Der Musterschüler
Hörbuchrezension
mit freundlicher Genehmigung
von Michael Matzer
für www.buchwurm.info
Auflage: Oktober 2002
Erscheinungsjahr: 2002
ISBN: 3-7857-1223-5
Verlag: Lübbe Audio
Genre: Hörbuch/Hörspiel
1 Review
Diese Geschichte erzählt nicht nur von der
seltsamen "Hassfreundschaft" zwischen einem alten Nazi und einem
jungen Amerikaner. Sie beschreibt, wie sich der Geist des Rassenwahns
und der Unmenschlichkeit aufgrund der Faszination, die er auf
unvorbereitete Menschen ausübt, fortpflanzen kann. Der Autor
warnt davor, wozu die entsprechende Indoktrination führt:
Zuerst müssen die Hilf- und Wehrlosen dran glauben - und
dann?
Der Autor
Stephen King, geboren 1947 in Portland/Maine, begann schon in
jungen Jahren mit dem Schreiben. Inzwischen ist sein Name gleichbedeutend
mit guter, wirkungsvoller Horrorliteratur. Fast jedes seiner Bücher
ist verfilmt worden, angefangen bei "Carrie" bis hin zu "Der Sturm
des Jahrhunderts" und "Dreamcatcher/Duddits". Die Novelle "Der
Musterschüler" wird hier ungekürzt gelesen.
Die Sprecher
Oliver Rohrbeck ist als Theaterschauspieler und Synchronsprecher
bekannt geworden. Er machte sich v.a. in der Hörspielreihe
"Die drei ???" einen Namen. Er leiht dem Musterschüler Todd
Bowden seine Stimme.
Till Schult, ein erfolgreicher Schauspieler und Sprecher, interpretiert
hintergründig und flexibel den Lagerkommandanten Kurt Dussander:
Man brüllt er demütigend, mal flüstert er einschmeichelnd.
Er ist der ideale Gegenspieler, der den Hörer in seinen Bann
zieht. Seine Stimme ist weitaus tiefer als die für "Todd
Bowden".
Handlung
Das Böse übt auf Todd Bowden eine gewisse unheilvolle
Faszination aus. Der nette, aufgeweckte Junge von 13 Jahren sucht
den Kontakt zu einem ehemaligen Lagerkommandanten der Nationalsozialisten,
den er nach dem Durchstöbern von Zeitungsberichten zufällig
auf der Straße erkennt. Er erpresst den alten Mann: Wenn
er ihm nicht zu Willen sei, werde er ihn an die Nazijäger
aus Israel und Wien verraten. Der Alte muss zähneknirschend
einwilligen, doch er wartet auf seine Chance.
Von Kurt Dussander alias Arthur Denker lässt sich Todd die
Verbrechen im Konzentrationslager des ehemaligen Kommandanten
haargenau schildern. Er bekommt davon Alpträume, die auch
erotischer Natur sind. Seine Schulzensuren gehen in den Keller.
Immer mehr gerät er in den Strudel der Sucht nach Macht und
in die Gedankenwelt des Dritten Reiches. Bis er selbst zu morden
beginnt.
Inzwischen hat Dussander eine Handhabe gegen Todd gefunden. Er
werde ihn nach seinem Tod verraten, weil er der Polizei nichts
von dem gesuchten Kriegsverbrecher Kurt Dussander erzählt
habe, wie es Todds Pflicht gewesen wäre. Und Dussander geht
noch weiter: Er rettet Todds Zensuren durch strenge Anleitung
zum Lernen und durch ein Gespräch mit dem zuständigen
Rektor, Ed French. Hier tritt Dussander sogar als Todds Großvater
auf.
Die Jahre vergehen. Todds Bekanntschaft mit Dussander begann im
Jahr 1974. Mehrere Jahre später hat er nun einen guten Schulabschluss
hingelegt und soll in die Footballmannschaft von Santo Donato,
seinem Heimatort, aufgenommen werden, eine besondere Ehre. Doch
sein Foto in der Zeitung bringt gewisse Leute auf seine Fährte.
Denn was soll man von der anhaltende Mordserie an Pennern und
Landstreichern in der Gegend um Santo Donato halten? Als Dussander
einen Herzinfarkt erleidet, bricht das unsichtbare Geflecht aus
Erpressung und Schutz, das Todd und Dussander aneinander band,
zusammen. Todd, der eine glänzende Karriere nach einem Collegeabschluss
vor sich gesehen hatte, sieht seine Zukunft gefährdet. Als
auch noch Polizei, Nazijäger und Ed French bei ihm auftauchen,
brennen bei ihm die Sicherungen durch.
Mein Eindruck
Mit 511 Minuten Länge ist diese Erzählung schon keine
Story mehr, sondern ein ausgewachsener Roman. Dafür spricht
auch, dass hier nicht nur die Perspektive von einer oder zwei
Figuren im Mittelpunkt steht, sondern auch Nebenfiguren wie Todds
Eltern oder Ed French mit langen Szenen bedacht werden. Das kommt
in Kurzgeschichten recht selten vor und ist eher das Vorrecht
eines Romans.
Gespannt verfolgt der Zuhörer, wie sich die beiden Hauptfiguren
kennen lernen, sich eine psychische Bindung entwickelt und wie
sie sich schließlich gegenseitig erpressen: ein klassischer
"double-bind", der eine stabile kriminelle Partnerschaft gewährleistet.
Doch als eine der beiden Seiten (Dussander) geschwächt wird
und ausfällt, beginnt das auf dieser Konstruktion errichtete
Leben von Todd Bowden auseinander zu fallen.
Es ist dies das Leben eines Serienkillers. Todd hat seine Opfer,
die Landstreicher und Obdachlosen, das Äquivalent zum "lebensunwerten
Leben" der Nazis, systematisch umgebracht, um ein Ventil für
seine Gewaltfantasien und seinen Hass auf den alten Lagerkommandanten
zu finden. Dass der alte Knacker schlauer und skrupelloser ist
als er, der amerikanische, wohlausgebildete Junge, wurmt Todd
ganz besonders.
Obwohl er sich selbst für clever genug hält, um die
am Ende bei ihm aufkreuzende Polizei zu überlisten, macht
er doch kleine Fehler, die den Polizisten stutzig machen. Sein
Selbstbewusstsein, das ihm erlaubt, Hilflose abzustechen, ist
zu übersteigert, um ihn daran zu hindern, vorsichtig zu sein.
Seine Überheblichkeit, die er wie ein echter Nationalsozialist
oder Lagerkommandant entwickelt und kultiviert hatte, wird ihm
doch noch zum Verhängnis.
Denn Todd ist ein Nazi geworden. Nicht dem Namen nach natürlich,
aber im Geiste. Und das bedeutet, dass die Ideologie der Nazis,
ihr Rassenwahn und ihre Überheblichkeit, prinzipiell überall
in den Vereinigten Staaten Wurzeln schlagen können. Sie haben
dies in der Tat bereits getan: Die meisten "arischen" Publikationen
im Internet stammen laut Dokumentationen aus den USA. In Oregon
und Idaho existieren rechtsgerichtete Gruppierungen und sogar
bewaffnete Milizen, die vom FBI (angeblich) scharf beobachtet
werden. (Der Roman "Ausgeliefert" von Lee Child beschreibt ein
solches Milizenlager ausführlich als Schauplatz der actionreichen
Handlung.)
Die Sprecher
Till Schulte spricht die Szenen, in denen die Perspektive des
Alten, Kurt Dussanders, bestimmend ist. Es kommen also auch andere
Figuren zu Wort, besonders Todd. Seine tiefe Stimme ist beeindruckend,
fein moduliert und der jeweiligen Figur angemessen. Das, was er
ruhigen Tones schildert, lässt einem manchmal die Haare zu
Berge stehen.
Oliver Rohrbeck, der die Perspektive Todds spricht, ist ein ganz
anderes Kaliber. Nicht nur ist seine Stimme angemessen höher,
aber es fehlt ihm auch hörbar an Erfahrung (oder ausreichend
Übung), um jeden Satz optimal zu betonen. Außerdem
hat er Mühe, französische und spanische Wörter
korrekt auszusprechen (aber das ist bei vielen Sprechern so, selbst
noch bei englischen Wörtern).
Unterm Strich
"Der Musterschüler" ist ein Hörbuch für die Geduldigen.
Wie eingangs gesagt, beinhaltet die romanartige Erzählung
eine Warnung des Autors an den Leser/Hörer, gewissen Ereignisse
der jüngsten Geschichte nicht zu vergessen. Sonst werden
sie unweigerlich wiederholt.
Die Qualität der Sprecher erscheint mir höchst unterschiedlich.
Während Till Schulte eine erfahrener Profi ist, so muss Oliver
Rohrbeck noch hart an seinem zweifellos vorhandenen Können
arbeiten, um die gleiche Meisterschaft zu erlangen.
Hinweis: Die Beschreibungen von gewalttätigen und sexuellen
Szenen machen die King-Hörbücher "Der Musterschüler"
und "Die Verurteilten" in diesem Doppelpack "Frühling und
Sommer" nicht für Jugendliche unter 16 Jahren geeignet.
Laufzeit von 511 Minuten auf 7 CDs
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