Das Archiv
(c) 2005 Christian Benedikt
Unter einem Archiv versteht man üblicherweise eine - meist auf Dauer angelegte - Sammlung von Unterlagen, Büchern oder sonstigen Informationen. Zwar lagerten wir in unserem Archiv auch Informationen, nicht aber in Form von Büchern, Akten, Mappen oder Tonträger. Ein eher ungewöhnliches Archiv, mit ungewöhnlichen Informationen, verschlossen hinter einer dicken Panzertür tief unten im Keller, deren Öffnungscode ständig geändert wurde. Unsere Kunden, oder besser gesagt Patienten, erwarteten absolute Sicherheit und Diskretion. Denn was wäre, wenn ein Serienmörder ins Archiv käme und die Informationen nutzte, um unsere Patienten zu foltern? Ich war damals noch sehr jung, als ich diesen Beruf annahm. Mittlerweile bin ich dreiundachzig, und habe starke Rückenschmerzen. Die Folge der schweren Lasten, die ich damals täglich ins Archiv schleppen musste. Es war ein harter Job und durch den Stress, welchen ich mir selbst auferlegte auch noch Knochenarbeit. Aber er war gut bezahlt, nicht nur durch Geld. Ich genoss tiefste Anerkennung, Respekt, Furcht und Dankbarkeit. Ein würdiges und gepflegtes Denkmal das in den Herzen unserer Patienten erbaut wurde. Wir waren Helden.Wir wahren wie Feuerwehrmänner, wir nahmen das Feuer und schlossen es ein. Das Feuer, das Menschen dazu zwang, aus Fenstern zu springen. Wir verbesserten die Welt. Wir heilten Menschen.Wir waren Exzorzisten. Das Archiv war voll, und doch war der Raum leer. Was wir archivierten war unsichtbar, und doch anwesend. Wie die Luft die wir atmen, wie Gott der uns Raum gibt. Wir archivierten Ängste, Phobien, Zwänge, Trauer und all das, was einen Menschen in den Wahnsinn treiben lässt. Wie Dämonen, die in unseren Körpern ein neues Zuhause finden und hinterher eine Bruchbude hinterlassen. Alle kamen sie zu uns, Verrückte, Wahnsinnige, Besessene, Sklaven ihrer Ängste und Zwänge, und sie alle gingen hinaus und waren befreit, wärend ich die schweren Lasten ins Archiv trug. Tag ein, tag aus. Doch um meine eigenen Ängste ins Archiv zu tragen, war ich zu schwach.Sie denken, so etwas gibt es nicht? Sie haben Recht: Verarscht.
(c) 2005 Christian Benedikt