© 2003 Birger Berbüsse
Pechschwarz gähnte das Loch im Boden vor ihnen. Die vier Kinder standen nervös vor dem Gulli, dessen Deckel verschwunden war.
"Wollen wir da wirklich runter gehen?" fragte Michael und schaute in die Runde. Kai kaute hastig auf seinem Kaugummi, während Nick die ganze Zeit mit den Händen einen nur ihm bekannten Rhythmus auf seine Beine trommelte. Einzig Markus stand seelenruhig da und schaute in den Schacht hinab.
"Was sollen wir denn sonst tun?" fragte er. "Es ist doch nichts los hier, und bis jetzt waren die Ferien zum Sterben langweilig. Das hier ist endlich mal ein bisschen Action!"
"Stimmt", sagte Kai und spuckte das Kaugummi in die Tiefe. "Es sind schon zwei Wochen rum, und wir haben noch nichts gemacht außer dem üblichen Kram. Ich bin dafür, dass wir zumindest kurz runtergehen und uns da mal ein bisschen umgucken."
"Und was ist mit den Ratten?" Nicks Trommeln wurde heftiger. "Da unten gibts bestimmt hunderte Ratten. Und Spinnen." Er schaute Markus an. "Ich hasse Spinnen."
"Ok, Jungs, was ihr macht, ist mir total schnuppe", sagte Markus. "Ich gehe jetzt nach Hause zum Mittagessen und klettere dann da runter. Wer kommt mit?"
"Bin dabei", sagte Kai.
"Von mir aus- aber wirklich nur kurz umschauen und dann wieder hoch", schloss sich auch Michael dem Expeditionstrupp an.
"Ich weiß nicht", sagte Nick.
Markus schaute ihn an. "Jetzt stell dich nicht an, Nick. Sei doch nicht so ein blöder Angsthase."
Nick hörte sofort auf zu trommeln. "Ich bin kein Angsthase", sagte er. "Um ein Uhr wieder hier, richtig?"
Damit drehte er sich um und ging los. Die anderen schauten sich kurz an und folgten ihm dann.
Vor zwei Wochen hatten die Sommerferien begonnen. Sie hatten allesamt die sechste Klasse bestanden und würden gemeinsam in die Mittelstufe gehen. Doch vorher, so hatten sie sich vorgenommen, wollten sie die aufregendsten Ferien ihres Lebens verbringen. Daraus war bis jetzt allerdings noch nichts geworden. Denn die ersten Tage hatte es nur geregnet (im Juli- das musste man sich mal vorstellen!), so dass die Vier die Tage drinnen verbringen mussten und ein Computerspiel nach dem anderen durchzockten, das Fernsehprogramm rauf und runter sahen und sich eigentlich zu Tode langweilten. Als der Regen dann nach acht langen Tagen endlich aufhörte, verbrachten sie ihre Zeit zwar wieder draußen. Allerdings fiel ihnen vorerst nichts Besseres ein, als Fußball zu spielen oder im Wald hinter ihrem kleinen Dorf Krieg zu spielen. Alles, was sie auch sonst nachmittags nach der Schule gemacht hatten.
Doch dann hatte Markus den offenen Gully entdeckt. Er war morgens um zehn auf dem Weg zum Sportplatz gewesen, wo sie zum Fußball spielen verabredet gewesen waren. Weil er sich ein bisschen verspätet hatte (er hatte noch "King of Queens" zu Ende geschaut), nahm er die Abkürzung durch "das Eck", eine kleine Sackgasse, die durch das alte Industriegebiet (wenn man eine Tischlerei und eine Zwei-Mann-Werkstatt Industrie nennen wollte) des Ortes führte. Am Ende der Gasse stand eine kleine Mauer, und hinter der lag die Hauptstraße, die man nur noch zweihundert Meter hinuntergehen musste, um zum Sportplatz zu gelangen, der ein wenig außerhalb gelegen war. Markus war gerannt und wäre dabei fast in das Loch im Boden gestürzt. Im letzten Augenblick hatte er die Gefahr erkannt und war nach links ausgewichen, wobei er stürzte und sich das Knie prellte. Doch der Schmerz war schnell vergessen, als er die Möglichkeit sah, die ihnen das Fehlen des Gully-Deckels bot. Wo dieser abgeblieben war, ließ sich nicht erklären. Er war jedenfalls nirgendwo in der Nähe zu entdecken. Für Markus gab es eh nur noch den Gedanken an die Abenteuer, die da unten auf ihn und seine Freunde warteten. Also hatte er sich den Dreck von der Hose geklopft, den Rucksack mit seinem Sportzeug wieder festgezurrt und war weiter zum Sportplatz gerannt, wo ihn die anderen schon erwarteten.
"Hey, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!" rief ihm Michael entgegen und parierte einen harten Schuss von Kai.
"Ich muss euch was zeigen! Hab was Cooles entdeckt", sagte Markus und führte die anderen, nachdem sie sich wieder umgezogen hatten, in die Gasse. Danach gingen sie jeder nach Hause und trafen sich um dreizehn Uhr wieder im "Eck", jeder ausgerüstet mit einer Taschenlampe und ein wenig Proviant für den Nachmittag.
Michael hörte das Platschen, als Markus unten in eine Pfütze sprang. Er stand als letzter oben und schaute sich noch einmal um, ob sie auch niemand beobachtete. Das war allerdings sowieso unwahrscheinlich, denn seit die beiden Läden im "Eck" dichtgemacht hatten, verirrte sich kaum noch jemand her.
"Ey, Michi, was ist? Kommst du noch? Wir waaarten!" bölkte Markus nach oben.
"Jaja, komme ja schon." Michael kletterte rückwärts in das Loch und strampelte etwas mit den Füßen bis sie endlich die kleine Leiter aus Stahl fanden. Dann ließ er sich weiter herab und begann zu klettern. Schnell hüllte ihn die Dunkelheit ein, denn das Tageslicht drang nicht sehr weit in den Schacht hinab. Unten erkannte er den schwachen, aber warmen Lichtschimmer der Taschenlampen seiner Freunde.
"Vorsicht jetzt, den letzten halben Meter musst du springen!" sagte Kai.
Michael ließ los, landete ebenfalls in der Pfütze und rutschte aus. Er landete unsanft auf dem Hosenboden. "Ähh, Scheiße", rief er und sprang wieder auf. Doch es war zu spät. Sein Hintern war klitschnass.
"Hö, siehst aus, als hätteste dir in die Hosen gekackt, Michi!" sagte Markus. Auch Kai und Nick grinsten sich an. Michael ignorierte sie und kramte seine Taschenlampe aus dem Rucksack. Als er sie endlich eingeschaltet hatte, schaute er sich zum ersten Mal um.
Direkt über ihm befand sich der Schacht, durch den sie herunter geklettert waren. Doch erst jetzt erkannte Michael, dass die Wände voll von Spinnweben und anderem ekligen Zeugs waren. Er blickte hastig wieder nach unten. Die vier standen in einer großen Pfütze, mit der sein Hintern ja schon gute Bekanntschaft gemacht hatte. Das Rohr, das sich nach links und rechts erstreckte, war etwa 1,20 hoch. Jedenfalls mussten sie sich ducken, wenn sie ihm folgen wollten. Wohin das Rohr führte, war nicht zu erkennen. In beiden Richtungen verschwand es in der Dunkelheit. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampen reichte nicht aus, um dem Verlauf des Rohres bis zu einer Kreuzung oder einer möglichen Kurve zu folgen. Vor ihnen erstreckte sich pechschwarze Nacht, nicht gewillt, ihre düsteren Geheimnisse preiszugeben.
"Und? Was machen wir jetzt?" fragte Nick.
Markus überlegte und zeigt dann in die Richtung, in der die Hauptstraße lag. "Wir gehen da lang. Auf der anderen Seite von der Straße fließt doch der Bach. Und bei der Brücke kommt ein Rohr aus der Wand. Ich denke, das ist das Ende von diesem hier."
"Aber, aber ich dachte, wir wollten uns nur mal kurz hier umschauen?" Nicks Stimme zitterte.
"Ich habs mir anders überlegt. Finds spannender, wenn wir hier mal ein bisschen rumlaufen. Kommt ihr mit?"
Kai nickte, und Michi sagte "Klar", obwohl ihm ein bisschen unwohl bei dem Gedanken war, durch die Kanalisation zu laufen. Nick schien es ebenso zu gehen, aber da er nicht wieder als Feigling da stehen wollte, schloss er sich den anderen Drei an. Und so marschierten sie los, Markus voran, dahinter Michael und Kai, und am Ende folgte Nick. Schon nach ein paar Metern hatte die Dunkelheit sie umschlossen und Nick konnte den Schacht hinter sich nicht mehr sehen. Dafür hörte er jetzt etwas. Kleine trippelnde Schritte.
Markus war ein Jahr älter als die anderen. Die zweite Klasse hatte er wiederholen müssen. Nicht, weil er dumm war oder so. Nein, er hatte damals fast das gesamte Schuljahr im Krankenhaus verbracht, unter anderem wegen einer schweren Mittelohrentzündung und weiterer Krankheiten, die bei ihm fast alle auf einmal ausgebrochen waren. Und so kam es, dass Markus in ihre Klasse kam. Sie freundeten sich schnell an und gründeten eine eigene "Bande", wie man das in dem Alter halt so macht. Ohne dass es irgendwie bestimmt worden wäre, wurde Markus ihr Anführer, vermutlich einfach deshalb, weil er der Älteste und Kräftigste von ihnen war. Sie verbrachten die Nachmittage damit, auf dem Sportplatz Fußball oder im nahe gelegenen Wald Krieg, Cowboy und Indianer oder anderes zu spielen. Abends trafen sie sich abwechselnd bei einem von ihnen zu Hause, um gemeinsam "Die Simpsons" zu gucken oder Computer zu spielen. Sie waren unzertrennlich und – erstaunlich für Jungs in ihrem Alter – hatten sich nie ernstlich gestritten. Markus sorgte schon dafür, dass sie zusammenhielten. Zwar hatte er manchmal eine hochtrabende Art an sich, aber er übertrieb es nie, so dass sein Anführerstatus nicht in Frage gestellt wurde. Er organisierte ihre nachmittäglichen Treffen, und er war es auch, der die guten Ideen hatte, wenn man mal was Neues und Aufregendes erleben wollte. So wie heute, als er den offenen Gully entdeckt und sofort die Möglichkeiten erkannt hatte. Dass er Nick einen Angsthasen genannt hatte, war nicht wirklich ernst gemeint gewesen. Er wusste halt nur, wie man den Kleinsten von ihnen anpacken musste, um ihn zu überzeugen, etwas Gefährliches mitzumachen. Und seit Nick, der wirklich ziemlich klein und schmächtig für sein Alter war und fast einen ganzen Kopf kleiner als Markus, letzten Sommer schreiend weggelaufen war, als Herr Müller ihnen eine Tracht Prügel angedroht hatte (sie hatten zum wiederholten Male Klingelpost bei ihm gemacht), reagierte er äußerst allergisch auf das Wort "Angsthase".
Jetzt war Markus froh, dass er Nick hatte überzeugen können. Der Junge hatte es im Kindergarten und in der Schule nicht leicht gehabt. So zierlich wie er war, und dazu auch noch Brillenträger- die anderen Jungs hatten es regelrecht auf ihn abgesehen, und Nick hatte wohl ganz schön zu leiden gehabt. Bis Markus in seine Klasse gekommen war und sich mit ihm und den anderen beiden angefreundet hatte. Markus (der schon für sein Alter recht stark war) hatte den anderen Jungs klar gemacht, dass sie sich auch mit ihm anlegen würden, wenn sie Nick weiter ärgerten. Danach herrschte Ruhe.
"Hörst du das auch?" fragte Nick.
Kai blieb stehen und drehte sich zu ihm um. "Nein, was denn?"
"Ratten. Ich glaube, das sind Ratten. Hör doch mal genau hin!"
"Ey, bleibt mal stehen", rief Kai den beiden an der Spitze zu. Dann lauschte er. Und tatsächlich: Irgendwo in der Ferne, in der alles umschließenden Dunkelheit der unzähligen Rohre der Kanalisation hörte er ein leises Trippeln und Rascheln wie von Hunderten von kleinen Füssen. "Oh Scheiße, ich glaube, Nick hat Recht!"
"Was denn?" fragte Markus und kam zu ihnen. Der Strahl seiner Taschenlampe streifte über die Wand zu seiner Linken und enthüllte Dreck, Schlamm und unzählige Spinnweben.
"Ich glaube, ich höre Ratten", sagte Nick zu ihm und Michael. Sie standen alle still und lauschten. Das Geräusch schien näher gekommen zu sein und sich von hinten zu nähern.
"Los, weiter! Die sind hinter uns", meinte Markus und wandte sich wieder zum Gehen.
Kai und Nick, dessen Leichenblässe man da unten in der Finsternis nicht sehen konnte, folgten ihm. Michael blieb stehen und ging den Weg, den sie hinter sich gelassen hatten, ein paar Schritte zurück. Das Trippeln hatte aufgehört, nur noch die lauten Schritte seiner Freunde waren zu hören. Michael richtete den Lichtstrahl zu Boden. Dort verlief ein schwaches Rinnsal trüben Wassers durch zentimeterhohen Schlamm. Ihre Fußspuren waren gut zu erkennen, und Michi schaute sich seine Schuhe an. Sie waren kackbraun und total ruiniert. "Toll", flüsterte er und dachte an die Reaktion seiner Eltern.
Da! Wieder ein leises Geräusch vor ihm. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die vermutete Richtung, doch bekam nichts zu sehen außer nacktem Stein und noch mehr Dreck.
Dann sprang ihn etwas an.
Michael und Kai waren Nachbarn und Freunde, solange sie denken konnten. Schon als Kleinkinder hatten sie im Sommer gemeinsam auf der Wiese hinter ihren Häusern gespielt, während ihre Eltern auf den Gartenstühlen saßen und kaltes Bier aus Flaschen tranken. Dann waren sie in den Kindergarten gekommen und dort in zwei verschiedene Gruppen eingeteilt worden. Nach einem Tag voller Geschrei und Heulen auf beiden Seiten hatten sich die Betreuer schließlich erbarmt und Michael in Kais Gruppe geschickt. Alles war wieder in bester Ordnung gewesen, und die Kindergartenzeit war die beste ihres bisherigen Lebens gewesen, wie Michael manchmal dachte. Denn in demselben Jahr, als sie eingeschult wurden, ließen sich Kais Eltern scheiden. Für Kai brach eine Welt zusammen und wenn er abends alleine in seinem Zimmer war, weinte er viel und heftig. Aber er sprach nie darüber mit Michael, der das ganze von seinen Eltern erklärt bekommen hatte, denn so etwas tun starke Jungs doch nicht, oder? Nein, Kai schwieg, und Michael traute sich seinerseits auch nicht, mit dem Thema anzufangen. Aber er merkte schon, dass Kai immer stiller und verschlossener wurde. Sie unternahmen zwar noch immer alles gemeinsam (mittlerweile zusammen mit Nick, der gleich am ersten Schultag ihr Freund geworden war), aber trotzdem redete Kai immer weniger und grübelte vor sich hin. Selbst als später Markus zu ihnen gestoßen war und sie offiziell ihre Bande gründeten, änderte sich das nicht. Kai war zwar immer dabei, aber doch immer der Stille. Etwas war in ihm zerbrochen, als seine Eltern auseinander gegangen waren, und das würde nie wieder zu reparieren sein. Michael verstand das irgendwie. Zwar wusste er nicht, wie er reagieren würde, sollten sich seine Eltern eines Tages nicht mehr lieben (was Gott behüten möge), aber das käme Kais Reaktion wohl ziemlich nahe.
Jetzt allerdings hatte Michi ganz andere Sorgen.
Ein Schrei gellte durch die Kanalisation und wurde mit mehrfachem Echo wieder zurückgeworfen. Sie blieben stehen und schaute zurück.
"Wo ist Michi?" fragte Kai.
"Er war doch eben noch hinter uns!" Nick bekam es mit der Angst zu tun.
"Kommt schon, wir müssen ihn suchen!" rief Markus und rannte los. Die anderen Zwei folgten ihm.
Hinter einer lang gestreckten Kurve stießen sie auf Michael, der am Boden lag.
"Hey, hey, Michi, ist alles in Ordnung mit dir? Was war denn los?" fragte ihn Markus und half ihm dabei auf die Füße.
"Eine scheiß Ratte hatte mich angesprungen. Verdammt!"
"Seht ihr", rief Nick, "ich habe euch doch gesagt, hier gibts Ratten. Lasst uns abhauen, bitte!"
Kai ging zu Michi und gab ihm etwas von seiner Cola, die er dabei hatte. "Hat sie dich gebissen oder so?"
"Nein, nein. Hat sie nicht. Nur angesprungen, und dann war sie auch schon wieder weg. Mir gehts gut."
"Ok, lasst uns weitergehen. Wir müssten eigentlich gleich beim Bach sein, und dann sind wir hier raus. Kommt!" Markus richtete den Strahl seiner Taschenlampe wieder in das unheimliche Dunkel vor ihm und stapfte los, Nick dicht an seinen Fersen.
"Gehts?" fragte Kai.
"Ja, hab mich nur tierisch erschrocken. Scheiß Ratten!" sagte Michael, und die Zwei folgten den anderen, bevor sie von dem alles verdrängenden Schwarz verschluckt wurden.
Hinter ihnen waren wieder Schritte zu hören. Aber sie stammten nicht von Ratten, sondern von etwas viel, viel Größerem.
Nachdem sie dem Rohr eine Stunde lang gefolgt waren, ohne auch nur einen kleinen Schimmer von Tageslicht zu sehen, wurde auch Markus langsam klar, dass er sich verschätzt hatte. Nick (wer auch sonst?) hatte als erster die Befürchtung geäußert, dass der Kanal nicht zu dem kleinen Bach führte, der durch das kleine Dorf floss. Anfangs hatten ihn die anderen noch beruhigt, aber nachdem sie nur immer weiter ins Ungewisse vorstießen und im schwachen Schein ihrer Taschenlampen nichts anderes sahen als Schlamm, Dreck und immer größer werdende Spinnweben, begannen auch Kai und Michael, sich Sorgen zu machen. Jetzt standen sie vor einer T-Kreuzung und Markus sprach endlich aus, was die anderen längst zu wissen glaubten: "Ich glaube, ich habe mich wohl irgendwie vertan. Wir hätten doch schon längst beim Bach sein müssen."
"Seht ihr", schluchzte Nick, "hab ich doch die ganze Zeit gesagt. Wir hätten uns nur kurz umgucken sollen und wieder raus. Jetzt stehen wir hier blöd rum und ham keine Ahnung, wo wir lang müssen!"
"Ist doch ganz einfach- gehen wir halt einfach wieder zurück!" schlug Kai vor.
"Spinnst du?" fragte Michael. "Das ist doch ne ganze Stunde, bis wir wieder bei dem Gully sind."
"Michael hat recht", warf Markus ein, "ich hab auch keinen Bock, jetzt den ganzen Weg wieder zurück zu latschen. Wir sollten uns für eines von den beiden Rohren hier entscheiden."
"Nein, lasst uns zurückgehen. Das ist doch am sichersten, oder nicht?" fragte Nick. Er stand ein wenig abseits von den anderen, mit dem Rücken zum rechten Rohr, das ein Stück höher war als das linke, dafür aber noch düsterer.
"Ich bin für das rechte Rohr", sagte Michael. Er fühlte zwar, wie das Unbehagen, das er schon lange fühlte, stetig zunahm (als würde ihn und seine Freunde etwas wirklich Schreckliches hier unten erwarten), doch hatte er noch mehr Angst, den Kanal wieder zurück zu gehen. Bloß nicht noch einmal der Ratte begegnen, oder womöglich mehreren davon. Deshalb trat er jetzt so vehement dafür ein, einfach einem der zwei neuen Rohre zu folgen.
"Ich bin für Michis Vorschlag", schaltete Markus sich wieder ein. "Das rechte Rohr hier sieht doch ganz gut aus. Ist schön groß. Das führt bestimmt irgendwo raus. Vielleicht sogar am Bach."
"Ok, meinetwegen. Will nur noch eben was trinken." Kai setzte seinen Rucksack ab und holte seine Cola-Flasche hervor. Als er getrunken hatte, bot er den anderen auch einen Schluck an. Doch die starrten ihn nur mit großen Augen an. "Ey, was habt ihr denn? Ist irgendwas?" Dann bemerkte er, dass sie ihm alle auf die linke Schulter blickten. Kai erstarrte. Und jetzt fühlte er es. Dort bewegte sich irgendetwas. Ein Etwas mit vielen Beinen.
"Eine Spinne", bibberte Nick.
"Und was für eine. So eine große hab ich ja noch nie gesehen." sagte Markus. "Nicht bewegen, Kai!"
Kai fühlte, wie der Ekel in ihm aufstieg. Das Viech krabbelte seine Schulter entlang, näherte sich langsam und unaufhaltsam seinem Nacken und…
"Ha!" schrie Markus und stieß die Spinne mit seiner Taschenlampe von Kai herunter. Dann sprang er auf das am Boden liegende Tier und trat sie platt. Es gab ein widerliches, platzendes Geräusch und weißer Schleim quoll unter seinem Schuh hervor. Als er ihn wieder wegzog, konnte Kai die Überreste der Spinne betrachten. Zwar war sie jetzt im wahrsten Sinne des Wortes platt, doch (so schätzte er) vorher musste sie die Größe eines Tennis-Balls gehabt haben. "Ich glaube, mir wird schlecht", stammelte er.
"Kommt, lasst uns hier abhauen. So große Spinnen dürfte es hier doch gar nicht geben, oder?" Nick zurrte seinen Rucksack fest und leuchtete in den dunklen Tunnel vor ihm. Viel war nicht zu sehen.
"Nick hat Recht. Machen wir, dass wir hier wegkommen. Das ist ja echt eklig." sagte Michi und folgte ihm.
Markus wandte sich an Kai, der mit zitternden Händen versuchte, seinen Rucksack zu schließen. "Alles klar? Soll ich dir helfen?"
"Ja, bitte. Das Biest hat mir echt Angst gemacht. Danke, dass du es kalt gemacht hast."
"Bitte, bitte. – So, auf geht’s." Markus hatte den Reißverschluss des Rucksacks zugezogen und ihn Kai wieder aufgesetzt. Dann stieß er ihn an, und die beiden verschwanden ebenfalls in der ewigen Nacht des rechten Rohres.
Und das war auch gut so. Denn wären sie nur eine Minute länger an der Gabelung stehen geblieben hätten sie die Bekanntschaft mit etwas gemacht, vor dem die Ratten schon lange geflohen waren. Etwas gewaltiges, Unaussprechliches hatte sich auf die Jagd gemacht. Und es kam immer näher.
Zum ersten Mal, seit er mit den anderen befreundet war, führte Nick die Gruppe an. Er war zwar ihr Freund, doch bislang immer nur Mitläufer gewesen. Das lag nicht daran, dass die anderen ihn nicht ließen. Nur war Nick einfach ein ziemlich unsicherer Junge, was vor allem darin begründet lag, dass er besonders im Kindergarten viel unter den anderen Kinder zu leiden hatte, und dass ihn seine beiden älteren Geschwister regelmäßig wissen ließen, er sei zu nichts zu gebrauchen. Irgendwann hatte er dann angefangen, dass selbst zu glauben und sich immer gedrückt, wenn es mal etwas wichtiges zu entscheiden gab in ihrer kleinen Bande. Doch jetzt stand er ganz vorne in der Reihe und die anderen folgten ihm. Diese Premiere war ihm allerdings nicht bewusst, denn er hatte mittlerweile solche Angst, dass er nur noch schnellstmöglich wieder ans Tageslicht wollte.
Seine Taschenlampe huschte über die Wände und über die Decke. Solche Steine, wie sie hier verwendet worden waren, hatte Nick noch nie gesehen. Der Bau musste wirklich verdammt alt sein. Aber was ihm am meisten Sorgen bereitete (neben der Möglichkeit, dass sie sich verlaufen könnten und hier unten verhungern würden, ohne jemals gefunden zu werden), waren die Spinnweben, die die Wände bedeckten. Sie wurden scheinbar mit jedem Meter, den die Jungs nach vorne machten, größer und dichter. Nick hoffte inständig, nicht noch einmal eine so fette Spinne sehen zu müssen, wie die vorhin auf Kais Schulter. Mann, war die groß gewesen. Ihre langen Beine und unheimlichen, schwarzen Augen sah er immer noch vor sich. Das bedeutete mit Sicherheit Alpträume für die nächsten Wochen. Wenn nicht noch Schlimmeres geschah.
"Nick, halt mal an." Flüsterte Michi hinter ihm. Er drehte sich herum und sah, dass die anderen drei ebenfalls stehen geblieben waren und konzentriert lauschten. Nick tat es ihnen gleich. Er hörte Schritte, weiter hinten im Gang, aber nicht allzu sehr entfernt. Und es waren ganz bestimmt keine menschlichen.
"Was ist das?" fragte er in die Runde. Die anderen zuckten nur mit den Achseln. Nick leuchtete sie an. Sämtliche Farbe war aus ihren Gesichtern gewichen. Markus ging langsam ein paar Schritte zurück und leuchtete in das Dunkel, das so unergründlich hinter ihnen lag. Aber der Strahl seiner Taschenlampe verlor sich in der Endlosigkeit des Tunnels, und Markus wollte sich schon wieder herumdrehen. Da machte er am Rande des Lichtkegels eine Bewegung aus. Als er erkannte, was da auf sie zukam, schrie er laut auf.
"Lauft!" schrie er. "Lauft, verdammt noch mal!"
Als er noch im Kindergarten gewesen war, war Markus mal vor einem Hund geflohen. Es war an einem schönen Samstagnachmittag im Sommer gewesen, und seine Eltern hatten mit ihm einen Ausflug in den Park gemacht. Während sie auf einer Bank gesessen hatten, war Markus auf dem Spielplatz beschäftigt gewesen. Die Rutsche rauf, die Rutsche runter. Immer und immer wieder. Gab es etwas Schöneres? Die Sonne brannte, der Himmel strahlte im schillerndsten Blau, der Park war voll mit Dutzenden verliebter Pärchen, Eltern mit ihren Kindern oder Rentnern, die sich endlich mal wieder nach draußen wagten. Dann kam der Hund.
Niemand der Anwesenden sah genau, wo der Rottweiler plötzlich herkam. Lautes Kläffen und Bellen ließ alle aufschrecken, und dann war er mittendrin. Er machte Jagd auf einen kleinen Terrier, biss und balgte sich mit ihm. Dann entdeckte er Markus, der ganz alleine im Sand des Spielplatzes stand. Er musste irgendeine Geste gemacht haben, die den Hund reizte, denn der stürzte sich plötzlich mit lautem Bellen auf den kleinen Jungen. Markus’ Eltern schrieen auf, doch waren sie zu weit entfernt, um etwas ausrichten zu können. Markus sah den Hund auf sich zu stürzen und rannte los. Dabei blieb er mit dem linken Fuß im Sand stecken, fiel der Länge nach hin und riss sich das Knie auf. Jedes andere Kind wäre vielleicht liegen geblieben und hätte angefangen, zu weinen (um dann von dem Rottweiler zerfleischt zu werden). Aber Markus rappelte sich auf und stolperte weiter vorwärts, den heißen, widerwärtigen Atem des Hundes im Nacken spürend. Geistesgegenwärtig ergriff Markus eine der Sprossen, die hoch zur Rutsche führten und kletterte erstaunlich flink für sein Alter nach oben. Eine Treppe hätte seinen Tod bedeuten können, doch so kam er unverletzt (abgesehen von der Schürfwunde am linken Bein) davon. Ein paar Minuten musste er noch oben in dem Häuschen ausharren, von dem die Rutsche abwärts führte. Dann kam mit hochrotem Gesicht der Besitzer des Hundes gelaufen und legte diesen wieder an die Leine, sich bei allen Umstehenden tausendfach entschuldigend. Von Markus’ Vater musste er trotzdem die schlimmsten und wütendsten Beleidigungen über sich ergehen lassen, während seine Mutter Markus in die Arme schloss.
Er hatte an jenem Tag die schrecklichste Angst in seinem Leben ausstehen müssen und vielleicht zum ersten Mal erfahren müssen, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist. Doch die Flucht vor dem Rottweiler über den Spielplatz war ein Fliegenschiss im Vergleich zu dem, was Markus jetzt auszustehen hatte. Angst war noch ein viel zu freundliches Wort dafür. Panik, Schrecken, Horror- das kam vielleicht in die Nähe von dem, was er fühlte, reichte aber nicht aus, um seine Situation zu beschreiben.
Er hatte dem Grauen ins Gesicht geblickt. Und jetzt war es hinter ihm und seinen Freunden her.
Der Körper der Spinne hatte die Größe eines ausgewachsenen Hundes. Er befand sich dicht über dem Boden, das Hinterteil ein wenig in die Höhe gestreckt, während die unterarmdicken Beine sich unbarmherzig vorwärts bewegten, ohne auch nur ein bisschen an Tempo zu verlieren. Ihre vier schwarzen Augen funkelten hinterhältig im schwachen Widerschein der Taschenlampen und wirkten wie ein Fenster in die schwärzeste Unendlichkeit, und ihr Mund öffnete und schloss sich unaufhörlich.
Markus hörte das Wesen hinter sich immer näher kommen und versuchte, seine Geschwindigkeit ein wenig zu erhöhen. Dabei stieß er mit dem linken Fuß an sein rechtes Bein, und dann lag er auch schon im Schlamm. Hinter sich hörte er die Spinne, drehte sich herum- und schrie.
Michael blieb stehen und schaute sich um. Was er da im schwachen Licht seiner Lampe erblickte, ließ ihn beinahe ohnmächtig werden vor Ekel und Furcht. Markus lag auf dem Rücken, lang ausgestreckt. Über ihm thronte eine gigantische, furcht erregende Spinne, die ihn sofort an "Tarantula" erinnerte. Mit ihren zwei Vorderbeinen hielt sie ihr Opfer fest, während aus ihrem Hinterteil weiße Fäden spritzten und Markus einspannen. Dabei schaute sie Michael aus finsteren schwarzen Augen an. Sie schien zu grinsen.
Seinem Freund war nicht mehr zu helfen, dass stand außer Frage. Er warf einen letzten Blick auf Markus, den man unter dem weißen Zeug kaum noch erkennen konnte und flüchtete wieder in die Dunkelheit. Kai und Nick schienen von dem Zwischenfall, der ihnen einen Freund genommen hatte, nichts mitbekommen zu haben. Von den beiden war weder etwas zu sehen noch zu hören.
Michael rannte, so schnell ihn seine Füße trugen. Mehrere Male wäre er dabei beinahe im Schlamm ausgerutscht oder über Rattenkadaver gestolpert. Aber er schaffte es jedes Mal, sich im letzten Augenblick noch abzufangen und weiter laufen zu können. Hinter sich vernahm er wieder das schnelle, erbarmungslose Krabbeln der Spinne (Es sind sechs, oder? fragte er sich in Gedanken. Oder nein, halt, es sind acht! Ja, Spinnen haben acht Beine!) und er holte noch einmal das letzte sich heraus. Mit hohem Tempo flog er beinahe um eine Krümmung des Rohres- und stürzte über einen großen Gegenstand, der am Boden lag. Schnell rappelte Michael sich wieder auf und wollte schon weiter; da erkannte er, dass es sich um Kais Rucksack handelte. Hatte er ihn vielleicht abgeworfen, um sich von dem unnötigen Ballast zu befreien? Nein, denn als Michael nach links schaute, sah er, dass das, was er nur für eine kleine Einbuchtung im Mauerwerk gehalten hatte, in Wirklichkeit der Eingang zu einem schmalen Gang war. Und Kai hatte seinen Rucksack davor hinterlassen, um ihm und Markus (Der jetzt tot ist, dachte er verbittert) den Weg zu weisen.
Einen Moment lang zögerte Michael, dann kickte er den Rucksack weg und verschwand in dem kleinen schmalen Gang. Er war so hoch, dass er gerade noch aufrecht darin stehen konnte und vielleicht einen knappen Meter breit. Außerdem kam es Michael so vor, als wäre die Dunkelheit, die in diesem von der Menschheit vergessenen Gang herrschte, noch finsterer, noch dicker, noch undurchdringbarer als die in dem Gang, aus dem er gerade kam. Der Strahl seiner Taschenlampe schien sich nur mühsam den Weg durch die fast spürbare Schwärze kämpfen zu können. Aber Michael rannte immer weiter. Die nackte Angst um sein Leben trieb ihn an.
Vor ihm tauchte etwas auf, was er zuerst nicht einordnen konnte, weil er es hier unten nie und nimmer erwartet hatte. Aber es war unbestreitbar eine Tür, die das vorläufige Ende des Ganges markierte. Langsam näherte Michael sich dem Gebilde, das da vor ihm aufragte. Es war aus fünf Brettern zusammengenagelt worden, und hing in drei eisernen Scharnieren. An der linken Seite befand sich ein großes Schloss aus Stahl, das schon vor ewigen Zeiten zertrümmert worden zu sein schien. Kai und Nick mussten hier durch gekommen sein, es gab keine andere Möglichkeit. Also tat er das einzig Mögliche. Michael tippte die Tür an und sie schwang unendlich langsam mit einem grässlichen Quietschen auf.
Was er sah, ließ ihn einen langen, grauenerregenden Schrei ausstoßen, der durch die endlosen Gänge und Kanäle schallte, bis er jäh unterbrochen wurde.
Als der Schrei verklungen war, kamen Kai und Nick aus ihrem Versteck, einer kleinen Nische in der schier endlosen Röhre. Sie schauten sich an. Ihre Gesichter waren starr vor Schreck. "War- war das Michael?" fragte Nick mit zitternder Stimme.
"Ja, ich glaube schon", antwortete Kai und schluckte. Ihm war zum Heulen zumute, aber dafür war jetzt der denkbar ungünstigste Zeitpunkt. Es galt, ihre eigene Haut zu retten, nachdem Michi und Markus wohl beide der Riesenspinne zum Opfer gefallen waren. "Komm, wir müssen weiter, bevor sie uns auch erwischt", sagte er und prüfte seine Taschenlampe. Ihr Licht wurde stetig schwächer, und auch Nicks Lampe schien es nicht mehr lange machen zu wollen.
"Ich habe Angst, Kai. Und wo führt dieses Rohr überhaupt hin?"
"Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal, Hauptsache weg von diesem- diesem Biest da hinten. Komm jetzt!" Kai gab Nick einen Stoß, und sie rannten wieder los. Sie waren jetzt ein bisschen schneller unterwegs, nachdem auch Nick endlich seinen Rucksack los war. Er hatte ihn in der kleinen Nische zurückgelassen, wo sie auf ihre Freunde gewartet hatten, die sie nun nie wieder sehen sollten. Kai hatte seinen eigenen Rucksack schon eher weggeworfen, während er auf der Flucht war. Er hatte kurz angehalten, die Träger von seinen Schultern gestreift und das Ding zu Boden gleiten lassen. Als er wieder losgerannt war, ging ihm kurz durch den Kopf, dass links neben ihm in der Wand so etwas wie ein Loch gewesen zu sein schien. Größer als eine Nische, möglicherweise ein Gang. Doch bevor er sich noch tiefer mit diesem Gedanken auseinandersetzen konnte, war Nick gestürzt, und nachdem Kai ihm aufgeholfen hatte, war der Gang aus seinem Gedächtnis verschwunden, und er dachte nur noch daran, vor diesem grässlichen Wesen zu fliehen, das er nur ganz kurz gesehen hatte, als es um die Kurve gekrabbelt war.
Eine Riesenspinne! Bestimmt so groß wie ein Bernhardiner, wenn nicht noch gewaltiger. Mit acht langen, haarlosen, Beinen, die sich unglaublich schnell und behände vorwärts bewegten. Und diese Augen! Sie waren das Schlimmste gewesen. So kalt und tiefschwarz wie nichts, dass er jemals zuvor gesehen hatte. Und doch schien etwas in ihnen zu sei: Der Tod.
Kai verdrängte den Gedanken an das Monster so schnell, wie er gekommen war und versuchte, noch schneller zu rennen. Doch er merkte, wie ihm langsam die Puste ausging. Trotzdem hatte er Nick schon ein gutes Stück hinter sich gelassen. Er hörte zwar noch dessen Schritte und seine schnellen, gepressten Atemstöße, doch sie wurden immer schwächer. Im Laufen drehte er sich nach hinten, um Ausschau nach seinem letzten noch lebenden Freund zu halten. Ihn selbst konnte er in der finsteren Nacht hier unten nicht ausmachen, doch das auf und ab wippende Licht der Taschenlampe war noch gut zu erkennen. "Beeil dich, Nick!" rief er. "Mach mal ein bisschen zu!" Er wandte seinen Kopf wieder nach vorn und registrierte gerade noch, dass vor ihm im Boden ein Loch klaffte. Noch ehe er sein Gehirn den Beinen befehlen konnte, anzuhalten, war er auch schon hineingestürzt. Er fiel zwei Meter tief und landete mit einem hässlichen Knacken auf dem steinernen Untergrund. Seine Taschenlampe zerbarst in tausend Stücke. Für einen Moment lang war alles schwarz.
Dann erschien Nick am oberen Rand der Grube und leuchtete zu ihm herunter. Kai lag in einer gut einen Meter langen und ebenso breiten Grube. Die Wände waren nackter Fels, bedeckt mit Moos und anderem Unkraut. Aber der Boden fühlte sich äußerst seltsam an. Irgendetwas stach ihm in den Rücken. Er tastete umher und bekam auch etwas zu fassen. Es war ein großer langer Knochen, von dem noch ein paar Fleischfetzen hingen. Kai schaute sich genauer um und sah, dass der ganze Boden von größeren und kleineren Knochen aller Art bedeckt war. Und ein ganz besonders spitzer hatte sich in seinen rechten Oberschenkel gebohrt. Der Schmerz wurde ihm erst in dem Moment bewusst, als er ihn aus seiner Hose herausragen sah wie einen Spieß aus einem Stier.
"Kai!? Ist alles in Ordnung?" rief Nick zu ihm herunter.
"Nein, verdammt! Ich glaub, ich hab mir den Arm gebrochen und ein Knochen hat mein Bein aufgespießt!"
"Wie- ein Knochen?"
"Ein Knochen eben! Hier unten liegen Tausende! Oh Gott, wahrscheinlich ist das eine Falle von dem Vieh!"
So langsam machte sich Panik in ihm breit. Sie verdrängte die Angst, die er in sich gespürt hatte, seit er der Spinne ins Antlitz geblickt hatte, sammelte sich in der Magengegend und stieg unerbittlich höher. Kai fühlte sich, als müsste er gleich kotzen. "Ich will hier raus, Nick!"
Nick ging in die Knie und schaute in die Grube hinab. Sie war so schrecklich tief und ihre Wände wiesen keinerlei Vorsprünge oder Vertiefungen auf, in denen man sich festhalten konnte. Wie sollte er Kai, der auch noch verletzt war und vermutlich nicht aufstehen konnte, da herausbekommen? Ohne Seil oder etwas Ähnliches schien das unmöglich zu sein.
"Kannst du aufstehen?"
Kai versuchte, sich aufzurichten. Aber sofort schoss ein stechender Schmerz durch sein rechtes Bein, und er schrie laut auf.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll!" flüsterte Nick. Seine Stimme hatte etwas an sich, dass Kai zutiefst beunruhigte.
"Was hast du vor, Nick? Nick? Nick!!!!"
Nick hatte blitzschnell die Möglichkeiten überschlagen, wie er Kai aus der Grube befreien sollte und war zu dem Ergebnis gelangt, dass dies ganz und gar unmöglich war. Also beschloss er denjenigen zu retten, für den es noch eine Chance gab: Sich selbst.
Er stand auf, ging ein paar Schritte zurück und rannte in Richtung Grube. Kurz vor ihm Rand stieß er sich mit seinem kräftigeren Bein, dem linken, ab und übersprang die Falle, in die Kai hineingeraten war. Ohne sich auch nur einmal umzuschauen, floh er weiter in die Tiefe de Kanalisation hinein. Und rannte direkt in sein Verderben.
Kai hatte unten auf seinem Bett aus Knochen ungläubig den Verlauf der Ereignisse verfolgt. Nick war einfach aufgestanden, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Und dann hatte er die Grube übersprungen (dass er nicht hineingefallen war, hatte Kai schon gewundert; denn Nick war nicht unbedingt für seine sportlichen Fähigkeiten berühmt) und Kai seinem Schicksal überlassen. Jetzt lag er auf dem Grund dieses Loches, mit einem gebrochen Arm und einem (menschlichen?) Knochen, der in seinem Bein steckte und grausamste Schmerzen verursachte. Aber das Schlimmste von allem war die Dunkelheit. Jetzt, wo Nick weg war, gab es keine Lichtquelle mehr, die den Ort auch nur ein bisschen erhellen konnte. Kai sah nicht einmal die Hand vor Augen, und wenn er es auch noch so sehr versuchte. Eine Träne floss aus seinem Auge und rann langsam über sein verdrecktes Gesicht. Dann heulte er los, heftiger als jemals zuvor in seinem Leben, noch schlimmer als damals, als er erfahren hatte, dass seine Eltern sich trennen würden. Er weinte so stark, dass es wehtat. Der Rotz lief ihm aus der Nase. Ihm war nicht einmal klar, warum er genau weinte: War es die Angst, das Wissen um seinen bevorstehenden und ganz bestimmt schmerzhaften Tod? War es die Trauer um den Tod von Markus und Michael? Oder war es die Verzweiflung, die Wut und die Unverständnis darüber, dass Nick, mit dem er seit ihrer Einschulung durch dick und dünn gegangen war, ihn im Stich gelassen hatte? Kai wusste es nicht. Er vergoss bitterste Tränen, bis keine mehr kamen. Dann lag er still da und schluchzte vor sich hin.
Als er das Krabbeln der Spinne vernahm, die sich ihm mit hoher Geschwindigkeit näherte, lag er ganz ruhig da und erwartete sein Schicksal. Und als sie sich dann in die Grube hinabließ und sich ihr fetter, haarloser Körper über ihn schob, wehrte er sich nicht.
Seine Taschenlampe wurde immer schwächer. Nick blieb einen Augenblick stehen und klopfte auf das Gehäuse. "Komm schon, bitte!!" Dann lief er wieder los, weiter und immer weiter in das Rohr hinein. Er versuchte jeden Gedanken daran zu unterdrücken, was er getan hatte. Einen seiner besten Freunde hatte er im Stich gelassen; ja, hatte er ihn nicht gewissermaßen sogar getötet? Denn Nick war klar, dass Kai höchstwahrscheinlich schon gefressen worden war. Er verscheuchte den Gedanken, doch schon nach ein paar Sekunden tauchte er wieder auf. Vor seinem geistigen Auge sah er Kai, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Grund der Grube lag, umgeben von Knochen, und flehend zu ihm herauf sah. Nick hasste sich dafür. Er hatte überhaupt nicht versucht, Kai zu helfen, sondern war über die Falle hinweg gesprungen (wobei er fest damit gerechnet hatte, ebenfalls hinein zu fallen) und geflohen ohne auch nur ein Wort zu sagen. Aber mein Gott! Wenn er es hier lebend raus schaffen sollte (oh bitte, bitte, bitte!!), würde das doch auch niemand erfahren. Er würde einfach allen erzählen, Kai wäre in die Grube gestürzt und hätte sich das Genick gebrochen. Niemand würde das jemals nachprüfen können. Ja, er musste sich keine Sorgen machen, vermutlich wäre er sogar ein Held. Das müsste man sich mal vorstellen! Er, Nick, der kleine, schmächtige, ängstliche Nick- ein Held! Diese Vorstellung ließ ihn kurz vergessen, dass seine drei Freunde von einer Riesenspinne aus dem Leben gerissen worden waren, und dass er Kai hilflos zurückgelassen hatte. Sogar der Anflug eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu sehen. Dann sah er wieder Kai vor sich und den monströsen Knochen, der aus seinem Oberschenkel stak.
Nick hielt an und übergab sich. Er kotzte, bis nur noch Galle kam. Mit zitternden Knien stand er da und wischte sich das Gesicht ab. Dann gaben seine Beine endgültig auf, und er fiel hin. Heulend lag er auf dem Boden, zusammengekrümmt in die Embryonalstellung. Er wollte am liebsten nie wieder aufstehen, einfach nur hier liegen bleiben.
Dann hörte er das Krabbeln. Die Spinne kam, um ihn zu holen. Nick schaffte es doch noch, sich wieder aufzuraffen und rannte wieder los. Hinter sich vernahm er die ganze Zeit das schreckliche, wahninnige Geräusch von acht Beinen. Nach ein paar Minuten gelangte er erneut an eine Gabelung. Ein Rohr führte nach links, das andere nach schräg-rechts. Aus keinem besonderen Grunde entschied er sich für das linke. Keine gute Wahl.
Denn schon nach wenigen Metern war sein Weg beendet. Ein gigantisches, obszönes Spinnennetz versperrte den Durchgang. Nick überlegte, ob er es noch zurück schaffen könnte, um das andere Rohr zu nehmen. Doch da hörte er schon das immer lauter werdende Trippeln kleiner Füße, die das unaufhaltsame Näherkommen der Spinne ankündigten. Also stürzte er sich mit einem Schrei der Verzweiflung auf das Netz und versuchte, es zu zerreißen und sich einen Weg hindurch frei zu kämpfen. Dabei ließ er alles außer Acht, was er jemals in der Schule über Spinnen gelernt hatte. Es dauerte nicht lange, und er hing fest. Den linken Arm bekam er nicht mehr los, und der rechte war hoffnungslos von mehreren Fäden umwickelt.
"Nein!" schrie er, und Verzweiflung lag in seiner Stimme. Die Taschenlampe fiel zu Boden und leuchtete in die Richtung aus der er gekommen war. Die Geräusche der sich nähernden Spinne wurden immer lauter. In einem letzten Aufbäumen versuchte Nick noch einmal, sich loszureißen, doch es machte alles nur noch schlimmer. Jetzt konnte er sich überhaupt nicht mehr bewegen und starrte hilflos in den Lichtkegel seiner Taschenlampe. Und dann kam die Spinne. Sie war noch größer, als Nick sie in Erinnerung hatte und krabbelte langsam auf ihn zu. Dabei schien sie ihn mit ihren kalten, bösartigen Augen anzuschauen. Sie kam näher, wobei sich ihr Kopf langsam hob und die Giftdrüsen enthüllte. Nick schloss die Augen und begann ein stilles Gebet.
Johannssen stand vor dem Loch im Boden und kraulte sich seinen Bart. Hinter ihm holten seine Männer die Ausrüstung aus den Einsatzwagen, während zwei Streifenpolizisten die Schaulustigen von den Absperrungen zurückdrängten.
Am Tag zuvor waren vier kleine Jungen spurlos verschwunden und es bestand guter Grund zu der Annahme, dass sie an dieser Stelle in die Kanalisation eingestiegen waren. Johannssen fragte sich, wo der Gully-Deckel abgeblieben war. Dafür würde jemand in der Stadtverwaltung büßen, das war mal sicher. Doch jetzt galt es erstmal, die Jungen zu retten, die sich höchstwahrscheinlich hoffnungslos verirrt hatten. Man konnte nur hoffen, dass sie auch ein wenig Proviant mitgenommen hatten, denn es konnte noch ein wenig dauern, bis sie gefunden werden würden. Hoffentlich ekeln sie sich nicht allzu sehr vor Spinnen und Ratten, dachte Johannssen. Da unten muss es ja nur so wimmeln von diesen Biestern. Er schüttelte sich.
"Die Männer sind bereit"; sagte Schmitt hinter ihm.
Johannssen drehte sich zu ihm um. "Alles klar, dann runter mit ihnen."
Um 13.27 stiegen zehn Mann der Einsatztruppe in das Loch im Boden hinab.