der Arzt erhebt sich und geht, während ihm Bürck lachend, noch etwas hinter her ruft: "Auch ihnen noch einen schönen Tag!"

 

 

Der Gemeinschaftsraum der Psychiatrischen Klinik wurde leer geräumt. Alle Patienten auf ihre Zimmer verband. Der einzige, der heute eine Ausnahme darstellt ist Mendez. Er sitzt ins Nichts gaffend in der Mitte des Zimmers in seinem Rollstuhl.

Bürck wird, begleitet von zwei Polizisten, in den Raum hinein geführt. Sie bleiben am Eingang stehen und beobachten, wie der Psychologe nun langsam auf den Spanier zu steuert.

Dort angekommen kniet sich Bürck vor Mendez und starrt ihm in seine leeren Augen.

Der Psychologe fährt sich mit der rechten Hand durchs Gesicht und beugt sich dann näher an Mendez. Leiste flüstert er. "Hallo Christóbal, wenn du mich irgendwie hören kannst, dann zwinkere zweimal kurz mit deinen Augen."

Keine Reaktion. Mendez blinzelt überhaupt nicht.

Bürck seufzt. Systematisch sucht er das Gesicht von Mendez nach Anzeichen ab, die daraufhin deuten könnten, dass irgendwo unter dieser leblosen Hülle noch ein arbeitender Verstand liegt. Er findet keine.

Während Bürck darüber nachdenkt, was als nächstes zu tun ist, fixiert sich plötzlich, der bis vor wenigen Sekunden noch leere Blick Mendez’s. Die Augen erwachen zum Leben. Dann der Mund. Mendez grinst. Leiste flüstert er: "Hallo Doktor. Wieder mal auf Visite?"

Bürck ist wie vom Schlag getroffen. Zu groß ist die Überraschung von über diese unerwartete Reaktion. Es ist das erste Mal seit langem, dass ihm die Wort fehlen.

Den Polizisten scheint egal zu sein, dass ein für mental tot Erklärter, plötzlich wieder zum Leben erwacht ist. Sie beobachten kritisch weiterhin nur Bürck.

Mendez verdreht die Augen. Erst schielt er, dann lässt er beide Augen gleichzeitig nach Außen schweifen wie ein Chamäleon. "War das ein Zwinkern Herr Bürck? Na?"

Der Psychologe ist immer noch perplex. "Ich... Wie geht es Ihnen Christóbal?"

"Naja, den Umständen entsprechend scheiße. Ziemlich schwierig wochenlang den Idioten zu spielen..."

Bürck scheint jetzt noch mehr durcheinander. "Was...? Ich verstehe nicht. Wie...?"

Mendez krächzt ein lautes Lachen heraus. "Na wie wäre erst einmal mit einer Anerkennung an meine tolle schauspielerische Leistung?"

"Wie...? Wann haben Sie..."

Mendez krächzt nun noch lauter. "Wie schön. Jetzt habe ich Sie auch mal überrascht. Die ganze Zeit haben Sie mich überrascht und jetzt durfte ich auch mal. Aber um es vorweg zu schicken: ich fand es nicht besonders nett, was Sie mir angetan haben. Die Lähmung, mein Gehirn verknotet... das geht an die Substanz!"

"Woher wissen Sie das?"

"Vielleicht sollten Sie in Zukunft sicher gehen, ob ich wirklich weg bin oder nur spiele. Vor circa drei Wochen haben Sie Dr. Wächtler doch diesen tollen Vortrag gehalten. Über das, was Sie mit mir angestellt haben. Ich bin zufällig kurz davor zu Bewußtsein gekommen und hatte das Vergnügen alles mit anzuhören. Das hat mich übrigens daran gehindert den Verstand zu verlieren. Wenn man weiß, wie es wirklich ist, wer man wirklich ist, dann kann man sich plötzlich gegen den mentalen Verfall zu Wehr setzen. Es war schwer und ich habe zwar nicht ganz gewonnen, aber zumindest kann ich jetzt größtenteils klar denken."

Bürck fühlt sich, als hätte er einen Knoten im Magen. Ihm ist zum Heulen zu mute. Der ganze Versuch, gescheitert wegen ihm selbst. Hätte er damals nicht...

Mendez redet weiter, als er bemerkt, dass Bürck zu Selbigem nicht in der Lage ist. "Verraten Sie mir wenigstens das Ziel dieser ganzen Sache. Damals sind Sie ja leider nicht so weit gekommen. Was ist das Ei? Was hatten Sie noch vor mit mir?"

Bürck schüttelt nur abwesend den Kopf, jetzt ist es sein Blick, der leer ist.

Christóbal lässt sich davon nicht irritieren und spricht einfach weiter. "Okay, ich sehe schon: Sie wollen es mir nicht sagen. Auch in Ordnung. Wissen Sie, dass ich Sie heute schon den ganzen Tag erwartet habe?"

Der Psychologe richtet langsam seinen gesenkten Blick wieder nach oben zu seinem ehemaligen Patienten. Schwach fragt er: "Was?"

"Ja, genau. Man erfährt soviel mehr, wenn die Leute glauben man sei geistig sowieso nicht anwesend. Sie reden in deiner Gegenwart über die Dinge die anstehen und die sie beschäftigen. Seit fest steht, dass die Polizei Sie zu einem Treffen hierher bringen wird, redet niemand mehr über etwas anders!" Mendez grinst über das ganze Gesicht und redet dann weiter: "Und wissen Sie überhaupt, warum ich mich verstellt habe?"

Bürckt schüttelt den Kopf. "Nein."

"Weil ich darin meine einzige Möglichkeit gesehen habe Sie noch einmal sehen zu können und mit Ihnen sprechen zu können."

Bürck ist noch immer nicht ganz bei der Sache. "Und warum?"

Mendez krächzt erneut. "Um Ihnen etwas wichtiges mitzuteilen, was Sie möglicherweise selbst noch nicht wissen, aber von immenser Wichtigkeit für Sie ist."

Bürck, jetzt wesentlich interessierter, schaut ihn fragend an: "Was ist das?"

"Kommen Sie näher. Das geht nur uns beide etwas an. Lassen sie es mich Ihnen zu flüstern."

Der Psychologe beugt sich näher zu Mendez hervor um zu hören, was er zu sagen hat.

Selbst die Polizisten können nicht schnell genug reagieren, als Mendez das Küchenmesser, was er seit dem morgendlichen Frühstück in seinem rechten Ärmel versteckt hat, auf Bürcks Schläfe niedersausen lässt. Noch bevor die blutige Angelegenheit ihr Ende findet, hört der Psychologe die freudig kreischenden Wort von Christóbal Mendez:

"Was immer Ihr Experiment war: ES IST GESCHEITERT!"

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