Sevoud
© 2004 Michael Hoffman
Kapitel 1
Murray
1
Die Gläser klirren und tiefe raue Männerstimmen dröhnen durch die kleinen verschachtelten Räumlichkeiten des alten, aber standhaften Gemäuers. Viel haben diese Wände in ihrer über fünfzig jährigen Geschichte schon erlebt. Als Mr. McBowen das prachtvolle Gebäude mit seinen zwei Stockwerken damals einweite war er stolz auf die weißen Wände, die liebevoll verzierte Fassade und das hölzerne Dach aus dem edelsten Holz in der ganzen Gegend. Er hätte es auch aus England mitnehmen können. Doch er wollte nichts mehr aus England nach Sevoud mitnehmen. Die Queen konnte ihm gestohlen bleiben. Dafür hat er in Liverpool zu viel Elend erlebt. Später dachte er anders darüber – aber er bereute diese Entscheidung nie. Auch englische Wände und Fenster hätten den Zigarrenrauch und die zahlreichen Einschusslöcher nicht lange unbeschadet überstanden. Aber vielleicht, so sagte sich Mr. McBowen zu seinen Lebzeiten immer wieder, gehörte das einfach dazu. Zu einer Renovierung kam es jedenfalls nie. Sein Sohn, Murray, wie sein Vater ein Mann mit hoher Statur und markanten roten Haaren, übernahm die Kneipe vor einigen Jahren und hatte auch schon oft an eine Renovierung gedacht. Aber weniger aus Müßigkeit wie bei seinem ehrenvollen Vater, lag es bei ihm viel mehr an der Angst vor den (sicherlich nicht unblutigen, aber das sprach er nie aus) Reaktionen der treuen Stammgäste, wenn sie auf die einzige Kneipe (abgesehen von der Kirchenstube – die man aber wohl kaum als Kneipe bezeichnen konnte), und ihren wohl verdienten Alkohol, für einen Tag verzichten müssten. Sprach er mit seinen wenigen Freunden darüber klang das freilich etwas ironischer. Doch wusste er und seine Gesprächspartner, dass er nicht ganz Unrecht hatte. Und so blieb es bei den grauen Wänden, zersplitterten Fenstern und einer bröckelnden Fassade. Sollte eine Frau ihm wider erwarten Nachkommen gebären würden diese sich darum kümmern, aber viel wahrscheinlicher war, dass ihm die alte Bude ein reicher Geschäftsmann aus den neuen Kolonien auf dem Festland, oder womöglich sogar aus England für eine läppische Summe (Murray war ein guter Barmann, aber ein lausiger Feilscher) abkaufen und daraus ein hübsches Lokal im typisch britischen Stil gestalten würde. Vielleicht ein Restaurant für Touristen. Die sind zwar heutzutage eine Rarität (Murray schenkt gerade einen Scotch ein und blickt zu einem glatzköpfigen Mann mit freigelegten Tätovierungen auf beiden Oberarmen, der an einem der vorderen Tische sitzt, gemeinhin unter dem Pseudonym Sharc bekannt.) – und er weiß ganz genau wieso das so ist – aber irgendwann könnte sich das doch ändern. Oder etwa nicht? Sollte das zu seinen Lebzeiten passieren konnte ihm das egal sei. Solche Männer wie die die seine Bar besuchen würde es wahrscheinlich noch in einigen Hundert Jahren noch geben. Er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Muss aber im selben Moment feststellen das sein Bauch knurrt. Nicht so als wäre er hungrig. Es ist ein inneres. deutlich spürbares, Knurren. Es ist die Gier, die ihn überfällt. Eine unstillbare Gier. Aber im Moment ist nicht die richtige Zeit dafür. Arbeit ist Arbeit. Seine Kunden können verdammt unfreundlich werden wenn sie betrunken sind. Und das ist für Gewöhnlich immer der Fall. Zwei Männer rufen wortstark nach Bier. Murray serviert, wie immer, wortlos.
2
Es ist eine Sucht. Vielleicht eine Krankheit. Möglicherweise ist Murray paranoid. Aber er braucht es. Denn er ist auf der Suche. Er, der armselige Barmann, der sich froh schätzen kann wenn seine Gäste – waren sie nun korrupte Bedienstete des Hohen Raten oder auch gesetzlose Banditen, die alte Männer beraubten und Töchter vergewaltigten, das war einerlei –ihm keinen Blindgänger in sein verfluchtes Hirn schossen. Sein Vater hatte dieses Glück nicht. Noch ein paar Stunden und er konnte, wie immer zur Mittagszeit, vor den wenigen Stunden Schlaf die er sich notgedrungen vor der Abendzeit gönnte, mit seiner Berufung fortfahren. So unsicher er ist, ob es sich hierbei um eine Sucht oder eine paranoide Krankheit handelte, so weiß er auf bizarre Weiße gleichzeitig, dass es eine unumgängliche Berufung ist. Daran ist kein Zweifel. Irgendwann würde der glorreiche Tag kommen an dem er die richtige Leiche aus dem tiefgoldenen Sand der vielen Strände auf Sevoud ausgraben würde. Keine Tierkadaver wie er sie ab und zu ausgrub, nein – diesmal würde es eine Menschenleiche sein, die er aus dem weichen und geschmeidigen Sand unter der glühenden Mittagssonne langsam und behutsam aufdecken würde.
to be continued ...