Der Berichterstatter
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Alte Herzen jagen in den Krieg. Die Häuser brennen sie nieder, die Kinder schlachten sie ab. Zuhause haben sie ihre Frauen lieb. Und ja, sie kommen recht bald wieder, vorher machen sie nicht schlapp.
Sie ziehen durch Dörfer, durch fremde Länder. Totes Fleisch – vergiss mich nicht. Sie sind zusammen der eine Schänder, der hinterrücks sein Schwert durch Herzen sticht. Am Himmel lechzt der Mond nach Sonne. Und Wehmut plagt die Pflanzenwelt. Die Alten schreien vor entzückter Wonne. Und zählen ihr verblutetes Geld.
Man mag sich über die Anatomie von Menschen streiten wie man möchte, aber sie hat ihren Charme in all den Jahrhunderten nicht verloren. Früher war es in den Zeiten der Ketzer eine regelrechte Wonne, miterleben zu können, wie Frauen ins Wasser geschmissen oder als Hexen verbrannt wurden. Keine kam zurück und das schien Beweis ihrer Unschuld zu sein. Mich haben diese Frauen nie interessieren, mich hat der Vorgang im Inneren ihres Lebens fasziniert – der Sterbevorgang ihrer Anatomie. Immer wieder ist es entzückend, die vergangenen Fotoalben herauszukramen und darin herumzublättern – zugegeben; meine alten sind schon sehr zerfleddert, aber das macht mir nichts aus. Es ist schön die zerfetzten Kinderköpfe und stinkenden Hundekadaver mal wieder ansehen und genießen zu können. Halten Sie mich für pervers, wenn Sie wollen; ich finde die Bilder in meinem Fotoalbum alle miteinander sehr gelungen. Vor allem, weil ich sie selbst gemacht habe und aus ganzem Herzen bei der Sache war.
Zum Beispiel war es kein Leichtes für mich, in Zeiten des Friedens nach verstümmelten Leichen zu forschen. Dafür bin ich im 19. Jahrhundert nicht von Jack the Rippers Seite gewichen und habe alle seine Morde bis ins Genaueste dokumentiert. Besser hat es die damaligen Polizei auch nicht tun können.
Leicht wurde meine Arbeit erst wieder, als der erste Weltkrieg ausbrach. Mit meiner Gesundheit ging es bergauf und tagsüber streifte ich umher, knipste wunderschöne Bilder und des Nachts, wenn ich auch mal ruhen musste, klebte ich sie liebevoll in mein derzeitiges Fotoalbum. Ich freute mich wie ein kleines Kind, als es in der Welt wieder losging – vor allem in meinem Bezirk, sagen wir es so. Es ist für mich nicht einfach gewesen, mit den Anderen meiner Art mithalten zu können, denn sie hatten es leichter, sie waren in Krisengebieten tätig, sie taten ihre Arbeit unter nicht so schwierigen, friedlichen Bedingungen wie ich.
Wir sind nicht bemitleidenswert, die menschliche Rasse ist es. Es überkommt mich Ekel, wenn ich an ihre eingeredete Nächstenliebe denke – und an ihre sozialen Einrichtungen, die sie im Sinne der Schwachen erbauen. Es überkommt mich Ekel, wenn ich an Worte wie "Nachbarschaftshilfe" und "Zwischenmenschlichkeit" denke. Das ist alles Heuchlerei, die direkt von oben kommt. Und von dort kommt bekanntlich nichts Gutes.
Aber ich muss dankbar für den Job sein, den man mir gegeben hat – auch im Auftrag von dort oben, wohlgemerkt. Vor allem jetzt will ich nicht die Arbeit des Lebens verrichten müssen, denn es ist eine triste Arbeit ohne Zukunft. Mir tun meine Kollegen von der Lebensabteilung leid, denn sie werden wohl über kurz oder lang arbeitslos werden, während ich vor lauter Überstunden kaum noch die Augen zumache.
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mich den Selbstmördern zugewandt und ihre Köpfe dokumentiert. Viele erhängen sich heutzutage noch, wobei es allgemein bekannt ist, dass das sehr grausam enden kann. Wieder welche ersticken in Pfützen, die sie Flüsse nennen und ganz selten flüchten sich einsame Wanderer in die Berge und keuchen ihren letzten Lebensatem ins kalte Gestein. Die häufigste Todesursache scheint der Tablettentod zu sein – was mich sehr erbittert, weil er so unspektakulär ist. Muss von oben kommen, diese Todesart. Sie macht mich wütend, weil die Leichen nicht mehr für mein Fotoalbum taugen. Sie sind zu gewöhnlich. Ich aber brauche Ungewöhnliches, das ich festhalten kann.
Da sind Autounfälle schon viel interessanter. Quietschen wie ein Kind könnte ich, wenn ich einen erwische. Es ist herrlich, zu dokumentieren, wie die zertrümmerten Wesen durch die Lüfte fliegen als wären sie Puppen – und dann nicht weit von ihren Fortbewegungsmitteln auf den Boden stürzen. Dann liegen sie da, mit verrenkten Gliedern, und ich knie neben ihnen – dokumentiere und freue mich, lache und gehe abends nach dem Einkleben meiner Werke imaginär Cafétrinken.
In letzter Zeit – davon muss ich Ihnen einfach berichten – passieren wieder Unmengen an Doppelmorde. Eine heiße Sache für die Polizei, die sich insgeheim natürlich über spektakuläre Medienpropaganda freut – und nicht zuletzt natürlich auch eine sehr heiße Sache für meine Knipserei. Es ist eine Wonne, es ist ein unglaubliches Glücksgefühl wenn man in dem rot abgedunkeltem Raum steht und auf das wunderschöne Bild starrt, von dem man weiß, dass man es eingefangen hat. Die Zeit in einem Moment festgehalten. Die Kinderköpfe, die Menschen- und Tierkadaver, die Grausamkeit des Lebens so schön eingefangen und dokumentiert. Vor allem Doppelselbstmorde oder Kriege sind interessant. Während die Polizei sich fragt, wer wen nun erschossen hat und wen sie suchen müssen, frage ich mich; was veranlasste den da oben dazu, solche wunderschönen Sachen wie Gedärme zu erschaffen und sie im Inneren des Körpers zu verstecken, wo sie keiner sehen kann? Haben Sie schon mal ein Herz gesehen, das zum letzten Mal schlägt? Oder das Gesicht eines Menschen, der seinen letzten Atemzug tut? Den offenen Mund? Die verrenkten Glieder? Es ist ein Bild der Natur! Es ist wundervoll, es ist ein Portrait des Lebens, eine faszinierende Philosophie! Es ist die Liebe des Lebens zum Detail, mit dem es seine Opfer schmückt; Blut, Venen, Knochen. Aber nicht wie die, die man im Fernsehen oder in irgendwelchen Comics sieht, nein, es ist das Leben selbst, dem man begegnet, begegnet man dem Tod.
Manchmal gibt es Zeiten, da habe ich mehr zu fotografieren und dann gibt es Zeiten, da ebbt es ab. Aber einer Sache kann ich mir sicher sein; es wird immer Verstümmelungen auf der Welt geben. Und so lange werde ich meinen Job machen und die menschliche Anatomie – der meine besondere Aufmerksamkeit gilt – erforschen und dokumentieren, wo ich nur kann. Mein Gefährte ist mir dabei eine große Hilfe; er weist mich an, wohin ich mich wenden soll. Er zeigt mir in Bildern und Worten, wie sich durchbohrte Lungenflügeln anfühlen und wie schön es aussieht, wenn das Blut aus den Venen spritzt, schlitzt man sie mit einem großen Brotmesser den Unterarm entlang auf. Er weist mich ein, in die menschliche Anatomie, vergleicht Lungenflügel von Mäusen, die ihre letzten Schnaufer tun, mit Lungenflügeln von Menschen, die ihren letzten Schnaufer tun und erzählt von den Schmerzen, die Fliegen empfinden, wenn man ihnen bei lebendigem Leib die Flügel herausreißt. Im Gegensatz zu mir hat er wirklich eine Vorliebe für Geräusche und nebenher arbeitet er für einen Kollegen von mir, dessen Job es ist, die Laute von Sterbenden zu dokumentieren. Hin und wieder mal bringt er mir ein Tonband mit, auf dem das Wimmern einer überfahrenen Katze aufgezeichnet wurde oder die letzten und ersten Schreie einer Frühgeburt – je nach Lust und Laune. Manchmal setzen wir uns auf eine Tasse Kaffee an den Tisch und lachen und sprechen über die derzeitigen Todesopfer von Kriegen oder über die peinlichsten Arten der Menschen zu sterben.
Die menschliche Anatomie aber hat es mir wirklich angetan. Ich bin dazu verdammt, die Leichen nicht anfassen zu dürfen, ich darf sie nicht berühren, ich darf diese Grenze nicht überschreiten – und doch überkommt mich manchmal das Gefühl, es tun zu müssen. Ein Schlitz in der Brust eines Toten zu erweitern und das Innere zu fotografieren. Es vielleicht sogar herauszunehmen und in den Händen zu halten. Ich stelle mir oft vor, wie warm es sein muss, wie schön sich eine Niere oder ein Herz anfühlen muss. Süßes Ding der vergessenen Schönheit, unvergleichlich teures Gerüst der Natur. Verpackt in eine Hülle die außer starren Augen und offenen Mündern nicht viel zu bieten hat. Und ich frage mich wieder; was hat der da oben sich dabei gedacht, die wahre Schönheit von Einzelheiten, das wahre LEBEN, so zu verschnüren wie ein Päckchen und so verborgen zu halten wie einen rostigen Schatz?
Ich weiß es nicht und es ist auch nicht an mir, darüber nachzusinnen, obwohl der Gedanke mich in den Schlaf quält. Ich darf sie nicht berühren, ich darf sie nur auf Bildern festhalten und in meinen Träumen streichle ich sie, bin ich ihnen ganz nahe, bin ich im Körper eines Toten und winde mich in seinen Innereien. Bin ich Teil von diesem Leben, von dieser Schönheit, von dieser Einzelheit der Natur. Es gibt Nichts, was ich mehr liebe als die menschliche und tierische Anatomie. Ihr vermache ich meine Arbeit und mein Werk.
Und besonders schön ist das in der Hochsession, die sich alle paar Jahrzehnte wiederholt. Dann kann man sich richtig intensiv mit seinen Kollegen am anderen Ende der Welt austauschen.
Haben Sie auch nur den Hauch einer Ahnung, wie schön sich Fischleder anfühlen muss, das in glitschiges Öl getaucht wurde und wie wundervoll es ist, wenn sich der Bauchnabel eines kleinen Mädchens zum letzten Mal hebt? Und wissen Sie, gütige Anatomie!, wie wunderschön es ist, die zarte Haut eines Menschen mit einem Gegenstand zu durchbohren, feststellen zu müssen, wie leicht zu durchdringen sie ist und welche Organe der Gegenstand durchstößt, bis er hinten wieder herauskommt? Es muss herrlich sein, ein Mensch zu sein. Es muss herrlich sein, töten und das eigene Schicksal an die Anatomie des Opfers binden zu können.
Ich weiß, dass mein Job Zukunft haben wird. Ich weiß, dass auch die Leute von da oben die menschliche Anatomie schätzen, obwohl ich nicht verstehe, warum sie sie so verstecken. Manchmal weine ich mich in den Schlaf, weil ich niemals diesen winzigen funktionierenden Teil des Lebens erkunden werde. Ich habe keine Hände, unter deren Hülle Blut durch die Venen gepumpt wird. Ich habe keine Knochen, die mein Gerüst bilden, meine Struktur. Keine Knochen, die meine Lungenflügel schützen, die sich auf und ab senken und meinen Körper mit Sauerstoff versorgen. Ich bin keine Anatomie, ich bin nicht am Leben. Und diese Tatsache verbittert mich oft. Wie schön wäre es, seinen eigenen Körper erkunden zu können! Wie schön wäre es, das eigene Herz schlagen zu spüren! Teil dieser Anatomie zu sein, Teil dieses Wunders, dieses Lebens... Das wird ewig ein Traum von mir sein.
Aber ich bin dazu verdammt, es zu dokumentieren. So lange, bis die Arbeiter des Lebens arbeitslos sind – und wir es allmählich auch werden, weil der Schöpfer die Trümmer von dieser Welt wäscht. Und was danach aus der menschlichen, liebevoll gestalteten Anatomie wird, wissen nur die da oben – und das macht mir Angst.