Armer Frederick
Die Beerdigung war kalt und ungemütlich. Der
Regen peitschte mir unablässig ins Gesicht und der Wind ließ mich
erschaudern.
Kerstin stand neben mir und schluchzte. Vor
ihr Gesicht hielt sie ein längst durchgeweichtes Taschentuch hinter dem
sie ihre tränennassen Augen verbarg. Ich stieß sie sanft in die Seite
und warf ihr einen besorgten Blick zu. Für einen Moment wandte sie den
Kopf zu mir und murmelte mit erstickter Stimme etwas das ich nicht verstand.
Ich beugte mich näher zu ihr und blickte sie fragend an. Sie atmete tief
durch, zog die Nase hoch und raunte erneut, diesemal etwas lauter:
"Ich hätte es ihm sagen sollen."
Ich blickte sie fragend an und sie lieferte
sofort eine Erlärung nach:
"Dass ich mit seinem Bruder zum Ball gegangen
bin. Das hatte nichts mit ihm zu tun, ich meine, nicht mit ihm persönlich.
Ich hatte es seinem Bruder schon lange vorher versprochen und konnte es nicht
mehr ändern. Aber ich wünschte so sehr ich hätte es ihm gesagt."
Sie brach wieder in Tränen aus und ich
nahm meinen alten Abstand ein.
Nach der Beerdigung trat Carsten, Kerstins Banknachbar
in der Schule, zu ihr und legte den Arm um sie.
"Ich weiss, es ist schwer", seufzte er leise.
"Das allein ist es nicht. Es ist fuchtbar
dass er tot ist, aber ich hätte ihm noch so viel zu sagen gehabt. Ich hätte
es ihm sagen sollen."
Unglücklich blickte Kerstin ihn an.
"Ja, es ist eine Trägödie" bekräftigte
Thomas und räusperte sich.
"Ich hätte mich nicht letzte Woche mit
ihm streiten sollen. Wer weiss woran er gedacht hat als er...gestorben ist."
Thomas vermied es tunlichst zu erwähnen
auf welch merkwürdige Weise Frederick gestorben war. Die Todesursache war
ein Sturz vom Dach seines Hauses gewesen, laut Polizeibericht ein Unfall. Ein
Unfall.
"Neulich wollte er während der Mathearbeit
von mir abschreiben, und ich habe ihm die Sicht auf mein Heft verdeckt. Extra,
meine ich", mumelte Sandra, und schob sich eine Haarsträhne aus dem verweinten
Gesicht.
"Warum habe ich ihn nur nicht abgucken lassen.
Er war nie gut in Mathe. Er hatte Angst sitzenzubleiben...-" Ihre Stimme brach
und wandelte sich in erneutes Schluchzen um. Thimo trat leise neben sie und
fasste nach ihrer Hand.
"Wir alle haben unsere Fehler gemacht. Niemand
wusste dass das mit ihm passieren würde. Sonst hätten wir alle uns
anders verhalten. Wir alle."
Er schwieg und sah in die Runde. Als er mich
mit seinem Blick traf fühlte ich mich gezwungen etwas zu sagen.
"Naja", begann ich leise und räusperte
mich weil meine Stimme so undeutlich klang, "wie du schon sagtest, niemand konnte
wissen dass das mit ihm passieren würde. Und vorher ist eben keiner von
uns auf den Gedanken gekommen wie es wäre wenn er...wenn er wirklich nicht
mehr da wäre..."
Ich hob vorsichtig den Kopf und warf den
anderen scheue Blicke zu. Thomas seufzte resignierend und zuckte leicht mit
den Schultern.
"Es ist geschehen. Nichts wird ihn uns zurückbringen.
Nie mehr. Wir müssen damit fertig werden. Und wir müssen damit fertig
werden dass wir Dinge gesagt und getan haben die wir nicht mehr zurücknehmen
können...und die wir bereuen."
Sandra konnte ein Aufschluchzen nicht verbergen.
Thimo reichte ihr ein Taschentuch.
"Seltsam, wie spät man es merkt dass
einem jemand so viel bedeutet hat", murmelte er. "Er ist mir früher nie
wirklich aufgefallen und ich hätte nie gedacht dass er mir mal so fehlen
würde..."
"Das hätte niemand gedacht", entgegnete
Thomas augenblicklich. "Wir alle haben ihn kaum beachtet und nicht geahnt wie
wichtig er für uns war..."
Eine Weile sprach keiner von uns ein Wort.
Wir standen unter der großen Eiche und starrten auf das regennasse Gras.
Kerstin hob ihren Kopf und starrte in die
Ferne.
"Ich hätte mit ihm zum Ball gehen sollen.
Er hat mich viel lieber gefragt als sein Bruder. Er wollte es so gerne. Ich
hätte ihn nicht abweisen sollen..."
"...ich hätte ihn nicht verpetzen sollen
als er in Englisch abgeschrieben hat..." murmelte Carsten kaum hörbar.
"Ich hätte ihn abschreben lassen sollen.
ich ahbe andere auch immer abschreiben lassen. ich hätte es ihm nicht verweigern
sollen", schniefte Sabndra und wischte sich über die Augen.
"Und ich, ich hätte mich nicht mit ihm
streiten sollen", sagte Thomas mit tonloser Stimme. "Aber jetzt ist es zu spät
dafür..."
Der Wind strich durch die Zweige der Bäume
und blies uns den kalten Regen ins Gesicht. Ich blickte in die schmerzerfüllten
Gesichter meiner Freunde und erkannte ihr ehrliches Leid. Er fehlte ihnen wirklich.
"Ich hätte ihn nicht umbringen sollen",
flüsterte ich in den Regen.