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Gegen den Strom

©2004 by Stephan Möller (theMöllerman)

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Kennen Sie diese Tage Anfang Dezember, in Norddeutschland die schlimmsten Tage des ganzen Jahres? Das Wetter weiß nicht, was es will, mal regnet es, mal schneit es, mal hagelt es sogar, und diese Kombination der drei Niederschläge macht die Straßen zu einer Rutschpartie sondergleichen, einer Schnee-Regen-Matsch-Mischung, die das Autofahren zur Hölle macht.

Man kann also nicht mit dem Auto irgendwo hinfahren, zum Beispiel an die Küste, um einen mehr oder weniger "kleinen" Spaziergang zu machen – manche Leute bei uns fahren tatsächlich extra ans Meer, um eine ganze, atemberaubende Viertelstunde zu laufen, aber wenn ich schon mal da bin, dann möchte ich das auch ausnutzen –, in den Wald geht schon gar nicht (soll heißen: es ginge schon, wenn man Lust hat, durch 30cm tiefen Pfützen aus halbgeschmolzenem Schnee und Regen zu latschen), und die Straßen und Bürgersteige sind zwar gestreut, aber wer hat schon Lust, jeden Tag dieselben Wege abzulatschen, die man eh schon seit Dutzenden von Jahren auswendig kennt?

An solchen Tagen flüchte ich mich meistens mit einem Buch in der Hand vor den Kamin – dafür solche Stunden am besten geeignet sind Grusel- oder Horrorromane von Autoren wie Stephen King, Shirley Jackson oder H.P. Lovecraft – oder ich laufe zur Videothek, die zum Glück nur eine knappe Viertelstunde zu Fuß von meinem zu Hause entfernt ist, decke mich mit genügend Filmen ein – auch hier sind Gruselfilme die am besten Geeignetsten – und verbringe die restlichen Stunden des Tages vor der Glotze.

Für mich gibt es nichts öderes als diese Tage Ende November oder Anfang Dezember. Ich meine, als Film-Fan macht es mir fürs erste nichts aus, einen, manchmal auch zwei Nachmittage vor dem Fernseher zu verbringen, und auch gegen Bücher habe ich nicht das Geringste, aber wenn man einen halben Monat (oder ab und zu sogar noch länger) damit verbringt, im Sessel zu sitzen, dann hat man mehr als genug davon.

In dieser Zeit ist der einzige Trost für mich das naherückende Weihnachtsfest. Es gibt für mich keine schönere Zeit im Jahr, als die Weihnachtszeit ... wie ironisch die Welt doch manchmal sein kann, oder? Erst die langweiligsten und dann, gleich im Anschluss, die aufregendsten Tage des Jahres.

Naja, wie dem auch sei, für mich gibt es nichts Schöneres, als in der Vorweihnachtszeit, die Zeit zwischen dem eben beschriebenem Schnee-Regen-Matsch und dem richtigen Schnee, in der Stadt zu bummeln. Ich liebe es, Samstagsmorgens um neun Uhr in die Stadt zu fahren, den ganzen Tag damit zu verbringen, die Weihnachtseinkäufe zu erledigen und dabei auch hier und da mal Ausschau nach etwas zu halten, mit dem man sich selbst etwas gutes tun kann. Da machen mir dann auch die endlos langen Warteschlangen an den Kassen von Karstadt, Media Markt und C&A nichts, weil ich nämlich genau weiß, dass ich gleich wieder auf die Straße gehen, vielleicht einen Kaffee trinken oder mir sogar ein Stück Kuchen gönnen werde.

Aber an einem Tag, der haargenau so geplant war, wie ich es eben beschrieb, wurde mein Verstand im letzten Jahr hart auf die Probe gestellt.

 

Ich weiß noch genau, dass ich in einem Café in der Marktstraße saß, mir ein Stück Himbeertorte mit Sahne einverleibte, dazu einen Capuccino schlürfte und daran dachte, was ich tun würde, nachdem ich mit den Weihnachtseinkäufen fertig war. Sollte ich noch ein bisschen bei Weltbild stöbern gehen, um vielleicht ein gutes Buch im Sonderangebot zu finden? Oder bei Triangel, eine feine Rock-CD? Oder sollte ich auf der Heimfahrt noch einen kleinen Umweg zur Videothek machen? Ich könnte auch hier in Wilhelmshaven bleiben und mir einen Film im Kinopolis ansehen. Oder einfach nur nach Hause und den Rest des Tages chillen?

Doch mit einem Mal wurde ich aus meinen Gedanken gerissen: ein lauter Schrei durchbrach die trügerische Stille. Da hatte ein Mensch geschrieen, eine Frau. Was war passiert? Ein Überfall? Quatsch, sagte ich mir, doch nicht am helllichten Tag in der Innenstadt, wo es von Menschen nur so wimmelt!

Mit pochendem Herzen eilte ich hinaus auf die Straße, und was ich sah, schockierte mich derart, dass ich es in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde: mitten auf dem Weg lag eine Frau etwa Mitte 30. Sie blutete so stark, dass sich um sie herum bereits eine Pfütze von mindestens einem Meter Durchschnitt gebildet hatte, doch – und das war das, was mich so schockierte – niemand kümmerte sich um sie, kein Mensch. Es war ja nicht nur so, dass einfach alle vorbei gingen, als würde die Frau gar nicht existieren – oder zumindest nicht halb verblutet auf der Marktstraße liegen –, nein, noch schlimmer: es sah nicht einmal jemand zu ihr herunter; hätte sie nicht mitten auf dem Weg gelegen, hätte ich tatsächlich gesagt, dass sie von niemandem bemerkt wurde. Kein Mensch, der auch nur ein einziges Mal nach unten sah, jeder ging einfach vorüber.

Irgendwas stimmt hier nicht!, dachte ich, und ich hatte recht. Ich wusste nicht, was genau nicht stimmte, aber ich wusste, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging (abgesehen davon, dass eine Frau verblutend auf der Straße lag und niemand anhielt, um ihr zu helfen).

Die Pfütze, die sich aus dem Blut der Frau gebildet hatte, hatte sich inzwischen um das Doppelte vergrößert und noch immer machte keiner Anstalten, sich zu der großen, blonden Schönheit (denn das war sie, wie ich jetzt, aus einem etwas anderen Winkel erkennen konnte) herabzubücken.

Ich musste handeln, das wurde mir in dem Moment klar. Wenn ich der Blonden nicht half, würde sie sterben – wenn sie nicht schon längst tot war, weil absolut jeder der Hunderte von Passanten die riesige Blutpfütze übersehen hatte, die irgendeine Verletzung an ihr verursacht hatte; oder weil absolut jeder sich erfolgreich bemüht hatte, wegzugucken, um ja noch ein paar Schnäppchen bei Pro Markt zu ergattern oder ja früh genug nach Hause zu kommen, weil sonst die Alte wieder zu meckern begann. Sowas regte mich auf, aber wie!

Ich bemühte mich, so schnell wie möglich zu der Frau zu kommen, doch leichter gesagt als getan: ich wurde von dem riesigen Schwall Einkäufer, die sich gerade der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten, mitgezogen. Es war schier unmöglich, gegen diese Strömung anzukämpfen, so blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr zu schwimmen und mich bei der nächstbesten Möglichkeit herauszudrängen und zurückzukehren.

Doch das wollte ich an jenem Zeitpunkt noch nicht einsehen: mir war klar, dass die Frau sterben würde, würde ich nicht eingreifen, so schrie ich aus Leibeskräften die Männer und Frauen an, welche jedoch so taten, als hörten sie nichts und einfach weitergingen. "HALLO!", brüllte ich die Masse an. "Warum hilft denn keiner? Da vorne liegt eine Frau, sie ist schwer verletzt, sie verblutet!" Keine Regung, abgesehen von den Schritten der vielen Passanten, die mich immer weiter von der Frau wegtrugen.

Ich war der Verzweiflung nahe, und es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre zusammengebrochen, mitten auf der Straße. Genau wie die Frau. Wäre ich auch nicht beachtet worden? Anzunehmen. Schließlich schenkten die Menschen mir bereits jetzt, wo ich noch aufrecht stand und sie anschrie, keine Aufmerksamkeit, warum sollten sie es dann tun, wenn ich auf dem Boden lag und zertrampelt wurde?

Und in dem Moment kam mir die Idee; mir war jetzt eingefallen, was so seltsam an der Sache war: die Menschen gingen um die Frau herum, ohne auf sie herabzublicken. Das könnten sie nur tun, wenn sie gesehen hätten, dass sie da lag, aber wie sollte das gehen, wenn sie nicht nach unten sahen?

Ich zögerte. Sollte ich es versuchen? Wieso nicht? Ich hatte eine Fifty-Fifty-Chance. Entweder wurde ich von der Masse zertrampelt, oder sie würden mich umgehen, wie sie es auch bei der Frau taten.

Ich beschloss, das Risiko einzugehen.

Ich schickte noch schnell ein Stoßgebet gen Himmel und ließ mich dann flach auf den Boden fallen. Für einen Moment dachte ich, ich würde zertrampelt werden, ich fühlte bereits, wie die ersten Passanten ihre Schuhe auf meinem Rücken absetzten, dann kamen die nächsten, und immer mehr, und früher oder später würde einer mein Genick treffen oder den Fuß auf einer ungünstigen Stelle der Wirbelsäule absetzen, sodass das Rückenmark zu Schaden kam.

Doch es passierte nichts dergleichen, mein Plan funktionierte tatsächlich! Erleichtert stieß ich einen Seufzer hervor, drehte mich dann auf dem Bauch und krabbelte zurück zu der Stelle, wo die Frau gelegen hatte.

Während ich mich an die Stelle zurückbewegte, an der alles seinen Anfang genommen hatte, fiel mir auf, dass die ganze Situation immer surrealistischer wurde: war der Strom, der sich von der Frau wegbewegte, am Anfang noch relativ normal gewesen, kaum größer als an anderen verkaufsoffenen Samstagen in der Vorweihnachtszeit, so schien er jetzt aus Tausenden von Menschen zu bestehen. Wenn es in diesem Moment außer mir überhaupt noch einen Menschen gab, der sich in der der Masse entgegengesetzten Richtung bewegte, dann waren die von meinem Standort aus nicht zu sehen.

Ich kam dem Platz, an dem die Frau lag, immer näher, und schließlich war ich nur noch 10 Meter von ihr entfernt, als plötzlich eine etwas ältere Frau zu schreien anfing. "Ah! Oh mein Gott, hier liegt eine Frau!", rief sie und augenblicklich wechselte die Marktstraße wieder von surrealistisch zu realistisch. Viele Menschen blieben erschrocken stehen und ein Mann Mitte 40 holte sein Handy hervor, um den Notarzt zu holen.

Ich richtete mich immer noch verwundert über den plötzlichen Wandel, der sich vollzogen hatte, auf. Jetzt bückte sich ein anderer Mann, etwa in meinem Alter, der gekleidet war wie ein Manager oder ein Anwalt zu der blonden Frau herab und fühlte ihren Puls. Mit Trauer in den Augen sah er hoch zu der Menge, die ängstlich auf ein Ergebnis wartete, und schüttelte schließlich nach einer endlos langen Sekunde den Kopf. "Sie ist tot!", sagte er. "Wir kommen nur wenige Augenblicke zu spät!"

 

Wissen Sie, was Sie davon halten sollen? Ich nicht. Ich habe zwar eine Theorie, aber die ist nicht sehr glaubwürdig. Ich denke, es war das Schicksal der Frau, ich denke, dass es ihr von irgendeiner höheren Macht (vielleicht Gott?) vorherbestimmt war, am helllichten Tag mitten auf der Straße zu sterben.

Ich weiß, das ist nicht sehr glaubwürdig, aber haben Sie eine bessere Theorie? Nein? Na also. Mancher Zweifler könnte jetzt kommen und sagen, dass ich mir lediglich die einfachste Erklärungstheorie ausgesucht habe, um irgendwas in der Hinterhand zu haben. Und wissen Sie was? Ich glaube, diese Leute könnten recht haben! Ich denke, dass ich irgendwas brauchte, um mich darauf zu stützen, irgendwas, um die Geschehnisse zu verarbeiten, damit ich nicht zusammenbrach, und bei dieser Suche nach einer Stütze, hat sich mein Unterbewusstsein diese Theorie zurecht gelegt (oder vielleicht habe ich es auch bewusst getan, ich weiß es nicht mehr).

Ich frage mich, ob ich jemals die Wahrheit herausfinden werde. Kenne ich sie schon? Ich denke nicht, ich glaube, es gab einen ganz andern Grund für diese Geschehnisse. Was denken Sie?

 

ENDE

Stephan Möller Schortens, 12. – 13.02.04

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