Er hatte dies mit seinem anmutigen gelbzahnigen Lächeln gesagt das für Paul
immer den Inbegriff väterlicher Liebe und Führsorge symbolisiert hatte.
Ein halbes Jahr später war er an Lungenkrebs gestorben, dem er zwei Operationen
zu verdanken hatte. Er liebte starke kubanische Zigarren über alles.
Seine Mutter hatte danach angefangen zu trinken, und starb 6 Jahre später,
bei einem Autounfall, den sie nicht verschuldet hatte. Damals war Paul 22
gewesen, und lebte gerade seit 2 Monaten in einem New Yorker Vorort, was
wahrscheinlich der Grund dafür war, dass er ihren Tod nie überwand. Er hatte
seine Mutter geliebt - mehr als seinen Vater, den er nur am Wochenende zu
Gesicht bekam - aber vor allem fühlte er sich schuldig. Auch wenn
ihm jeder sagte er wäre es nicht, und er es selbst wusste, er fühlte sich
schuldig. Dann hatte er Melissa kennengelernt - und sie vor einem Jahr geheiratet
- und eine Anstellung in dieser schleimscheißerischen New Yorker Bankfiliale
gefunden. Seitdem ging es in seinem Leben wieder aufwärts.
Der Krieg in Vietnam war inzwischen vorbei - zum Glück, und sein Vater war
als gefeierter Veteran heimgekehrt - aber Landstraßen in Nebraska waren
so gottverlassen wie schon immer.
Diese Perle der Weisheit - wohl eher eine billige Glasperle - schoss Paul
durch den Kopf, als er einen ohrenbetäubenden Knall hinter sich hörte. Der
Schreck fuhr ihm in die Knochen, und sein Herz setzte mehr als einen Schlag
aus.
Es war der Knall eines platzenden Autoreifens, das wusste er sofort, aber
gleichzeitig war es auch die platzende Seifenblase, in der er und Melissa
einen romantischen Winterurlaub in den Bergen von Colorado verbrachten.
Sein Kumpel Harry hatte gesagt, der Hotelbesitzer sei ein Arschloch, aber
das war im Moment Pauls kleinstes Problem.
Zum Glück war Paul langsam gefahren, aber das Wetter erlaubte ja nichts
anderes. Das war kein Schneesturm, das war ein gottverdammter Blizzard.
Er lenkte scharf nach rechts und die Bremsen quietschten unerträglich, während
sie sich ein paar mal um die eigene Achse drehten. Einen schrecklichen Moment
dachte Paul das Auto würde sich überschlagen - und in diesem Fall wären
sie wahrscheinlich in dem Wrack gestorben - doch schließlich kam der Wagen
krachend mit der Vorderseite auf einem Acker zum Stillstand. Jede Wette
das dies ein Maisfeld war, ganz Nebraska war nichts anderes als ein riesiges
Maisfeld.
Melissa war aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte im Akkord zu den Bremsscheiben
- und zu Paul - gekreischt, doch nun atmete sie nur noch hastig vor sich
hin. Einen Moment glaubte Paul er würde ohnmächtig werden, aber er blieb
bei Bewusstsein, auch wenn sich immer noch alles drehte. Es war, als säßen
die beiden in einer riesigen Wäschetrommel. Das Schweigen in dem Kleinwagen
war fast erdrückend und irgendwie unheimlich, dann brach Melissa es.
"Paul, w-was ist pa-passiert? Bist du in Ordnung?"
Zuerst sagte er gar nichts, einfach nur um wieder Ordnung in das Chaos in
seinem Verstand zu bringen. Er berührte seine Stirn in der Erwartung warmes
Blut daran zu spüren, aber er konnte nur den Herzschlag in den Schläfen
spüren.
"Ja... ich glaube unser Reifen hat sich verabschiedet." Nach einer kurzen
Pause fügte er bekräftigend hinzu: "Scheiße!"
Bevor sie etwas antworten konnte stieg er aus und knallte die Vordertür
wütend zu. Draußen schneite es, und Paul musste seine Augen vor dem Schnee
schützen, den der Wind ihm ins Gesicht peitschte.
Das schwache Licht der Scheinwerfer genügte. Statt des Reifens hing nur
noch ein Stück loses Gummi um die linke hintere Felge. Er sah nach hinten,
die Straße entlang aber der dichte Schnee verweigerte ihm jede Sicht.
Mit zitternden Händen öffnete Paul die Wagentür und stieg ein.
"Es war wirklich der Reifen! Verdammter Mist." "Kannst du nicht den Ersatzreifen...?",
begann sie, dann fiel Melissa die Antwort von selbst ein.
"Der steht zu Hause in der Garage." Zornig hämmerte Paul seine Faust auf
das Lenkrad. Sie hatten schon heute Nachmittag - gleich nach dem Mittagessen
bei Hab's Tankstelle - bemerkt, dass sie das Scheißding vergessen
hatten. Paul hatte letzte Woche den halben Wagen auseinandergenommen und
vergessen den Reifen wieder unter dem Kofferraum zu verstauen. Oh edler,
tapferer Pickup aus dem Königreich Yankeeland, komm und rette die schöne
Prinzessin und ihren Gemahl.
Bei diesem Gedanken konnte Melissa sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Paul ignorierte es. "Was sollen wir jetzt tun? Auf drei Reifen und einer
Felge kommen wir nicht weit."
"Wenn wir zu Fuß gehen, erreichen wir das nächste Kuhkaff nur als Eiszapfen."
Paul musste nur seine Ohren berühren, um die trockene Wahrheit darin zu
erkennen.
"Wenn wir hier auf Hilfe warten kann das ewig dauern. Wir müssen fahren.
Vielleicht schaffen wir es zurück nach... " Paul überlegte, aber ihm fiel
nicht ein, wann sie die letzte Tankstelle gesehen hatten. "Wir fahren lieber
geradeaus weiter", sagte er schließlich.
"Viel bleibt uns nicht übrig", stimmte Melissa zu.
Er legte den Rückwärtsgang ein - ein Glück das der Wagen Frontantrieb hatte
- und trat auf das Gaspedal. Ein Ruckeln ging durch das Auto, als der Motor
ansprang. Erst drehten sich die Reifen nur knirschend im Schnee, dann trafen
sie auf die vereiste Erde, und beförderten den Ford zurück auf die Straße.
Paul atmete erleichtert auf. Er riss das Lenkrad nach links herum und sie
fuhren weiter, mit dem schleifenden Geräusch der freiliegenden Felge in
den Ohren. Nach etwa einer halben Meile - das Geräusch der Felge hörte sich
verdammt beunruhigend an und Paul wäre zwei mal fast wieder auf einem verdammten
Maisfeld gelandet - sahen sie ein Straßenschild auf dem in verblichenen
Lettern
Willkommen
in
Hobb's End
stand. Irgendein Witzbold hatte den Aufkleber eines Radiosenders über das
S geklebt, und das Schild stand ein wenig schief in der Erde. Keiner der
beiden sagte etwas, aber jedem fiel eine ganze Felslawine vom Herzen.
Kurz darauf tauchten die ersten Straßenlampen (von denen nur noch jede zweite
ging) und Bauerhöfe auf. Was Paul überraschte war, das nun entlang der Straße
(wie ihm vorkam die einzige in der Stadt) auch Häuser auftauchten.
Er parkte den Ford vor Joe's Bar, die leider schon geschlossen hatte.
"Komisch", sagte Melissa. "Ich hab noch keinen Menschen hier gesehen."
Paul warf einen Blick auf eines der Häuser und sah, dass Licht brannte.
"Wir sind ja auch nicht in New York, wo man Nachts aufpassen muss, dass
man nicht über einen Besoffenen stolpert. Außerdem ist es halb 3 Uhr nachts
und es schneit verdammt heftig. Da kannst du nicht viel erwarten."
Sie sah ein, dass er recht hatte.
"Und was jetzt?"
"Wenn Joe's Bar zu ist, dann hat Steve's Werkstatt wahrscheinlich
auch geschlossen, oder?"
Das entlockte ihr ein verhaltenes Lächeln.
"Dann müssen wir Bates' Motel suchen."
Er grinste zurück, und wären sie nicht in dieser beschissenen Situation,
würden beide wahrscheinlich in schallendes Gelächter ausgebrochen. "Norman
Bates würde hier nach kürzester Zeit pleite gehen. Wir warten am besten
bis morgen früh. Da kann uns dann sicher jemand helfen. Um diese
Zeit bei diesem Wetter in diesem Kaff finden wir wohl kaum
jemanden. Wir können nicht irgendjemanden aus dem Bett klingeln."
"Und du glaubst ich kann jetzt schlafen?"
"Vorhin hast du es auch gekonnt. Um die Uhrzeit kann das jeder."
Vorhin hatten wir auch vier Reifen wollte sie sagen, aber statt dessen
drehte sie sich von ihm weg, und lehnte den Kopf gegen ihren Pelzmantel
- ein Geschenk ihrer Mutter, das sie vermutlich ein Vermögen gekostet hatte.
"Gute Nacht, Schneewittchen!", flüsterte Paul grinsend.
"Das war Dornröschen!", murmelte sie.
Er sagte nichts mehr, sondern lehnte sich zurück. Gegen 3 Uhr stellte Paul
fest, dass er derjenige war, der Probleme beim Schlafen haben sollte. Er
war nur kurz eingedöst, aber jetzt wieder wach. Er warf einen kurzen Blick
auf Melissa, und sah im getrübten Licht der Straßenlampen wie sich ihr Brustkorb
gleichmäßig hob und senkte. "Dornröschen", dachte er, dann schloss
Paul Howell die Augen wieder.
Als Paul erwachte fiel sein von Müdigkeit
getrübter Blick zuerst auf die grün leuchtende Digitaluhr unter dem Tacho
- sie zeigte 9.27 Uhr - dann auf den leeren Beifahrersitz. Es war stockdunkel,
und die vordere Scheibe wurde vollkommen von Schnee eingedeckt, aber er
konnte es trotzdem erkennen. Dann schloss er die Augen wieder, und obwohl
sein Rücken furchtbar schmerzte glitt er einen Moment wieder in den Schlaf.
Es ist 9.27 Uhr, aber noch dunkel. Obendrein ist Melissa weg, und du
schläfst???
Es war vor allem dieser letzte Gedanke, der ihn zurückholte. Er sah noch
einmal auf den Beifahrersitz, der nur vom dem schwachen Licht der Straßenlampen
erhellt wurde - der Mond hatte sich wahrscheinlich hinter ein paar Wolken
versteckt. Ihr Pelzmantel war noch da, aber Dornröschen selbst nicht. Paul
drehte sich um. Auf dem Rücksitz lag nur ihre Handtasche. Das wirke besser
als jeder Kaffee. Mit einem Schlag war Paul hellwach.
"Melissa?"
Keine Antwort. Natürlich nicht. Sie musste draußen sein.
Ohne Mantel?
Er lehnte sich zurück, spürte ein beißendes Stechen im Rücken und seufzte.
Ganz ruhig Paul. Sie wird nur kurz rausgegangen sein, um ihr Wasserwerk
zu leeren. Oder vielleicht hat sie jemand vor Joe's Bar gesehen und
ihn um Hilfe gebeten. Vielleicht hat...
Und wieso ist es um halb zehn noch dunkel?
Die Uhr ist stehen geblieben.
Ist sie nicht!!!
Dieser letzte Gedanke kam nicht vom rationalen Teil seines Verstandes. Paul
hatte den Eindruck, als käme er überhaupt nicht aus seinem Kopf.
Er warf einen prüfenden Blick auf die Digitaluhr - 9:29 - dann auf die Swatch
an seinem Handgelenk. Er konnte die Zeiger nur schwer erkennen, aber der
Kleine stand unweigerlich auf der 6.
"Verdammt, was ist hier eigentlich los", dachte Paul, und bei diesem Gedanken
erfüllte ihn zu ersten Mal dieses Gefühl. Er war kein gewöhnliches, simples
Gefühl wie Angst, Freude oder etwas derartiges, es war in gewisser Weise
alles zusammen, nur manches stärker als das andere. Und derzeit war das
Unbehagen am stärksten. Er wünschte sich zurück nach New York, oder - noch
besser - in die Berge von Colorado, ins Overlook Hotel, wo er mit
Melissa zwei Wochen verbringen wollte.
Er hatte 3 Minuten gewartet. Nur für den Fall dass sie wirklich mit ihrem Wasserwerk beschäftigt war, obwohl er dies nie geglaubt hatte. Sie kam nicht. In diesen drei Minuten wäre er mehrmals fast wieder in den Schlaf gesunken, aber Paul blieb wach. Dafür wäre im Moment wirklich der falsche Zeitpunkt. Jetzt reichte es. Er riss sich die wärmende Daunenjacke von den Oberschenkeln, und stieß wütend die Tür auf. Als Paul hinaustrat sank er sofort bis zum Knöchel in Schnee ein. Er zog sich an, und knallte die Tür zu. In Joe's Bar brannte immer noch kein Licht, nur vereinzelt in ein paar Häusern. Auf der Straße war kein Mensch, einzig der Schein der Laternen hüllte ihn ein. Es war alles genau wie gestern Nacht.
Das war unmöglich. Um 9.30 Uhr war es hell,
auch in Nebraska. Und wo war Melissa?
"Melissa?", rief er.
Keine Reaktion.
Verdammt, was zum Teufel ist los?
Paul begann zu zittern, aber er stand starr auf der Straße und ignorierte
die Schneeflocken, die der Wind ihm ins Gesicht blies.
Wie konnte es um diese Zeit noch so finster sein - finster traf es wesentlich
besser als dunkel, oder nicht? Wo war Melissa? Wo waren alle anderen? Und
noch wichtiger, was sollte er jetzt tun? Er rief erneut nach ihr, bekam
aber nur vom Rauschen des Windes eine Antwort. Paul öffnete die Wagentür,
und nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Vorerst reichte das Licht
der Straßenlampen - auch wenn fast jede zweite ausgefallen war - aber etwas
sagte ihm er würde sie vielleicht brauchen.
"Melissa!!!", diesmal lauter. Irgendjemand musste das doch hören.
Wenn jemand da wäre.
Wieder hatte er dieses Gefühl, doch nun war die Angst am stärksten. Dieser
Gedanke war ihm noch nicht gekommen. Na gut, in ein paar der schäbigen Häuser
brannte Licht, aber es musste zumindest manchmal an- oder ausgeschaltet
werden. Er blickte die Straße entlang, und neben den Ford, aber er konnte
keine Fußspuren im Schnee sehen. Melissa musste schon ziemlich lange weg
sein. Aber wieso war keiner auf der gottverdammten Straße?
Was erwartest du von einem Ort, wo es um halb 10 noch dunkel ist.
Das gab ihm den Rest. Paul verspürte den unheimlich starken Drang in den
Wagen zu steigen und zu verschwinden - verdünnisieren, wie seine
Mutter immer gesagt hatte. Melissa einfach hier lassen, und weiter fahren,
egal wohin. Dieser Ort gefiel ihm nicht, war ihm sogar ziemlich unheimlich.
Dann fiel ihm der Reifen ein.
Zum ersten Mal wurde Paul Howell bewusst, dass er in wirklich ernsthaften
Schwierigkeiten steckte.
Vorhin war sie noch nicht da gewesen. Da
war er sich ganz sicher. Nicht bevor er die Taschenlampe geholt hatte, und
gestern auch nicht. Neben Joe's Bar - inzwischen begann er sie zu hassen
- erstreckte sich die ziemlich enge Straße, auf der einige Autos parkten.
Paul starrte erschrocken darauf. Er war sich sicher, dass sie vorher nicht
da war, aber... er musste sich irren. Oder aber er...
Paul!
Ein leises Flüstern in seinem Kopf, oder vielleicht neben seinem Ohr. Aber
unverkennbar Melissas Stimme. Paul fuhr herum, wobei er fast im Schnee ausrutschte,
aber da war niemand. Also doch in seinem Kopf.
Und obwohl Paul immer noch hier weg wollte - und fürchterlich bibberte -
trugen ihn seine Füße die Straße neben Joe's Bar entlang. Genauso
sicher wie er gewusst hatte, dass er die Taschenlampe brauchen würde, wusste
er nun auch, wo er Melissa finden würde. Was blieb ihm auch übrig, außer
seiner Intuition zu folgen. Er saß in diesem verdammten Kaff fest und er
musste Melissa finden, und... und vor allem hier raus. Hier ging irgendetwas
vor, dass er nicht verstand.
"Melissa?"
"Paul ich bin hier!"
Dieses Flüstern war keine Einbildung. Sie war hier. Irgendwo vor
ihm, in dieser Gasse, die es nicht geben durfte, eingehüllt von Dunkelheit,
die es genauso wenig geben durfte, und Schnee den es leider reichlich gab.
"Melissa? Wo bist du?"
Diesmal bekam er keine Antwort.
Er stampfte weiter durch den Schnee, und merkte wofür er die Taschenlampe
brauchte. Neben dieser Straße gab es keine Laternen, warum auch immer. Inzwischen
wunderte ihn gar nichts mehr. Der Lichtkegel schwenkte von rechts nach links,
fiel aber auf nichts von Bedeutung, außer... außer einem Schatten. Ein dunkler
Fleck der kurz darauf nach rechts verschwand tauchte kurz im Schein der
Lampe auf.
"Melissa!!! Verdammt, bist du hier irgendwo?"
"Hier Paul!"
Das kam von überall her, aber gleichzeitig von nirgendwo. Er folgte dem
Schatten und nach einigen Schritten sah er eine alte, rostige Eisentür in
einer Marmorwand. Sie stand offen. Erneut verspürte er den Drang zum Wagen
zurückzulaufen, aber er wiederstand ihm. Statt dessen trat er durch die
Tür, in die abweisende Schwärze dahinter.
"Hallo? Jemand da?" Er war gut drei Meter
in die Halle eingetreten.
Keine Antwort, aber dennoch hörte er das monotone Flüstern von Stimmen,
die wie sehr weit entfernt klangen. Er rief erneut, doch vergeblich. Nur
das Nuscheln der Stimmen die nicht da waren. Oder doch?
Paul, verschwinde von hier! Melissa geht es gut, aber dir bald nicht
mehr. Verschwinde lieber. Hier geht etwas vor, und du steckst mitten drin.
Lauf zum Wagen, und fahr soweit du auf der Felge kommst, oder lauf einfach
zu Fuß weg. Aber du musst weg von hier. An dieser Stadt ist etwas faul.
Es war die warme, einfühlsame Stimme seiner Mutter, aber es hörte sie kaum.
Statt dessen hörte er nur die Stimmen in der Dunkelheit und die Schritte.
Die Stimmen redeten laut und deutlich, aber in einer Sprache, die er nicht
verstand. Trotzdem hörte er auch sein eigenes, pochendes Herz.
Er drehte sich ungeschickt um, wobei er fast der Länge nach hingeflogen
wäre, und versuchte in alle Richtungen gleichzeitig zu leuchten. Aber im
Schein der Lampe tauchten immer nur alte Kisten, und einmal ein großes Eisentor
auf. An den Wänden klebten Spinnweben, und bildeten bizarre Formen. Wohin
der auch sah, das Flüstern und die Schritte waren immer hinter ihm.
Plötzlich spürte er ein heißes Schnaufen neben seinem Ohr. Paul wirbelte
herum, aber da war nichts. Sein Herz begann zu rasen, und seine Kehle schnürte
sich zu. Das alles wurde ihm zu unheimlich.
Wieder Schritte neben ihm, so nah das er sicher war, er könne denjenigen
berühren, der da war. Er streckte seine Hand aus, und für einen kurzen Moment
berührte er etwas kaltes. Erschrocken schrie Paul auf, und riss die Hand
zurück. Als er in die Richtung leuchtete war da niemand. Sein Atem raste.
Paul zitterte am ganzen Leib, aber nicht wegen der Kälte, sondern aus Angst.
"Paul!"
Melissas Stimme. Genau neben seinem Ohr, so dass er ihren Atem spüren konnte.
Das war zu viel. Paul gab einen entsetzten Schrei von sich, und rannte auf
das schwache Licht zu, dass durch die offene Tür hereinfiel. Einen Augenblick
glaubte er sie würde ins Schloss fallen, kurz bevor er sie erreichte und
ihn hier drinnen einsperren, aber sie bewegte sich nicht.
Panisch schnaufend stand er wieder auf der
Straße, die es erst seit ein paar Minuten gab. Er sah sich um, und stellte
erschrocken fest, dass in dem Schnee keine Fußspuren waren. Er musste auf
der falschen Straße sein. Hier gab es auch Straßenlaternen - er schaltete
die Taschenlampe wieder aus, und steckte sie ein - aber noch mal würde er
nicht in diese Lagerhalle gehen, um den richtigen Ausgang zu suchen. Da
würde ihn nichts und niemand mehr reinbringen. Aber was dann? In dieser
Stadt herumirren? Inzwischen war er sich sicher, dass in den Häusern niemand
war, der ihm helfen konnte. Das hier war alles andere als eine normale Kleinstadt.
Was konnte er denn tun außer...
"Paul!"
Wieder Melissa, wieder hinter ihm. Schreiend fuhr Paul herum. Und diesmal
sah er sie, etwa 5 Meter entfernt, mit dem Rücken zu ihm wie sie in ihrer
verblichenen Wrangler Jeans über den Schnee spazierte, und keine Spuren
hinterließ. Doch darauf achtete er nicht. Es war zwar nur eine Siluette
in Toben des Schnees, aber dennoch unverkennbar Melissa.
"Melissa!!!"
Sie reagierte nicht. Paul begann zu laufen.
"Melissa! Warte!"
Wieder sagte sie nichts, sondern ging einfach weiter.
Paul war nur noch knapp hinter ihr. Plötzlich drehte sich Melissa blitzschnell
um, und packte ihn fest an den Schultern.
Er spürte ihren warmen Atem, konnte aber ihr Gesicht nicht sehen. Ein unnatürliches
Dunkel lag darüber, kein Schatten sondern einfach die Abwesenheit von Licht.
Als sie zu flüstern began setzte sein Herz aus, und die Welt began sich
zu drehen.
Paul fiel, fiel rückwärts in den Schnee der ihn sanft auffing und umarmte.
Dann wurde alles schwarz.
Als er wieder zu sich kam lag er verrenkt
auf dem Rücksitz des Fords. Die Lampe im Dach des Wagens war eingeschaltet,
und spie gleißendes Licht in seine Augen. Er kniff sie zusammen, und stellte
fest, dass der Ford fuhr. Sein Kopf dröhnte, wie bei einem apokalyptischen
Kater nach einer wilden Pokernacht mit Harry und den anderen Jungs.
Längere Zeit konnte er keinen klaren Gedanken fassen, und sich auch nicht
an das erinnern, was passiert war. Er lag einfach da und stöhnte während
er seine Augen vor dem Licht schützte.
Dann richtete Paul sich auf und sah, dass Melissa am Steuer des Wagens saß.
"Bist du wach, Paul?" Ihre Stimme klang seltsam, so als würde sie durch
ein Mikrophon sprechen.
"J-ja. W-was ist pa-passiert?"
"Gut, wir sind nämlich bald da."
"Wo? W-Wo fahren wir denn hin?"
Er versuchte daran zu erinnern was passiert war, und wo sie hinfahren wollten,
konnte es aber nicht.
Während der Unterhaltung hatte Melissa den Blick starr auf der Straße gehalten,
aber jetzt drehte sie sich um. Wo einmal glänzend blaue Augen ihn angestrahlt
hatten - Paul musste dabei an Melissas alberne Kontaktlinsen mit den Smilies
darauf denken - standen jetzt nur noch zwei leere, schwarze Höhlen. Ihr
Gesicht hatte eine abscheuliche grüne Färbung bekommen, war voller Blasen,
die an manchen Stellen aufgeplatzt waren und aus denen statt Eiter Blut
tropfte. Gelbe, verfaulte Zähne standen in unnatürlich grotesken Formen
in ihrem Mundraum.
"Wir fahren nach Hobb's End!", sagte sie. "Es wird dir gefallen. Am Anfang
fühlt es sich komisch an, aber es wird dir gefallen. Sie werden dich zu
einem von uns machen, Paul." Dann brach sie in teuflisches Gelächter aus
und drehte sich wieder um. Mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück.
Paul schrie, schrie was seine Lungen hergaben, schrie sein Entsetzen heraus
bis er schließlich wahnsinnig wurde, und sich Schwärze über seinen Verstand
legte.