Das Mädchen
Hörbuchrezension
mit freundlicher Genehmigung
von Michael Matzer
für www.buchwurm.info
Erscheinungsjahr: 2001
ISBN: 3-7857-1113-1
Verlag: Lübbe
Genre: Hörbuch/Hörspiel
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1 Review
Muss man noch etwas über Stephen King sagen?
Vermutlich nicht, nur dass der erfolgreichste Horrorschriftsteller
sich in den letzten Jahren bemüht hat, nicht mehr nur Genre-Horror
zu schreiben, sondern sein Spektrum Richtung klassischer englischer
Erzählliteratur auszudehnen. Zu diesen - nicht immer einhellig
begrüßten - Ausflügen gehören "Dolores",
"Der Buick" und eben auch "Das Mädchen". Schrecken und Grauen
(keineswegs das Gleiche) haben viele Gesichter. Für King
haben Monster ausgedient.
"Die Welt hat Zähne. Und mit denen beißt sie zu, wann
immer sie will." Diese elementare und niederschmetternde Erfahrung
muss in diesem Hörbuch ein Mädchen machen, das nur neun
Jahre alt ist (und groß für sein Alter): Patricia McFarland.
Kaum ist sie vom Weg abgewichen, zeigt sich eben jene Welt in
den Wäldern auf gnadenlose Weise. Aber Trisha hält durch,
gerade mal so. Dieses fabelhaft produzierte Hörbuch bietet
die ungekürzte, musikalisch und akustisch untermalte Lesung
zweier Spitzenkräfte der Sprecherszene: Joachim Kerzel und
Franziska Pigulla.
Franziska Pigulla, die deutsche Stimme von Akte-X-Star Gillian
Anderson ("Scully"), hat bereits mit Joachim Kerzel Ken Folletts
Hörbuch "Die Leopardin" gesprochen. Während ihrer Schauspielausbildung
in Berlin trat sie als Sprecherin im Hörfunk hervor. Sie
verfügt über ein beeindruckendes Gespür für
Dramatik: Ganz gleich, ob sie sanft und weich Liebeserklärungen
haucht, mit knurrendem Grollen droht oder mit größter
Lautstärke Befehle oder Flüche brüllt - stets kommt
sie völlig glaubwürdig und lebendig herüber.
Joachim Kerzel ist die deutsche Stimme von Dustin Hoffman, Jack
Nicholson und fast allen Stephen-King-Hörbüchern.
Zur Handlung: Die neunjährige Patricia McFarland geht auf
einer Wanderung durch die westlichen Wälder und Vorberge
Maines verloren. Eigentlich wollte sie ihrer Mutter und ihrem
Bruder Pete, die sich vor lauter Streit nicht mehr an Trishas
Existenz zu erinnern schienen, nur eins auswischen: Schaut, ich
bin weg - macht euch in die Hosen vor Angst um mich! Es ist wie
ein kleiner Selbstmord, mit einem Hilferuf als Botschaft. Doch
aus dem kleinen Abstecher wird bitterer Ernst, als sich Trisha
immer weiter im undurchdringlichen Urwald des westlichen Maine
verliert, aus dem kein Weg herauszuführen scheint. Bis zu
ihrer Rettung zehn Tage später verliert sie mehr als zehn
ihrer mageren 44 Kilo! Mutterseelenallein kämpft sie sich
durch eklige Sümpfe und Schwärme von Stechmücken.
Und ein wildes Tier schleicht wie ein Gespenst um sie herum. Schließlich
hat sie vor lauter Auszehrung und Krankheit Visionen, so etwa
vom Gott der Verirrten, der aus Wespen zu bestehen scheint.
Einzig und allein ihr Walkman-Radio bewahrt sie vor dem Untergang.
Sie hört die Reportagen von Baseballspielen in Boston, Massachusetts.
Zu den Red Sox gehört ihr verehrter Lieblingsspieler Tom
"Flash" Gordon. Sie trägt eine von ihm signierte Baseballkappe
und sein Trikot mit der Spielernummer 36 drauf. Sie muss immerzu
an ihn denken und die Art, wie er nach einer erfolgreichen Aktion
den Zeigefinger gen Himmel reckt. Auf wen oder was zeigt er da
bloß? Auf Gott? Nach mehr als einer Woche, völlig entkräftet,
beginnt Tom Gordon sie zu begleiten. Er erklärt ihr, wann
ihre letzte Chance, dieses Todesspiel für sich zu entscheiden,
gekommen ist: "Gott erscheint immer erst in der zweiten Hälfte
des neunten [= letzten] Durchgangs", also kurz vor Schluss. Und
so kommt es, dass sich Trisha in einer schier übermenschlichen
Anstrengung das Leben bewahren kann. Denn ihr Widersacher, den
sie den "Gott der Verirrten" nennt, stellt sich ihr in letzter
Sekunde in den Weg. Aber Tom Gordon hat sie einen Trick gelehrt,
mit dem sie sich zu wehren weiß.
Das Leben als tödliches Baseball-Match? Für die junge,
tapfere Trisha schon. Und wie viele kleine Kinder reißen
von zu Hause aus, weil ihre Eltern geschieden sind und sie die
Trennung unerträglich finden, nur um dann in der Drogenszene
oder Prostitution zu enden? Das Leben hat Zähne, und es beißt
zu, wenn man es am wenigsten erwartet - diese Lektion bekommt
Trisha am eigenen Leib zu spüren. Hier nimmt sich Stephen
King ohne allzu viel Spezialeffekte des Schicksals der Opfer von
gescheiterten Beziehungen an. Die Kinder sind zudem die schwächsten
Opfer. Geliebte Idole wie Tom Gordon helfen offenbar nach Kings
Meinung, einiges zu überstehen. Tom erzählt Trisha nicht
nur vom Leben, sondern auch von Gott. Der hilft dir nur, wenn
du bereit bist, dich nicht selbst aufzugeben. Und das schafft
das kleine Mädchen - mit knapper Not. Der Glaube an Tom Gordons
Gott steht ihrer Neigung entgegen, sich der Lockung des Gottes
der Verirrten zu ergeben: der Verzweiflung durch das Aufgeben
der letzten Hoffnung. So findet in ihr der ewige Kampf um das
Festhalten an einem Sinn für das eigene Leben statt, den
jeder, der in Not ist, ausfechten muss.
Es ist der erste, bislang ungenannte Gott, von dem sie als erstes
abfällt, weil er sie nicht unterstützt. Es ist der Gott
ihres Vaters. Larry Mcfarland, ein Alkoholiker vor dem Herrn,
faselte Trish gegenüber etwas von dem "unterschwellig Wahrnehmbar"
vor. Im Original verwendete er wohl das Wort "subliminal", korrekterweise.
Aber im allgemeinen wird der christlich-jüdische Gott (Jahwe)
als "das Sublime" bezeichnet: das Erhabene, das zugleich Schrecken
und Schönheit birgt (seit dem 17. Jahrhundert). Aber das
"unterschwellig Wahrnehmbare" ist nichts, auf das man wie Tom
Gordon zeigen und sagen könnte: "Seht her - ich hab's Gott
gezeigt." Und einen solchen Gott braucht Trisha unbedingt. Denn
sonst unterliegt sie, wie sich zeigt, den Schrecken und der Verzweiflung
und der Selbstaufgabe, die ihr der Wespengott, der Gott der Verirrten,
der "Herr der Fliegen", anbietet.
In ihrer "rite of passage" durchläuft Trisha die verschiedenen
Stadien der Verzweiflung. Geprüft bis zum innersten Kern,
muss sie sämtliche Werte, die ihr die Welt mitgegeben hat,
auf den Prüfstand stellen und sich nach dem Ergebnis richten.
Die Erkenntnis von Welt und Gott verwandeln sie völlig, und
die Eltern, die an ihrem Krankenhausbett wachen, erkennen die
neue Trisha kaum wieder - bis auf ihren Vater, dem sie eine Botschaft
übermittelt, die nur ein Baseballfan versteht.
Trisha ist mit Sicherheit die glaubwürdigste weibliche Figur,
die King je geschaffen hat, obgleich es sich zunehmend um eine
metaphysisch stattfindende Reise handelt, die King erzählt.
Seine Prosa war selten so angemessen und wirkungsvoll, auch wenn
ab und zu auktoriale Absätze mit Erklärungen eingeschoben
sind. Er scheut sich nicht, die peinlichsten Situationen zu schildern
und bricht (nur amerikanische?) Tabus, wenn er ein kleines weißes
Mädchen Wörter wie "Scheiße", "Zum Teufel" und
sogar "Fuck you!" sagen lässt. (Okay, diese Sachen hat sie
eigentlich von ihrer Freundin Pepsi Robichaux.) Und er lässt
sie sogar in ihre eigene Kacke fallen, wovon sie natürlich
nie ein Sterbenswörtchen verraten würde. Die deutsche
Übersetzung von Wulf Bergner nimmt ebenso kein Blatt vor
den Mund. So geht nichts von der sprachlichen Wucht des Textes
verloren, der sich kein Leser entziehen kann.
Die beiden Sprecher wechseln sich ab. Das Buch ist ja in "Durchgänge"
eingeteilt, also Innings wie bei einem zünftigen Baseballmatch.
Jeder spricht ein oder zwei solcher Durchgänge. Man kann
dadurch sehr gut ihre individuelle Vortragsweise vergleichen.
Kerzels Stimme ist natürlich bassbetont, verfügt aber
auch über die Fähigkeit, sich in erstaunliche Höhen
emporzuschrauben, um Trishas Kinderstimme wiederzugeben. Man könnte
nicht sagen, dass er bestimmte Passagen besser oder schlechter
liest als seine Kollegin, aber er trägt den Text definitiv
schneller vor. Ich hatte den Eindruck, dass er Reisepassagen bevorzugt,
während Pigulla überlegende Passagen vorzieht, die Trishas
'inner space' widerspiegeln. Mit ihrem Gespür für Dramatik
setzt Pigulla vor allem das Tempo als Haupteffekt ein: sie verzögert
vor wichtigen Wörtern oder Sätzen. Sie wispert, kreischt,
jauchzt und brüllt - Letzteres in jenes virtuelle Mikro,
das die Basellballmatches in Trishas Walkman überträgt.
Der Mikro-Effekt wird sehr wirkungsvoll eingesetzt. Meist sind
es die bekannten Sportkommentatoren, die Trisha im Radio hört
und die sie alle bewertet. Der Mikro-Effekt erlaubt es der Sprecherin,
größte Lautstärke einzusetzen. Am besten hat mir
gefallen, wenn sie Trisha "Yeah, baby!" rufen ließ. Die
Musik wechselt je nach Anlass und Stimmung - von Hardrock für
Action bis hin zu heiterer, trauriger oder angespannter Instrumentierung.
Zu den eingesetzten Geräuschen gehören Donnerschläge,
aber auch das Zirpen von Grillen oder Heuschrecken - und natürlich
Wespen...
Nach dem Epilog folgt noch ein Nachwort des Autors. Das wird von
Ulrich Pleitgen gesprochen, was nirgends auf der CD vermerkt ist.
King bedankt sich bei den Experten, ist aber selbst ein Fachmann
für Baseball. Sein eigener Sohn Owen spielt(e) in der Little
League mit - er könnte das Vorbild für Trisha gewesen
sein.
Aufgrund der zahlreichen Effekte und der Musikuntermalung rückt
dieses Hörbuch schon in die Nähe einer dramatischen
Inszenierung, wie sie ein Hörspiel darstellt, nur dass im
Hör- oder Radiospiel die Rollen von verschiedenen Sprechern
vorgetragen werden. Aber auch so ist "Das Mädchen" eine höchst
dramatische Angelegenheit. Dass es Leser gibt, die diese Erzählung
für das langweiligste Buch halten, das sie je von Stephen
King gelesen haben, erscheint angesichts der Dramatik, die die
Geschichte entwickelt, beinahe unglaublich. Wie auch immer: "Das
Mädchen" kann es an Grauen und Schrecken beinahe mit dem
ebenso fabelhaft und effektreich inszenierten Hörbuch "Der
Exorzist" aufnehmen, das Kerzel alleine spricht. Wen diese Aussage
verwundert, sei auf das Anhören des entsprechenden Hörbuchs
verwiesen. Wer bei einer King-Story auf Berge von Leichen und
das eine oder andere UFO oder Alien wartet, dürfte natürlich
bitter enttäuscht werden. Das einzige Alien, das hier auftaucht,
ist der Wespengott - und der befindet sich zu 99 Prozent in Trishas
Einbildungskraft. Die Aliens, die sind wir selber. Was brauchen
wir noch UFOs dafür?
Dieses Hörbuch ist ziemlich teuer: knapp 45 Euro. Dafür
bekommt man schon eine Reihe von DVDs unter 10 Euro. In der jetzigen
Form ist das Hörbuch jeden Cent wert, den man dafür
ausgeben muss. In einer Zeit, in der sogar die meisten TV-Filme
nur gekürzt gezeigt werden, bietet es zur Abwechslung mal
ungekürztes Vergnügen an.
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