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Der Menschenmetzger

© 2005 René Engels

(bearbeitet und ergänzt von Boris Engels)

"Spürst Du den Atem des Todes ?
Hörst Du das Bersten der Knochen ?
Menschenmetzger
Menschenmetzger
Menschenmetzger
Menschenmetzger
Menschenmetzger
Lauert der
Tod
schon hinter
DIR ?"

PROLOG

POCK POCK POCK – KLACK – POCK POCK – POCK – POCK POCK POCK – KLACK – POCK POCK – KLACK – POCK POCK POCK – POCK POCK – POCK – POCK – KLACK – POCK POCK – POCK POCK POCK – POCK POCK – POCK POCK POCK – KLACK – POCK POCK - POCK – POCK POCK POCK – KLACK – POCK – POCK – POCK POCK POCK – KLACK – POCK POCK POCK – POCK POCK – POCK – POCK – POCK – KLACK – POCK POCK – POCK POCK POCK – POCK – KLACK – POCK POCK POCK – POCK – KLACK – POCK POCK POCK- KLACK – POCK - POCK

 

 

1

Mein älterer Bruder Dennis und ich, Tim, (damals war ich sechzehn) besuchten an einem regnerischen Samstagnachmittag unseren Onkel Norbert. Wir hatten einen Film aus der Videothek ausgeliehen, den wir zusammen anschauen wollten.

Mein Onkel war 40 Jahre alt und Junggeselle. Er wohnte in einer Dreizimmerwohnung eines Mehrfamilienhauses und arbeitete als Zahntechniker in der Nachbarstadt.

Bis zur Sportschau um sechs waren noch drei Stunden Zeit - Zeit genug, um sich den ausgeliehenen Videofilm reinzuziehen. Norbert holte uns eine Cola aus dem Kühlschrank in der Küche. Wenn wir noch etwas haben wollten, sollten wir in den Keller gehen und uns dort etwas aus dem Kühlschrank in seiner Abstellkammer holen.

Meistens wenn er das sagte, kamen wir gut mit einer Flasche aus, weil wir zu faul waren, in den Keller hinunterzusteigen, wo jeder Hausbewohner so etwas wie einen Vorratsraum besaß.

Doch es war nicht immer nur meine Faulheit gewesen, die mich davon abhielt, in den Keller zu gehen. Als ich noch jünger war, war es das zeitgeschaltete Licht, das mich nervös machte. Ich befürchtete jeden Augenblick, daß die gelblich schimmernden Lampen erlöschen und ich mich in völliger Dunkelheit wiederfinden würde. Irgendwie löste der Gedanke daran ein Schaudern in mir aus.

Vielleicht spielte dabei aber auch noch ein anderer Gesichtspunkt eine Rolle, und der schien in meinem Unterbewußtsein fest verankert zu sein. Ich wollte ein Zusammentreffen mit dem Nachbarn meines Onkels, der auf derselben Etage wohnte, möglichst vermeiden. Sein Name war Dittmann, und ich brachte diesen Namen mit Verkommenheit, Häßlichkeit und Grausamkeit in Verbindung.

Dieser Mensch - wenn man ihn so bezeichnen konnte - war die Verkommenheit in Person. Er stank wie die Pest, und mit seinem langen ungewaschenen Haar und seinem faltigen Gesicht sah er aus wie ein Zombie. Daß es in seiner Wohnung nicht besser aussehen konnte, erkannte man bereits an der Außenseite seiner Wohnungstür, auf der sich eine dicke, schwarze Dreckschicht gebildet hatte.

Aber es gab noch etwas, das sein furchteinflößendes Äußeres noch ergänzte - etwas, das mich früher immer erschaudern ließ, wenn ich daran dachte. Er hatte ein Holzbein.

Diese Umstände erklären wohl, warum wir diesen Menschen mieden, so gut es ging, und uns ein ums andere Mal über ihn ärgerten oder uns über ihn lustig machten. Ich kann mich an keinen Tag bei meinem Onkel erinnern, an dem wir nicht über den Zombie gelästert hatten.

Auch an diesem Samstagnachmittag kamen wir wieder auf ihn zu sprechen, während wir den eher langweiligen Film verfolgten. Die Spannung war gerade auf den Nullpunkt gesunken, als Norbert die Stop-Taste auf der Fernbedienung betätigte.

"Soll ich euch was erzählen?" begann er und blickte einmal kurz nach rechts und nach links. Er hatte sofort unser Interesse geweckt und fuhr fort, bevor wir antworten konnten.

"Wollt Ihr wissen, wie Dittmann sein Bein verloren hat?"

Mit dieser Frage steigerte er die Spannung ins Unermeßliche. Diesmal gelang es ihm nicht, vor unserer Antwort fortzufahren.

"Schieß los!" sprachen Dennis und ich im Chor.

"Also gut." Er räusperte sich und begann zu erzählen:

"Im zweiten Weltkrieg war Robert Dittmann bei der Luftwaffe. Bei einem Einsatz im Winter hatte er Glück im Unglück. Seine Maschine wurde von einem feindlichen Jäger getroffen, und Dittmann mußte notlanden. Es gelang ihm, den Flieger in der Bergen runterzubringen.

Roberts Bordschütze kam bei dieser Aktion jedoch ums Leben, und vielleicht kann er sich trotzdem glücklicher schätzen als Dittmann. Dieser saß nämlich ohne Nahrungsmittel in den verschneiten Bergen fest, und es gab keine Anzeichen für eine Rettung."

Norbert machte eine Pause, und wir mußten ihn ermahnen, fortzufahren.

"Schon gut", begann er wieder. "Nachdem Dittmann sieben Tage abgewartet hatte - es war für ihn unmöglich, die steilen, schneebedeckten Hänge hinabzuklettern - war es soweit, daß er nur noch eine Möglichkeit sah, dem Hungertod zu entgehen. Er begann, seinen Bordschützen zu verspeisen. Er fing mit dessen Wade an und kam langsam auf den Geschmack von Menschenfleisch."

Mein Bruder und ich konnten uns das Lachen nur noch verkneifen, weil wir wissen wollten, wie die Geschichte endete.

"Innerhalb der nächsten Tage aß er den Schützen restlos auf, ohne zu bedenken, daß er vielleicht noch länger dort oben festsitzen würde. Nachdem er den Toten ganz verspeist hatte, war sein Hunger zwar zunächst gestillt, doch es war immer noch keine Rettung in Sicht. Es vergingen weitere Tage, und der Hunger plagte Robert wieder schonungslos. Was sollte er tun? "

Nun konnten wir uns das Lachen endgültig nicht mehr verkneifen, da wir genau wußten, worauf die Geschichte hinauslief. Auch mein Onkel konnte ein Schmunzeln auf seinem aufgesetzt ernsten Gesicht nicht mehr verbergen. Um nicht auch in lautes Gelächter auszubrechen, begann er so schnell wie möglich weiterzuerzählen:

"Ihm war klar, daß er nur überleben konnte, wenn er möglichst bald etwas Eßbares fand. Er erinnerte sich daran, daß die Wade des Bordschützen am bestem geschmeckt hatte, holte sein großes Messer aus der Tasche und schnitt - oder besser: sägte - den unteren Teil seines Beines komplett ab. Diesmal wollte er sparsamer mit dem Essen umgehen, aus welchem Grund auch immer. Er aß nur ein kleines Stück seiner Wade und vergrub den Rest im Schnee.

Keine zwei Stunden später erblickte er einen Rettungshubschrauber am Himmel."

Jetzt verfielen wir alle drei in schallendes Gelächter und brauchten über fünf Minuten, um uns wieder zu beruhigen.

In der Hoffnung, der Film würde noch an Spannung gewinnen, schalteten wir den Videorecorder wieder ein - und wurden bitterlich enttäuscht. Etwa um halb sechs endete der langatmige Film. Es blieb also noch eine halbe Stunde bis zur Sportschau, die wir damit verbrachten, eine Kleinigkeit zu essen und uns die Lokalnachrichten anzuschauen.

Der Grabschänder hatte wieder zugeschlagen. Dies war nun das fünfte Mal in den letzten zwölf Monaten, daß er auf unserem städtischen Friedhof eine Leiche ausgebuddelt hatte, die danach wohl nie wieder auftauchen würde, genau wie die vier zuvor. Die Polizei tappte immer noch im Dunklen; vom Täter fehlte jede Spur.

Ich fragte mich, was dieser Irre mit den Toten anstellte.

Anschließend kam noch eine Meldung über den Bau eines Asylantenheims, das etwa drei Blocks von uns entfernt errichtet wurde. Die Fertigstellung würde sich wohl um weitere zwei Wochen verzögern, so daß erst in frühestens drei Wochen die ersten Asylbewerber dort ihre Unterkunft beziehen konnten.

Eigentlich interessierte mich diese Information relativ wenig, doch nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte, kam mir eine faszinierende Idee.

Schon oft hatten wir darüber nachgedacht, dem Zombie einen Streich zu spielen oder ihm einen gewaltigen Schrecken einzujagen. Doch bis zu diesem Zeitpunkt war uns nie etwas eingefallen, was originell war und uns alle überzeugt hatte. Aber eben nur bis zu diesem Zeitpunkt, denn ich war überzeugt, das mein Einfall Dennis und Norbert begeistern würde.

"Ich hab' da eine Idee", begann ich mit einem breiten Grinsen. "Eine Idee, wie wir den Dittmann verarschen können. Der wird sich wundern."

"Dann laß mal hören", sagte Norbert, der besonders daran interessiert schien, dem Zombie eins auszuwischen. Schließlich wohnte er im selben Haus, und der Zombie ging ihm somit am meisten auf die Nerven.

"Der Dittmann ist doch nicht up-to-date, oder?" fragte ich. Da ich nicht sicher war, ob Dennis und Norbert mich verstanden hatten, fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu:

"Ich meine, der ist doch nicht so informiert über das, was in der Welt so vorgeht."

"Quatsch! Der doch nicht! Der hat doch noch nicht mal einen Fernseher und Zeitung liest der auch nicht. Zumindest ist der viel zu geizig, sich eine zu kaufen. Bestenfalls hat der ein Radio aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Aber das haben wahrscheinlich schon die Kakerlaken von innen aufgefressen", antwortete mein Onkel und gab mir damit eine noch größere Sicherheit, daß mein Plan gut war. Sogar sehr gut.

"Laß' uns nicht dumm sterben", forderte Dennis mich auf. "Erzähl uns Deinen genialen Einfall!"

"Wir werden dem Dittmann ein Schreiben schicken, in dem stehen wird, daß er für zwei Wochen einen ausländischen Asylbewerber in seiner Wohnung aufnehmen muß. Für die Übergangszeit, bis das Asylantenheim fertiggestellt ist", sprach ich und konnte an den lächelnden Gesichter meines Onkels und Bruders ablesen, das der Plan nicht nur sehr gut, sondern nahezu perfekt war.

"Das ist genial!" lobte Norbert meinen Vorschlag. "Stellt euch nur Dittmanns Gesicht vor, wenn er den Brief liest!"

Wir begannen, laut zu lachen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Dittmann, wie er fassungslos mit dem geöffneten Brief in der Hand im Flur stand. "Hoffentlich kann der überhaupt lesen", schoß es mir durch den Kopf, und ich lachte noch lauter.

Doch plötzlich verstummte das Gelächter. Wir hörten im Treppenhaus eine Tür zuschlagen. KLACK! Gespannt horchten wir, ob noch ein weiteres Geräusch folgen würde. Und so war es.

POCK! POCK! POCK! Wir hielten den Atem an. Es dauerte nicht lange, bis das Geräusch aus unserem Hörbereich verschwunden war. Wir wußten alle was dieses dumpfe POCK verursacht hatte: Dittmanns Holzbein.

"Wenn man vom Teufel spricht....", sagte Dennis und beendete damit unser Schweigen.

Nach einer kurzen Pause ergriff Norbert das Wort:

"Der Plan ist gut. Aber ich weiß, wie er perfekt wird", sagte Norbert, während er gedankenverloren an die Decke starrte.

"Ich erinnere mich an einen dunkelhäutigen Afrikaner, der morgens meist im selben Bus fährt wie ich. Manchmal wechseln wir ein paar Worte, wenn er mir gegenüber sitzt. Vielleicht ist er ja für den Spaß zu haben."

"Du meinst, daß wir den tatsächlich zum Dittmann schicken sollen?" fragte ich ungläubig. Ich hielt den Plan nicht für realisierbar, und der selben Ansicht war wohl auch Dennis, der sich ebenfalls zu dem Vorschlag äußerte:

"Warum sollte der Afrikaner seine Freizeit dafür opfern, damit wir unseren Spaß haben?"

"Im Notfall wäre mir der Scherz auch etwas Bares wert. Euch etwa nicht?" erwiderte Norbert, der wohl dazu bereit war, dem Ausländer etwas Geld dafür zu zahlen.

"Versuchen können wir es. Also fragst Du ihn, wenn Du übermorgen mit dem Bus zur Arbeit fährt!" fügte ich schnell ein, bevor mein pessimistisch denkender Bruder wieder mit einem Einwand kam.

Mit einem kurzen Blick auf die Uhr bemerkte mein Onkel: "Sechs Uhr! Laßt uns nach der Sportschau weiter darüber reden!"

Wir lehnten uns gespannt zurück und hofften, das unser Fußballteam gewonnen hatte. Die Ergebnisse schauten wir uns nie vorher an, um die Spannung bis zum Ende aufrecht zu erhalten.

Heute schien unser Glückstag zu sein. Unser Team hatte die gegnerische Mannschaft 4:0 auseinandergenommen und sich auf den dritten Tabellenplatz vorgearbeitet.

Nach der Sportschau vereinbarten wir, daß wir uns um das Schreiben kümmern würden, während Norbert den Afrikaner für unseren Spaß gewinnen sollte.

Dann verabschiedeten wir uns von Norbert und brannten bereits darauf, zu Hause am Computer den Brief anzufertigen. Wir konnten den Moment, in dem der Zombie es lesen würde schon gar nicht mehr erwarten. Die Krönung würde es aber sein, wenn der Afrikaner an Dittmanns Tür klopfen würde.

 

2

Wir hatten alles so gemacht wie besprochen. Dennis und ich hatten das Schreiben fertiggestellt, und Norbert hatte tatsächlich Erfolg gehabt. Er erzählte uns, daß der Afrikaner bereit wäre, für fünfzig Mark mit einem Koffer in der Hand bei Dittmann anzuklopfen. Wir waren erfüllt vor Freude und Spannung.

Alles war erledigt - fast alles. Einer von uns mußte nun den Brief beim Zombie in den Briefkasten werfen, ohne daß dieser es sah.

Wir hatten eine Woche gewartet seit der Erstellung unseres Plans. Mein Bruder und ich hatten schulfrei und Norbert brauchte nicht zu arbeiten; wir konnten den ganzen Tag bei ihm verbringen und den passenden Moment abwarten, um den Brief in den Briefkasten zu werfen.

Seit neun Uhr morgens waren wir bei Norbert und warteten darauf, daß Dittmann seine Bude verlassen würde. Wir beobachteten seine Wohnungstür abwechselnd durch den Spion an der Tür und konnten den Zeitpunkt schon gar nicht mehr erwarten.

Es war mittlerweile elf Uhr, und der Zombie machte immer noch keine Anstalten, aus dem Haus zu gehen.

"Der muß wohl noch schlafen, sonst würden wir sein Holzbein hören, wenn er durch die Wohnung spaziert", meinte Norbert, fühlte sich aber noch nicht sicher genug, um den Brief jetzt einzuwerfen.

Eine weitere halbe Stunde war verstrichen, und nun war ich an der Reihe, durch das Guckloch zu spähen. Ich schaute ohne große Hoffnung durch das kleine Loch und konnte genau Dittmanns Wohnungstür sehen. Plötzlich hörte ich etwas.

TOCK TOCK TOCK TOCK TOCK!

Zuerst hielt ich den Atem an, doch dann erkannte ich, daß es ein Fehlalarm war. Zum Glück hatte ich Dennis und Norbert noch nicht aufgescheucht. Es waren fast keine Pausen zwischen den einzelnen TOCKs, so daß sie unmöglich von Dittmanns Holzbein stammen konnten. Als ich kurz darauf eine Frau die Treppe hinuntersteigen sah, war alles klar. Es waren nur Schritte im Treppenhaus gewesen, doch trotzdem hatten sie mir den Schweiß auf die Stirn gebracht. Ich atmete kurz durch und wollte gerade Dennis fragen, ob er mich ablöste, als ich erneut etwas vernahm.

KLACK!

Es klang wie ein Türschloß. Dann sah ich, wie die dreckige Tür gegenüber sich langsam öffnete. Mit leisen Schritten schwebte ich praktisch ins Nachbarzimmer, wo Dennis und Norbert saßen und jeder für sich eine Zeitung las. Als sie mich sahen, starrten sie mich mit großen Augen an.

"Geht er?" brachte Dennis heraus, während er und Norbert schon neben mir in der Tür standen. Ich eilte zum Guckloch zurück, und die zwei folgten mir.

Als ich wieder durch den Spion spähte, ließ mich Dittmanns Anblick erschaudern. Jetzt, nachdem wir so oft über ihn gesprochen hatten, kam er mir noch unheimlicher vor als zuvor - ich hatte mich wohl zu sehr in die ganze Sache hineingesteigert. Er trug einen Gummistiefel, eine ausgeblichene Jeans und einen verschlissenen Parker. Sein langes, graues, fettiges und verklebtes Haar hing ihm im Gesicht, so daß ich glaubte, daß er gar nichts sehen könne. Er hatte die Tür von außen abgeschlossenen und warf einen kurzen Blick auf Norberts Tür. In diesem kurzen Moment konnte ich durch seine Haare hindurch seine dunklen Augen erkennen. Sie starrten genau in Richtung Guckloch. Ich schwitzte mittlerweile aus allen Poren, da ich glaubte, er könne mich sehen. Instinktiv wich ich zur Seite, da ich diesen stechenden Blick nicht mehr ertragen konnte. Dennis nahm sofort meine Position am Guckloch ein.

Nun hörte ich wieder das dumpfe POCK - POCK - POCK seines Holzbeins, das nach kurzer Zeit verstummte. Norbert schubste Dennis zur Seite und verließ mit dem Brief in der Hand die Wohnung. Wir beobachteten von der Tür aus, wie er zum Briefkasten eilte, sich plötzlich unterwegs die Nase zuhielt und der Brief zwischen seinen Fingern hinweg in den Briefkasten glitt. Danach bemühte er sich so schnell wie möglich in seine Wohnung zurück.

Inzwischen wußten auch wir, warum er sich so beeilte und sich die Nase zuhielt. Eine gewaltige Gestankwolke drang nun schon bis zu uns vor - so intensiv, daß man sie beinahe auch fühlen konnte. Ich sah meinen Bruder grün anlaufen und fürchtete, daß ich nicht anders aussah. Norbert hatte die Tür erreicht, schubste uns in die Wohnung und knallte die Tür mit einem lauten BENG hinter sich zu. Ohne zu zögern bewegte er sich im Laufschritt durch die Wohnung und riß sämtliche Fenster auf. Das Resultat war ein gewaltiger Durchzug, der jedoch nach dem modernd-stechenden Gestank aus Dittmanns Wohnung die reinste Wohltat war. Es dauerte nicht lange, und der Gestank hatte sich aus unseren Nasen verflüchtigt.

Es war vollbracht. Zufrieden setzten wir uns ins Wohnzimmer. Noch bevor ich etwas sagen konnte, ergriff Norbert das Wort.

"Ich denke, nach dem Giftgasalarm haben wir uns etwas Gutes verdient. Wie wär's mit einem Horrorfilm? Ein guter Horrorfilm, nicht so eine Pleite wie zuletzt."

Ich sah wie seine Augen leuchteten, während er diese Worte sprach. Der Film mußte wirklich sehenswert sein. Natürlich waren Dennis und ich sofort einverstanden.

Norbert öffnete seine "Monsterschublade" - so nannten wir sie, weil er in ihr seine imposante Horrofilmsammlung aufbewahrte - und holte eine Kassette hervor, die er in den Videorecorder schob.

"Zieht euch warm an!" sagte er und drückte die PLAY-Taste. Der Titel des Films war "Candyman's Fluch", und mein Onkel hatte uns nicht zuviel versprochen. Wir sahen uns den Film ohne jede Unterbrechung an, was nur selten vorkam. Meist mußte zwischendurch einer auf Toilette, wollte etwas trinken oder sonst irgend etwas tun. Aber diesmal war das nicht der Fall. Der Film hatte uns in seinen Bann gezogen, und jedesmal, wenn eine Person vor dem Spiegel fünfmal hintereinander den Namen "Candyman" aussprach, zuckten wir zusammen, weil dies bedeutete, daß der Candyman plötzlich hinter der Person auftauchen und sie mit seinem Haken durchbohren würde. Nach knapp zwei Stunden hatte der Spuk ein Ende.

"Wollt Ihr es ausprobieren? Ich wette, daß Ihr euch nicht traut", forderte Norbert uns heraus.

"Was?" fragte Dennis. "Fünfmal vor dem Spiegel Candyman zu sagen? Das ist doch kein Problem."

"Wenn Du das so locker hinkriegst, dann geh doch ins Bad vor den Spiegel und probier es aus !"

"Kein Problem. Komm mit, Du Feigling!" wandte sich Dennis an mich.

Zusammen gingen Dennis und ich ins Bad und stellten uns nebeneinander vor den Badezimmerspiegel. Der rechteckige Spiegel hing über dem Waschbecken und hatte für uns und wohl auch für Norbert genau die richtige Höhe, objektiv betrachtet hing er jedoch ein wenig zu hoch.

"Fang an!" forderte Dennis mich auf, während er seinen Blick kurz nach links schweifen ließ.

"Wieso? Hast Du Angst?" fragte ich und schlug dann vor, daß wir die Worte beide gleichzeitig sprechen sollten. Dennis war einverstanden, und wir fingen an.

"CANDYMAN

CANDYMAN

CANDYMAN

CANDYMAN....."

Dennis und ich machten eine kurze Pause, in der wir uns einen flüchtigen Blick zuwarfen. Dann sprachen wir den Namen zum fünften Mal.

"....CANDYMAN."

Plötzlich flog die Tür auf und das Licht ging aus. Ich konnte hinter mir die Umrisse einer dunklen Gestalt erkennen, die einen länglichen Gegenstand in der Hand hielt.

"Norbert!" dachte ich. Mein Onkel war immer für solche Scherze gut. Gleich würden wir alle in lautes Gelächter ausbrechen. Dachte ich....

Als sich unsere Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich, daß es tatsächlich Norbert war, der einen dunklen Mantel übergezogen hatte und uns mit seinen dunkelbraunen Augen anstarrte, während er die rechte Hand drohend emporhob, in der er ein Fleischermesser führte.

Dennis begann zu lachen, doch einen Augenblick später blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Norberts Gesicht war zu einer regungslosen Maske geworden. Seine dunklen Augen starrten weiterhin ernst und entschlossen in unsere Richtung. Langsam aber zielstrebig hob die dunkle Gestalt das Fleischermesser ein weiteres Stück und machte einen Schritt in unsere Richtung. Jetzt überkam mich tatsächlich eine Gänsehaut. Er würde doch nicht.... Dennis und ich wichen einen Schritt zurück, bis wir gegen das Waschbecken stießen. Ich wußte, daß es nur ein Scherz sein konnte, doch wenn ich in Norberts Augen sah, war ich mir da nicht mehr so sicher. Bedrohlich schwebte das Fleischermesser über unseren Köpfen. Gleich würde...

"Buhhh!" rief Norbert und grinste, während er die Hand, in der er das Messer hielt, langsam sinken ließ. Nun begann er laut zu lachen, und es dauerte einige Zeit, bis auch Dennis und ich in das Gelächter einstimmten.

"Da habt ihr euch aber wirklich in die Hose gemacht, was?" tönte mein Onkel laut, und mit dieser Feststellung hatte er ins Schwarze getroffen.

3

Ich mußte das zweimal lesen, um es zu glauben. Diese hirnlosen Irren glaubten wirklich, daß meine Kameraden und ich noch einen Platz für einen Bimbo frei hatten.

Aber da täuschten sie sich gewaltig. Nicht mit uns. Wir konnten es nicht fassen. Ich bat meine Kameraden, erst mal Ruhe zu bewahren und sich keine Sorgen zu machen. Ich würde mich schon um dieses Problem kümmern.

Ich zog meine unauffällige Zivilkleidung an und verließ den Stützpunkt, nachdem ich mich von meinen Kameraden verabschiedet hatte. Mein Bein schmerzte; diese verdammte Tretmine! Aber ich konnte mich trotzdem glücklich schätzen. Meine Kumpels hatte es noch schlimmer getroffen. Erst zwei Tage zuvor wurde der letzte aus dem Lazarett entlassen - ich hatte Tommy selbst dort abgeholt. Der sah vielleicht aus, der Arme. Aber mittlerweile trägt er schon wieder seine Uniform.

Wir durften jetzt keine Schwäche zeigen - der FEIND nahte.

Mein Plan war es, zunächst die Zivilisten zu fragen, ob sie von dem unerwarteten Besuch gehört hatten. Ich ging in den Flur, um jemanden zu verhören, doch alles war wie ausgestorben. Das war meistens so, wenn ich unser Lager verließ.

Ich bemühte mich in eine der oberen Etagen und schaute mich dort um. Als ich fast oben war, hatte ich das Geräusch einer zuschlagenden Tür gehört, doch nun war auch dieser Flur wie ausgestorben.

Ich fühlte mich durch die vielen Gucklöcher an den Türen beobachtet - vielleicht waren Spione unter der Zivilisten. Ich warf einen bösen Blick in einige der Gucklöcher und kämpfte mich dann wieder nach unten vor. Ich fragte mich wirklich, ob die Feinde mehrere Positionen im Haus besetzen wollten.

Zurück im Lager teilte ich den Jungs mit, daß ich bis jetzt noch nichts erreicht hatte. Ich machte ihnen klar, daß wir auf alles vorbereitet sein müßten und bat Herbert, ein paar Vorräte aus dem Kühlschrank in einen Sack zu stopfen. Er war jedoch zu faul, so daß ich es schließlich selber tat.

Mit dem Sack auf der Schulter bewegte ich mich nach unten in den Bunker, wo ich einen Spaten holte. Dann ging ich wieder nach oben, verließ das Haus und schlich in den Garten. Ich vergewisserte mich, das ich nicht beobachtet wurde, bevor ich die Vorräte tief in der Erde eingrub. Damit war der erste Teil der Vorbereitung erledigt.

Wir hatten noch zwei Tage Zeit, bis der Feind kam. In dieser Zeit war es machbar, dem Feind einen Empfang vorzubereiten, den er nicht so schnell vergessen würde.

Ich mußte jedoch zuerst feststellen, ob der Feind sich nicht doch schon in unserer Nähe befand und unser Lager beobachtete. Ich klopfte an die Tür des Zivilisten Norbert Karsch, welcher direkt gegenüber unserem Lager hauste. Ich war darauf vorbereitet, daß der Feind diesen strategisch günstigen Ort schon eingenommen hatte; ich versteckte das große Buschmesser hinter meinem Rücken und ließ es von der einen in die andere Hand gleiten, während ich geduldig wartete. Nachdem ich schon zweimal geklopft hatte und das Messer inzwischen fest in der rechten Hand hielt, öffnete noch immer keiner die Tür. Vielleicht war der Feind tatsächlich schon da.

Ich mußte um jeden Preis verhindern, daß es uns weiter beobachten konnte oder herausfinden, ob sich Norbert Karsch nicht doch noch in seiner Wohnung aufhielt. Dann könnte ich beruhigt sein. Karsch war kein Feind und auch kein Spion. Er war ein harmloser Zivilist, der alleine in seiner Wohnung lebte. Ab und zu wurde er von zwei Jugendlichen besucht, aber richtige Kumpels, wie ich sie besaß, hatte er nicht. Wenn Karsch also noch in seiner Wohnung war, konnte ich sicher sein, daß der Feind noch nicht da war. Ich mußte es überprüfen und wußte auch schon wie.

Aus unserem Lager holte ich eine Rolle Klebeband, riß einen Streifen ab und klebte ihn auf das Guckloch von Norbert Karschs Wohnungstür. Danach verdrückte ich mich in unseren Stützpunkt und spionierte durch unser Beobachtungsloch. Ich verharrte fünf Minuten in dieser Lauerstellung und hatte schon keine Hoffnung mehr, daß sich noch etwas tun würde, als ich plötzlich das Klicken eines Türschlosses hörte. Ich umklammerte mein Messer fester, denn wenn es der Feind war, mußte ich schnell und zielsicher handeln. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Karschs blödes Gesicht sah und er schließlich den Klebestreifen entfernte.

Zufrieden wandte ich mich meinen Kameraden zu und erklärte ihnen die weiteren Schritte meines Plans.

 

 

4

Dittmann hatte das Schreiben mit in seine Wohnung genommen, und wir warteten auf seine Reaktion. Zu schade, daß er den Brief nicht schon im Flur geöffnet und gelesen hatte. Dann hätten wir vielleicht gesehen, wie er vor Schreck eine Herzattacke erlitten hätte und nach Luft japsend zusammengebrochen wäre. Zumindest jedoch hätten wir sein dummes Gesicht gesehen.

Diesmal standen wir alle drei wartend an der Tür. Nach nur fünf Minuten wurde unser kurzes Warten belohnt. Wir hörten wieder das KLACK seines Türschlosses und wollten alle gleichzeitig einen Blick durch den Spion werfen, so daß unsere Köpfe beinahe zusammengeprallt wären. Schließlich ließen wir Dennis als erstes schauen, der uns aber mitteilen mußte, was Dittmann tat.

POCK - POCK - POCK -POCK - POCK - POCK - POCK.

"Er geht den Flur hinunter und wirft Blicke in alle Richtungen - wie ein wildes Tier", flüsterte mein Bruder. Wir lächelten zufrieden. Das POCK wurde leiser, dann wieder lauter und Dennis bestätigte mich in meiner Annahme, das Dittmann zurückkam. Wir hörten ein leises Knurren, das vom Zombie stammte.

Dennis berichtete weiter, während wir das POCK weiterhin vernahmen:

"Er geht jetzt nach oben - oder besser gesagt: quält sich nach oben. Mit seinem Holzbein kommt der die Treppe fast gar nicht hoch."

Das POCK war jetzt kaum noch zu hören. Er mußte oben angekommen sein.

"Der sucht jemanden, den er fragen kann, ob noch andere im Haus einen Ausländer aufnehmen müssen", meinte Norbert.

"Damit wird der wohl kaum Erfolg haben", sprach ich aus, was alle dachten, und wir brachen wieder in Gelächter aus, bis Norbert mahnend den Finger hob. Wir durften nicht zu laut sein.

Dann hörten wir, wie das dumpfe POCK - POCK allmählich wieder lauter wurde. Norbert, der inzwischen die Position am Guckloch eingenommen hatte, teilte uns mit, daß er wieder nach unten kam.

KLACK! Wir erkannten an dem Geräusch, daß er wohl wieder in seine Wohnung ging. Norbert bestätigte unsere Annahme nicht, weil er offensichtlich davon ausging, daß Dennis und ich intelligent genug waren, dieses Geräusch zu deuten.

Wir hörten das KLACK jedoch nur einmal, was bedeutete, daß er seine Tür nicht wieder abgeschlossen hatte.

"Wartet ab, der kommt gleich wieder raus", nahm Dennis mir die Worte aus dem Mund. Und natürlich hatte er recht.

"Er kommt wieder", fuhr Norbert fort, während auch das dumpfe POCK seines Holzbeins wieder einsetzte. "Er humpelt den Flur hinunter in Richtung Kellertreppe."

Norbert machte eine kurze Pause. "Er wird hinuntergehen... Moment mal - der trägt ja irgend etwas auf seinem Rücken."

"Was ist es?" wollte ich sofort wissen, und auch Dennis schien sehr daran interessiert, wie man an seiner Aufforderung unschwer erkennen konnte: "Sieh genauer hin, Norbert!"

"Zu spät! Er ist schon im Keller", antwortete mein Onkel. "Ich würde zu gern wissen, was das war." Auch Norbert hatte offensichtlich die Neugier gepackt.

"Du kannst ihm ja folgen und nachsehen", sagte ich scherzhaft.

"Und dann vom Gestank ohnmächtig die Kellertreppe herunterstürzen ? Nein danke!" erwiderte Norbert, und wir konnten unserem Lachen freien Lauf lassen, da wir sicher sein konnten, daß Dittmann uns im Keller nicht hören konnte.

Nach kurzer Zeit setzte das POCK leise wieder ein und wurde langsam lauter, dann jedoch wieder leiser.

"Er verläßt das Haus", beobachtete Norbert. "Er hat immer noch dieses Ding - ich glaube, es ist ein Sack - auf der Schulter, und in seiner rechten Hand trägt er einen Spaten."

"Vielleicht geht er in den Garten. Laßt uns auf den Balkon gehen! Dann können wir ihn beobachten", schlug ich vor und setzte mich Richtung Balkon in Bewegung. Norbert und Dennis folgten mir, und mein Bruder stellte eine interessante Frage:

"Was hat das jetzt noch mit unserem Brief zu tun?"

Zu diesem Zeitpunkt waren weder Norbert noch ich in der Lage, diese Frage zu beantworten. Es schien einfach paradox.

Wir knieten uns vor das Geländer, so daß wir eben darüber hinwegsehen konnten. Es dauerte nicht lange, bis Dittmann um die Ecke kam. Das Ding, das er auf dem Rücken trug, war jetzt klar zu erkennen - er war tatsächlich ein Sack. Er suchte sich eine für sein Vorhaben geeignete Stelle in seinem Garten, welcher sich genau unter seinem Balkon befand und die Unordentlichkeit und Verkommenheit des Zombies deutlich widerspiegelte. Sein Gartenstück sah aus wie ein Dschungel. Überall ragte Unkraut aus der Erde und alles war mit Sträuchern zugewachsen, die teilweise bis in die angrenzenden Gärten wucherten - auch bis in den meines Onkels.

Als Dittmann begann, sich umzuschauen, zogen wir schnell die Köpfe ein. Er hatte uns anscheinend nicht gesehen. Dennoch sah er sich weitere Male nervös um, bevor er sich mit dem Spaten einen Weg durch das Gestrüpp bahnte, so daß wir ihn bald nur noch vage durch das Gebüsch erkennen konnten.

Ungefähr in der Mitte seines Gartens blieb er stehen, legte den Sack am Boden ab und begann ein Loch zu graben. Dabei hatte der Zombie erhebliche Probleme, denn er konnte den Spaten schließlich nur mit dem linken Fuß in die Erde bohren, während er auf seinem Holzstumpf einen unsicheren Stand hatte. Dies erklärte, warum er so langsam mit dem Graben vorankam. Erst nach zehn Minuten war das Loch tief genug für den Sack, den er hineinwarf. Nun wischte er sich den Schweiß von der Stirn und schob seine naßgeschwitzten Haare - vielleicht waren sie aber auch nur triefend fettig - aus seinem Gesicht. Er begann schließlich das Loch mit der angehäuften Erde wieder zuzuschütten, bevor er ins Haus zurückkehrte.

Was in aller Welt war in dem Sack, daß er ihn vergraben mußte?

Als er uns nicht mehr sehen konnte, verließen wir den Balkon und gingen zurück an die Wohnungstür. Norbert klemmte sich wieder vor das Guckloch. Kurz darauf konnten wir wieder das POCK-POCK vernehmen, das langsam näherkam. Und der Zombie überraschte uns aufs neue. Es geschah etwas, womit wir nicht einmal im Traum gerechnet hatten. Norbert berichtete, daß er genau vor unserer Tür stehen geblieben war und darauf starrte. Hatte er etwas gemerkt? War er dahinter gekommen? Wollte er jetzt die Rechnung begleichen? Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, und ich wurde blaß vor Schauder. Der Dittmann war schließlich nicht ganz dicht, und man weiß nie, wie solche Irren auf etwas eigentlich Harmloses reagieren.

Norbert hatte aufgehört zu berichten. Entweder dachte er, daß der Zombie ihn auf diese kurze Entfernung hätte sprechen hören können oder er war wie ich erstarrt durch die Annahme, daß Dittmann alles herausbekommen hatte.

Unerwartet wich Norbert einen Schritt zurück. Dennis und ich wichen instinktiv ebenfalls zurück. Dann klopfte es an der Tür. Erst einmal. Dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Selbst wenn wir die Tür hätten öffnen wollen - und das war sicher nicht der Fall - hätten wir es nicht gekonnt. Wir waren zu Salzsäuren erstarrt. Hätte uns jemand gesehen, hätte er vermutlich gedacht wir wären Wachsfiguren aus dem Wachsfigurenkabinett von Madame Tussot. Wir starrten alle drei mit großen Augen auf die Tür, als hätten wir den Weltuntergang erwartet. Doch es geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. POCK! Zum erstenmal in meinem Leben war ich glücklich, dieses dumpfe POCK des Holzbeins zu vernehmen, denn es bedeutete, daß er sich weggedreht hatte und ging. POCK - POCK.

Nicht ganz zehn Sekunden später hörte ich das bekannte KLACK des Schlosses seiner Tür. Ich atmete tief durch; was für eine Erleichterung. Auch Dennis und Norbert konnte ich ihre Erleichterung am Gesicht ablesen. Ihre erstarrten Mienen lockerten sich langsam, und ihre Gesichter nahmen wieder Farbe an. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an.

KLACK!

Seine Tür öffnete sich erneut, und unsere Gesichter erstarrten wieder. Hatte er vielleicht jetzt seine Axt geholt? Oder würde er anders versuchen, unsere Tür zu öffnen?

POCK - POCK! Er ging offensichtlich zu Norberts Wohnungstür. Ich stellte mir vor, wie Dittmann mit einer Axt ausholen und die scharfe Klinge der Axt sich durch das Holz der Wohnungstür bohren würde. Doch nichts dergleichen geschah. Wir hörten keinen lauten Knall, sondern nur ein leises Schaben an der Tür. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, entfernte sich das POCK schon wieder, und Dittmann zog sich in seine Wohnung zurück. Norbert hatte sich als erster von dem Schrecken erholt und schaute durch das Guckloch, während wir gespannt auf ihn blickten. Er machte ein irritiertes Gesicht, bewegte den Kopf kurz vom Loch weg und dann wieder hin.

"Ich sehe nichts. Der Wahnsinnige muß irgendwas davorgeklebt haben", sagte Norbert.

Was wollte Dittmann damit bezwecken? Sprachlos standen wir da und warteten. Nach fünf Minuten öffnete mein Onkel schließlich die Wohnungstür und entfernte einen Klebestreifen, der von außen auf das Guckloch geklebt worden war. Danach ging er sich sofort die Hände waschen. Während er noch im Bad war, begann er plötzlich laut zu lachen.

"Was ist denn?" fragten Dennis und ich.

"Ich find' das ziemlich komisch", begann Norbert. "Wir wollten doch eigentlich dem Zombie einen Schrecken einjagen und nicht umgekehrt. Und nun standen wir gerade vor der Tür und haben uns in die Hose gemacht. Nur weil der so irre ist..."

Norbert mußte nun noch lauter lachen, und auch Dennis und ich brachten ein Lachen über unsere Lippen, obwohl der Schreck noch tief saß.

Eine Stimme in meinem Innern sagte mir jedoch, daß uns das Lachen noch vergehen würde.

 

 

5

Wir waren wie meistens bis nach der Sportschau bei Norbert geblieben und dann nach Hause gegangen, wo das Abendessen bereits auf uns wartete. Daß wir so viel Zeit bei unserem Onkel verbracht hatten, hatte mal wieder die Neugier meiner Mutter geweckt. Sie hatte wirklich Talent dazu, einem Löcher in den Bauch zu fragen.

"Und, was habt ihr die ganze Zeit bei Norbert gemacht?" wollte sie wissen.

Bis jetzt hatten wir unseren Eltern nichts von unserem Streich erzählt, aber ich sah keinen Grund, warum wir dies nicht tun sollten. Wir verstanden uns mit unseren Eltern ziemlich gut und konnten ihnen fast alles anvertrauen. Außerdem war ich immer noch sehr stolz auf meine Idee, so daß ich gerne davon berichtete.

"Wir haben dem Dittmann einen Streich gespielt", antwortete ich, und Dennis verbesserte mich: "Wir haben es versucht."

"Was habt ihr denn gemacht?" wollte mein Vater wissen. Dennis erzählte kurz die Geschichte von dem Brief, den Beobachtungen durch den Spion und dem Plan mit dem Afrikaner. Mein Vater konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, doch meine Mutter machte ein eher nachdenkliches Gesicht.

"Was ist los?" fragte ich sie.

"Ich weiß nicht", begann sie. "Ich weiß nicht, ob das gut ist, was ihr da macht."

"Wieso? Ist doch nur ein Scherz", fiel ihr Dennis ins Wort.

"Schon, aber mit dem Dittmann muß man vorsichtig sein. Seit seine Frau ihn vor zehn Jahren verlassen hat, ist der völlig durchgeknallt. Das sieht man ihm doch schon an. Man weiß nie, wie so ein Mensch auf einen Scherz reagiert. Vielleicht ist er ja gefährlich", erwiderte meine Mutter und hatte damit denselben Gedanken, den ich einige Stunden zuvor gehabt hatte.

"Wie soll der denn rauskriegen, daß der Brief von uns stammt?" beruhigte sie Dennis, und ihr Gesicht entspannte sich etwas. Sie hatte wohl eingesehen, daß Dittmann niemals dahinterkommen würde.

Nach dem Essen folgte ich einer Einladung einer Klassenkameradin zu ihrer Geburtstagsparty. Meine Freunde Markus, Tobias und Klaus waren zum Glück auch dort, denn die Party erwies sich als Reinfall. So konnten wir wenigstens noch etwas zusammen unternehmen, um den angebrochenen Abend zu retten. Es war mittlerweile zehn Uhr und wir berieten, was wir tun könnten.

"Laßt uns irgendwo 'ne Pizza essen gehen!" schlug Klaus vor. Klaus war zwei Monate jünger als ich, dafür aber mindestens doppelt so dick. Er dachte immer nur an das eine: ans Essen oder besser Fressen. Ich fragte mich wirklich, wie jemand, der auf der Party schon so zugelangt hatte wie Klaus, jetzt noch Hunger haben konnte.

"Das können wir nicht machen", meinte Tobias, der ein wahrer Chaot war und immer einen Witz auf Lager hatte. In der Schule war er nicht besonders gut und befürchtete jedes Jahr, daß er die Jahrgangsstufe wiederholen mußte. Doch er war ein super Kumpel, und deshalb waren wir froh, daß er es bis zu diesem Zeitpunkt immer gerade noch geschafft hatte.

"Ich meine natürlich, das können wir nicht zulassen", verbesserte er sich. "Ganz in Deinem Interesse, Klaus. Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie Du eines Tages platzen wirst."

Früher hatte sich Klaus immer sehr über diese Art von Witzen aufgeregt. Er hatte sich jedoch mit der Zeit daran gewöhnt und nahm sie jetzt nicht mehr so ernst.

"Ich hab' auch keine Lust, etwas zu essen", sagte Markus, unser Kampftrinker, der schon einige Liter Bier intus hatte. Doch Markus haute so etwas so schnell nicht um.

"Laßt uns etwas spannendes machen!" fuhr er fort.

"Was nennst Du denn spannend?" wollte ich wissen.

"Wir könnten in die alte Scheune von Meyer einbrechen", unterbrach Klaus, fand damit aber keine Zustimmung.

"So ein Quatsch! Ich hab' gesagt was spannendes. In Meyers Scheune kannst du bestenfalls Ratten jagen. Wie aufregend!" motzte Markus.

"Wenn ihr wissen wollt, was spannend ist, dann kommt mit!"

Markus setzte sich in Bewegung, und obwohl keiner von uns wußte, was er vorhatte, folgten wir ihm alle.

"Wohin gehen wir?" fragte Tobias, doch Markus schwieg.

Als ich sah in welche Richtung Markus losmarschierte, konnte ich mir eine Vorstellung davon machen, was Markus vorhatte. Und wenn es wirklich das war, was ich glaubte - ich war mir jedoch nicht ganz sicher - dann fand ich es gar nicht mal so uninteressant.

"Hast Du den Torschlüssel oder willst Du über die Mauer klettern?" fragte ich und riskierte dabei einen dummen Kommentar von Markus, falls meine Vermutung falsch war. An seinem irritierten Gesicht konnte ich jedoch erkennen, daß ich mit meiner Annahme richtig lag.

"Woher weißt Du, wohin wir gehen?" fragte er.

Auch die anderen hatte durch meine Andeutung mittlerweile erkannt, daß wir auf dem Weg zum Friedhof waren.

"Was wollen wir denn da?" fragte Tobias, der wohl nicht so begeistert von der Idee war.

"Ich will wissen, ob man noch was vom geschändeten Grab erkennen kann", antwortete Markus.

"Wenn Du letzten Samstag hingegangen wärst, hättest Du vielleicht was gesehen, aber doch nicht heute - eine ganze Woche später!" erklärte auch Klaus die Idee für schwachsinnig."

"Wer weiß..", versuchte ich die Stimmung zu lockern. "Vielleicht treffen wir ja sogar den Grabschänder persönlich - mit dem Spaten in der Hand, wie er gerade Markus Urgroßmutter ausbuddelt."

Nach dieser kurzen Diskussion einigten wir uns schließlich, doch zum Friedhof zu gehen. Es war mittlerweile schon viertel vor elf und fast vollkommen dunkel. Der schmale Weg, den wir nahmen, war nur stellenweise von schwachen Laternen erleuchtet, so daß es häufiger vorkam, daß einer von uns in eines der vielen Schlaglöcher trat.

Kurz darauf hatten wir das Friedhofstor erreicht, und es war wie erwartet abgeschlossen.

"Auf über die Mauer!" sprach Markus. Tobias und ich wollten ihm sofort folgen, doch Klaus meldete Zweifel an: "Was ist mit dem Friedhofswächter?"

"Der sitzt irgendwo in seiner warmen Hütte anstatt über den Friedhof zu schleichen. Du hast ja nur Angst, Dich zu blamieren, weil Du nicht über die Mauer kommst", meinte Markus.

"Klaus könnte recht haben, daß wir auf den Friedhofswärter treffen könnten. Wahrscheinlich haben sie die Wache nach der Tat des Grabschänders verstärkt", nahm ich Klaus in Schutz, damit der Streit nicht weiter ausartete.

"Dann müssen wir eben vorsichtig sein", sagte Tobias, der gerade die Mauer erklimmen wollte.

"Warte!" hielt ihn Markus auf. "Wir müssen erst schauen, daß wir Klaus irgendwie rüberkriegen. Hat jemand ein Katapult dabei?"

"Komm, Klaus!" sagte Tobias, der sich mit dem Rücken an die Mauer gestellt hatte und eine Räuberleiter machte. "Und Ihr drückt ihn nach oben!" wandte er sich in unsere Richtung.

Wir machten es, wie Tobias gesagt hatte, und es funktionierte. Klaus saß oben auf der Mauer.

"Runter kommst Du ja wohl selbst", stichelte Markus.

Tobias, Markus und ich schafften es ohne Hilfe auf die Mauer, und danach sprangen wir alle vier gleichzeitig nach unten. Wir waren auf dem Friedhof. Es war stockfinster, doch nach kurzer Zeit hatten sich unsere Augen soweit an die Dunkelheit gewöhnt, daß wir zumindest die dunkleren Flecken als Bäume und Sträucher identifizieren konnten.

"Was jetzt? Der Friedhof ist groß...", fragte ich.

"Mir nach! Ich glaube, der Grabschänder hat im hinteren Teil des Friedhofs zugeschlagen, da wo die neueren Gräber sind", meinte Tobias, der unseren nächtlichen Ausflug mittlerweile wohl doch spannend fand.

Durch die Büsche gelangten wir bald auf den Hauptweg, dem wir erst einmal folgten. Wir waren fünf Minuten gegangen, als uns aus der Ferne ein kleines Licht ins Auge fiel, das relativ schnell größer wurde.

"Der Wärter! Schnell weg!" sagte Klaus und hüpfte vom Weg nach rechts in die Büsche. Markus und ich taten es ihm nach, während Tobias nach links wegsprang.

Es dauerte nicht lange, da war der Wärter mit der Taschenlampe auf unserer Höhe. Aus dem Gebüsch konnten wir ihn gut erkennen. Wir hofften, daß er uns nicht auch sehen konnte. Er war ein älterer Mann, der sich anscheinend zu seiner Rente etwas dazu verdiente. Um seinen Hals trug er eine Schnur mit einer Pfeife daran, und in der rechten Hand hielt er einen Baseballschläger. Ob er ihn auch benutzen würde? Er ging an uns vorbei, ohne uns zu bemerken, und als wir das Licht seiner Taschenlampe nicht mehr sehen konnten, verließen wir unser Versteck wieder und kehrten auf den Weg zurück.

"Wo ist Tobi?" fragte Klaus.

"Vielleicht ist er noch in seinem Versteck", antwortete Markus, während wir zum linken Rand des Weges gingen, um nachzusehen.

"Tobias, bist Du da drin?" flüsterte ich, erhielt jedoch keine Antwort.

"Spiel Deine billigen Scherze ein anderes Mal!" ermahnte ihn Markus, in dessen Stimme jedoch ein Hauch von Ängstlichkeit mitschwang.

Tobias kam immer noch nicht aus dem Gebüsch. Was war passiert? Spielte er uns tatsächlich nur einen Streich, wie er es schon häufig getan hatte? Oder war vielleicht doch etwas anderes geschehen?

Markus, Klaus und ich sahen uns gegenseitig ratlos an. Was wäre, wenn er von einem Friedhofswärter erwischt oder - schlimmer noch - dem Grabschänder über den Weg gelaufen war? Ich glaube, ich war nicht der einzige, den diese Fragen beschäftigten.

Wenn er tatsächlich von den Friedhofswärtern erwischt worden war, würden diese wahrscheinlich die Polizei rufen und Tobias möglicherweise mit der Grabschändersache in Verbindung bringen. Das wäre jedoch nicht so schlimm. Bei Tobias konnten wir uns sicher sein, daß er uns nicht verraten würde, und die Polizei würde vermutlich schnell herausfinden, daß er mit der Sache nichts zu tun hatte.

Aber wenn er auf den Grabschänder getroffen war... Was hätte dieser mit Tobias gemacht? Der Grabschänder mußte mindestens genau so irre sein wie Dittmann, und man konnte nie wissen, wie solche Leute sich verhalten würden. Möglicherweise würde er ihn sogar umbringen, wie ich erwartet hatte, daß Dittmann uns umbringen würde, als er vor unserer Tür stand. Aber dies waren alles nur Spekulationen. Wir mußten herausfinden, was in Wirklichkeit passiert war.

"Was jetzt?" fragte Klaus, dem Tobias Verschwinden wohl den größten Schrecken eingejagt hatte.

"Laßt uns erstmal weiter in Richtung neue Gräber gehen!" schlug Markus vor, der anscheinend darauf hoffte, daß es doch nur ein Scherz war und Tobias irgendwann plötzlich mit einem lauten Schrei aus dem Gebüsch springen würde.

Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl, aber da ich keinen anderen Vorschlag hatte, gab ich mich damit einverstanden.

"Wären wir doch nie hier hingegangen!" sprach Klaus mir aus der Seele.

Auf dem Weg zu den neuen Gräbern warteten wir vergebens darauf, daß Tobias auf den Weg sprang oder uns sonst irgendwie erschreckte. Nun hatte auch Markus die letzte Hoffnung aufgegeben, daß es nur ein Scherz war.

Wir erreichten unser Ziel, doch wir fühlten uns nicht gut. Wir wußten einfach nicht, ob es richtig war, was wir taten. Vielleicht hätten wir einfach zu einem Wärter gehen sollen, um ihm die Geschichte zu erzählen.

Dieser Teil des Friedhofs war anders als die anderen. Es gab hier mehr Bäume und Sträucher, so daß man sich hier noch leichter verstecken konnte. Im Gegensatz zu den anderen Teilen wurde dieser aber von mehreren kleinen Laternen erleuchtet, die wohl erst nach der erneuten Tat des Grabschänders aufgestellt worden waren.

Ich wandte mich zu Markus: "Tobias hat uns nicht erschreckt, wie Du erwartet hast. Laßt uns zu einem Wärter gehen."

"Nichts überstürzen!" beruhigte mich Markus. "Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch nach dem geschändeten Grab gucken. Dann können wir uns immer noch an einen Wärter wenden."

Also machten wir uns auf die Suche. Doch schon nach kurzer Zeit machten wir eine schreckliche Entdeckung. Wir gingen über den schwach beleuchteten Weg, als wir einen kleinen Gegenstand auf dem Boden sahen. Wir gingen näher ran und konnten einen weißen Turnschuh erkennen. Mit weit aufgerissenen Augen sahen wir uns gegenseitig an. Mir war zum Schreien zu Mute. Ich schluckte und konnte so einen Schrei unterdrücken. Klaus und Markus standen mit offenem Mund da.

Es war Tobias linker Schuh. Irgend etwas mußte ihm zugestoßen sein. Als wir uns halbwegs von dem Schreck erholt hatten, schauten wir uns die Gräber links und rechts vom Weg genauer an. Zunächst fiel uns nichts ungewöhnliches auf, doch als wir wenige träge Schritte weitergegangen waren, stießen wir auf ein tiefes Loch in der Erde mit einem Haufen Erde daneben und einem Grabstein davor. Das geschändete Grab!

"Was steht auf dem Grabstein?" wollte ich wissen. In der Dunkelheit war die Schrift auf dem Stein nicht zu entziffern. Markus begann in seiner Tasche zu kramen und holte ein Feuerzeug hervor. Nach mehreren Fehlversuchen entzündete die kleine Flamme. Markus beugte sich vor den Grabstein, während Klaus und ich ihm über die Schulter blickten. Nun konnten wir die Inschrift erkennen:

THOMAS RUSTER, 1938-1996.

"Halt doch mal das Feuerzeug in das Loch!" sagte Klaus.

Markus drehte sich um und kniete sich nun direkt vor das Loch, so daß er mit der Hand, in der er das Feuerzeug hielt, hineinreichen konnte und wir bis ganz unten gucken konnten.

Gegen unsere Erwartungen befand sich tatsächlich ein Sarg dort unten.

"Ob er die Leiche dort rausgeholt hat, der Irre?" fragte Markus.

"Schon möglich", sagte ich. "Aber was um Himmels Willen macht er mit den Leichen?"

Plötzlich wurden unsere Überlegungen durch ein schrilles Quietschen unterbrochen, das aus dem Loch zu kommen schien. Wir hielten den Atem an und schauten gebannt hinein. Das Quietschen, das sich nun zu einem Knarren gewandelt hatte, kam tatsächlich von unten.

Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen, doch es war Realität. Langsam öffnete sich der Sarg und gab dabei dieses Knarren von sich. Ich dachte, mein Herz würde stehenbleiben, doch im selben Augenblick wurde ich durch einen Schrei aufgeschreckt. Klaus hatte sich nicht zusammenreißen können, doch vielleicht war das gar nicht mal schlecht. Den Schrei hatte sicher einer der Wächter gehört und würde hierhereilen, um sich um das zu kümmern, was sich im Sarg befand - was auch immer das sein mochte.

Der Sargdeckel hatte sich nun ganz geöffnet, und was wir darin sahen, erleichterte uns gewaltig. Es war Tobias, der uns mit seinem dämlichen Lächeln anstarrte. Ich hätte ihn für diesen Scherz erwürgen können. Auch Markus und Klaus atmeten durch, während Tobias aus dem Loch kletterte.

Doch nun hatten wir ein Problem. Ein Wärter mußte den Schrei gehört haben. Wir hörten den schrillen Laut seiner Pfeife, der dann aus verschiedenen Richtungen wiederholt wurde. Sie waren auf dem Weg hierhin.

"Nichts wie weg!" schrie Markus und begann zu laufen.

"Warum mußtest Du auch schreien, Dicker?" fand Tobias noch Zeit zu diskutieren. "Laßt uns schnell ein paar Lampen zerschlagen!" schlug er dann vor. "Nur mit dem Licht der Taschenlampen werden die uns nicht so schnell finden."

Wir strömten in verschiedene Richtungen aus und mit jedem KLIRR wurde es ein wenig dunkler, und unsere Chancen, nicht entdeckt zu werden, stiegen an.

Bald hatten wir den Großteil der Lampen zerstört - glücklicherweise bevor die Wächter uns erreicht hatten. Schnell sprangen wir ins Gebüsch und tasteten uns langsam und so gut es ging leise in Richtung Mauer vor. Wir bewegten uns im Gänsemarsch vorwärts, und ab und zu mußten wir anhalten oder uns sogar auf den Boden werfen, weil das Licht einer Taschenlampe über die Büsche schweifte.

Unentdeckt erreichten wir die Mauer. Wir mußten nun unsere Deckung verlassen, um Klaus über die Mauer zu befördern, was uns von der Angst, entdeckt zu werden, getrieben relativ schnell gelang.

Ich sah mich noch einmal um und blickte in den Lichtkegel einer Taschenlampe.

"Halt! Stehenbleiben!" ertönte eine tiefe, brummige Stimme. So schnell wie möglich versuchten wir, die Mauer zu erklimmen, während sich der Wächter im Laufschritt auf uns zu bewegte und in seine Pfeife pustete. Unmittelbar bevor er die Mauer erreichte, sprangen wir hinab auf die andere Seite.

Obwohl wir nun nicht mehr verfolgt wurden, rannten Tobias, Klaus und ich blind in irgendeine Richtung - nur weg vom Friedhof. Als wir uns einigermaßen sicher fühlten, blieben wir stehen, um zu verschnaufen.

"Mann, war das knapp", keuchte Tobias.

"Das kannst Du laut sagen. Markus hatte recht, spannend war unser Friedhofsbesuch", sagte ich.

"Und Du hast ja jede Menge dazu beigetragen, Tobi", fügte Klaus hinzu, der sich mittlerweile einigermaßen vom Rennen erholt hatte.

"Aber wo ist Markus jetzt?" fragte ich.

"Um den brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen, den haben die nie bekommen", beruhigte mich Tobias.

"Ich glaub', ich geh jetzt nach Hause", unterbrach Klaus, der kurz zuvor auf die Uhr geschaut hatte.

"Was sagt denn die Uhr?" fragte Tobias.

"Viertel vor zwölf."

"Oh! Dann werde ich jetzt wohl auch gehen. Um halb eins fängt nämlich ein geiler Horrorfilm an. Der Kettensägenmörder! Den muß ich unbedingt sehen", sagte Tobias.

"Oh Gott! Dann werde ich mir den Film in der nächsten Zeit garantiert auch ansehen müssen. So wie ich meinen Onkel kenne, nimmt der den auf, und dann werden wir uns den zusammen reinziehen. Mein Onkel ist der reinste Horrorfilm-Freak."

"Habt ihr noch nicht genug Horror gehabt?" zeigte sich Klaus unverständlich.

Ich überhörte seinen Kommentar einfach und verabschiedete mich.

"Einer von euch kann ja gleich mal bei Markus anrufen, ob er zu Hause angekommen ist. Falls was passiert sein sollte, sagt mir Bescheid", sagte ich noch, bevor ich ging.

"Klar, mach ich!" zeigte sich Tobias einverstanden, und wir gingen nach Hause.

Dort angekommen zog ich mich nur noch um, bevor ich TODmüde ins Bett fiel.

 

 

6

Um fünf Uhr klingelte das Telefon. Ich beeilte mich und nahm den Hörer ab.

"Hallo?"

"Hier Norbert! Ihr müßt sofort kommen! Der Afrikaner ist schon da!"

"Was? Ich dachte, der kommt erst um sechs. Scheiße! Wir sind schon unterwegs."

Ich hing auf und lief die Treppe hoch, um Dennis Bescheid zu sagen. Er hörte gerade Musik, oder besser das, was er Musik nannte. Er war sehr erschrocken, als er die Nachricht hörte. Fluchend stellte er die Musik ab, und wir liefen zusammen die Treppe hinunter. Unten angekommen stürmten wir aus dem Haus und machten uns im Eiltempo auf den Weg zu meinem Onkel.

Sieben Minuten später kamen wir abgehetzt und völlig außer Atem bei ihm an. Er stand bereits an der Tür und erwartete uns.

"Ist er schon wieder weg?" fragte Dennis, und wir erhielten eine überraschende Antwort, die uns jedoch fröhlich stimmte.

"Nein. Dittmann hat ihn reingelassen; er hat uns die Sache mit dem Brief tatsächlich abgekauft." antwortete Norbert.

Dennis und ich schauten Norbert ungläubig an. "Du willst uns auf den Arm nehmen", sagte ich, stieß jedoch auf Protest.

"Nein! Er hat ihn wirklich in seine Wohnung gelassen. Wenn Ihr es nicht glaubt, dann klingelt doch selbst bei Dittmann oder wenn Ihr etwas mehr Geduld habt, wartet Ihr, bis der Afrikaner wieder raus kommt."

Wir waren inzwischen in Norberts Wohnung gegangen und standen nun alle drei am Guckloch.

"Ich konnte meinen Augen auch nicht trauen, als Dittmann ihn reingebeten hatte. Makkalakalane hatte wohl auch kaum damit gerechnet."

"Wer?" fragte ich, obwohl ich genau wußte, wer gemeint war - mich faszinierte nur der Name so, daß ich ihn noch mal hören wollte.

"Der Afrikaner heißt so, du Dummkopf!" antwortete Dennis. Offensichtlich hatte er den Sinn meiner Nachfrage nicht ganz durchschaut.

"Er war jedenfalls völlig verwirrt, so daß er darauf eingegangen ist, als Dittmann ihn hereinbat", ergriff Norbert wieder das Wort. "Ich kann schon gar nicht mehr erwarten zu erfahren, was der Zombie ihm erzählt hat."

"Daß Du ihn nicht gleich fragen kannst, ist Dir hoffentlich klar", sagte ich, da ich noch immer fürchtete, Dittmann könne herausfinden, daß wir dahinter steckten.

"Hab ich 'doof' auf der Stirn stehen? Mir ist klar, daß ich ihn nicht mehr fragen kann - nicht mehr heute. Ich werde ihn morgen im Bus fragen", wetterte mein Onkel zornig, da er sich wohl von mir angegriffen fühlte.

Wir warteten fünf Minuten und wurden langsam nervös, als wir plötzlich Dittmanns Stimme aus dessen Wohnung vernehmen konnten.

"Ruhig! Der Zombie sagt irgend etwas!" ermahnte uns Dennis.

Keiner von uns wagte es jetzt, einen Laut von sich zu geben. Gespannt lauschten wir Dittmanns Stimme, der offensichtlich in seiner Wohnung auf und ab ging, denn in regelmäßigen Abständen vernahmen wir ein dumpfes POCK zwischen einigen Wortfetzen, die wir verstehen konnten.

Der Feind - POCK - Bimbo - POCK - POCK - abmetzeln - POCK - mit der Angst zu tun - POCK - POCK - verstecken - POCK!

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Was hatte dieser Geisteskranke mit Makkalakalane gemacht? Mir wurde übel, wenn ich daran dachte. Hatte Dittmann wirklich...? Noch immer vernahm ich das dumpfe POCK, während ich betete, daß der Afrikaner gleich Dittmanns Wohnung verlassen würde - lebendig.

"Laßt uns die Polizei rufen!" flüsterte mein Bruder, in dessen Augen ich blankes Entsetzen erkennen konnte.

"Nein! Wartet!" Norberts Stimme klang entschlossen und bestimmt. "Laßt uns erst mal weiter beobachten!"

"Aber...vielleicht bringt er ihn gerade um", stammelte Dennis.

Norbert machte ein nachdenkliches Gesicht. Dann begann er zu sprechen.

"Wenn das so sein sollte, dann kann ihn die Polizei auch nicht mehr retten. Aber wenn wir weiter beobachten, können wir der Polizei vielleicht wichtige Informationen geben. Festnehmen können die den Irren dann immer noch."

Ich überlegte kurz und mußte zugeben, daß Norbert recht hatte. Auch Dennis schien das einzusehen - jedenfalls widersprach er nicht. Wir beobachteten also weiter.

KLACK! Nur wenig später hörten wir Dittmanns Türschloß und die Spannung steigerte sich ins Unermeßliche. Was würde geschehen? Vielleicht würden unsere vagen Hoffnungen doch noch wahr werden, und der Afrikaner würde aus Dittmanns Wohnung spazieren. Doch nur einen Augenblick später wurde unsere Hoffnung enttäuscht. Norbert, der das Geschehen durch das Guckloch beobachtete, teilte uns mit, daß der Zombie alleine die Wohnung verließ.

POCK - POCK!

"Vielleicht überläßt Robert Makkalakalane ja seine ganze Wohnung", scherzte Norbert. Doch wir lachten nicht. Es war mir unverständlich, wie mein Onkel in einer solchen Situation noch scherzen konnte.

"Schon gut. Tut mir leid, aber mir ist das gerade so durch den Kopf gegangen", entschuldigte sich Norbert. "Robert scheint in den Keller zu gehen - Moment! - ja, er geht hinunter."

"Laßt uns jetzt die Polizei rufen!" wurde Dennis wieder ungeduldig.

"NEIN! Noch nicht! Er kommt wieder hoch", sagte Norbert, der nun jedoch auch etwas aufgeregt schien.

Das POCK wurde wieder lauter, dann leiser und verstummte schließlich ganz.

"Er hat das Haus mit einem Spaten verlassen", berichtete Norbert, in dessen Gesicht wir nun eine zunehmende Nervosität beobachten konnten. Er hatte das Gesicht in Falten geworfen und Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Ohne daß einer von uns etwas sagte, gingen wir alle auf den Balkon. Dittmann kam wie zuletzt um die Ecke. Es gab nur einen Unterschied. Diesmal trug er keinen Sack auf dem Rücken. Er bahnte sich wieder einen Weg durch seinen Dschungel, bis er unter seinem eigenen Balkon stand.

Dort lag irgend etwas auf der Erde. Aber was war es?

Die Frage wurde bald beantwortet, da der Zombie den Gegenstand packte und hinter sich her schliff. Es war ein Sack wie zuletzt, schien jedoch erheblich schwerer zu sein.

Ich sah Dennis und Norbert fragend an. Während mein Bruder eher blaß erschien, war mein Onkel knallrot und der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Wie unterschiedlich Menschen doch auf dieselbe Situation reagierten.

Ob sie dasselbe dachten wie ich? Oder ob ihre Gedanken weniger makaber waren und sie eine andere Erklärung dafür hatten?

Dittmann stand mittlerweile hinter einem großen Busch, wo wir ihn nicht mehr sehen, sondern nur noch hören konnten. Er war offensichtlich dabei, wieder ein Loch zu graben. Doch diesmal brauchte er mehr Zeit. Das Loch sollte für seine Zwecke wohl tiefer werden. Ich schaute wieder zu den anderen rüber. Norbert war mittlerweile vom Schweiß vollkommen durchnäßt. Er befürchtete bestimmt das, was ich auch befürchtete - ich schwitzte jedoch nicht und konnte mir gut vorstellen, daß ich genauso bleich war wie Dennis.

Dittmann hatte ganze zwanzig Minuten benötigt, um das Loch zu graben und - wie wir vermuteten - den Sack hineinzuwerfen und das Loch wieder zuzuschütten. Danach humpelte er sichtlich geschafft wieder ins Haus zurück und betrat seine Wohnung. Mein Bruder war jetzt nicht mehr ganz so blaß wie zuvor, und auch Norbert hatte seine normale Gesichtsfarbe wiedergewonnen, auch wenn er noch ein wenig unruhig und zappelig wirkte - was in dieser Situation gut zu verstehen war.

"Wir können noch nicht die Polizei rufen!" unterbrach Norbert das Schweigen und beantwortete damit meinen fragenden Blick, den ich ihm zugeworfen hatte.

"Warum nicht?" Reicht es nicht, wenn man sieht, wie der mit einer Leiche im Sack durch seinen Garten rennt und sie dort vergräbt?" sprach ich das aus, was zwar alle dachten, aber bis jetzt noch keiner gewagt hatte auszusprechen.

"Ich hab' mir das mal durch den Kopf gehen lassen", begann mein Onkel zu erklären. "Wenn wir tatsächlich die Polizei rufen wollen, müssen wir uns ganz sicher sein, daß unsere Vermutung stimmt. Stellt euch vor, die Bullen gehen zum Dittmann, und der trinkt gerade mit Makkalakalane Kaffee. Wir wären den Polizisten und auch Dittmann eine Erklärung schuldig."

"Aber was soll er sonst im Garten vergraben haben?" fragte Dennis. "Vielleicht hat er seine alten Porno-Zeitschriften oder sonst irgend etwas verbuddelt. Der Alte ist doch total durchgeknallt." antwortete Norbert. Es blieb zwar noch ein flaues Gefühl in meiner Magengegend, aber dennoch stimmten Dennis und ich ihm nun zu, daß es noch zu übereilt war, die Polizei zu rufen. Aber war es das wirklich? War es nicht sogar schon viel zu spät?

"Was schlägst Du vor, was wir machen sollen?" fragte Dennis.

"So wie ich das sehe, gibt es nur einen Weg", erläuterte mein Onkel. "Wir werden heute Nacht in den Garten gehen und ein wenig graben. Wenn wir mit unserer Vermutung recht gehabt haben, werden wir natürlich sofort die Polizei rufen. Falls nicht, dann möchte ich wirklich gerne wissen, was Makkalakalane bei Dittmann macht."

Norbert hatte anscheinend starke Nerven. Stark genug, um nachts in den Garten eines mordenden Zombies zu gehen und wohlmöglich eine Leiche auszugraben.

Ich schluckte. Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken daran. Aber vielleicht hatte Dittmann tatsächlich nur seine Pornohefte vergraben. Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, schien mir die nächtliche 'Totengräberaktion' zu sein, die Norbert vorgeschlagen hatte. Also ließ ich mich auch nicht von der Tatsache stören, daß ich am nächsten Morgen in die Schule mußte, und wir einigten uns darauf, uns in der Nacht hier zu treffen. Kurz darauf verabschiedeten wir uns vorerst und gingen zum Abendessen nach Hause.

 

7

Während des Essen sagten Dennis und ich keinen Ton. Gedankenverloren stocherte ich in meinem Essen und nahm kaum einen Bissen zu mir. Schon bald zogen wir uns in Dennis Zimmer zurück, um fernzusehen und damit die Zeit totzuschlagen. Dennis schien schon ziemlich nervös zu sein, denn er hielt die Fernbedienung verkrampft in der Hand, während er sich in einem höllischen Tempo vor- und rückwärts durch dir Programme zappte. Doch plötzlich sah ich etwas, das mich interessierte.

"Halt! Was war das gerade?" sagte ich zu Dennis, der in der Zwischenzeit schon wieder drei Programme weitergeschaltet hatte.

"Was? Das hier?" fragte Dennis und schaltete um.

"Nein! Noch eins zurück!" erwiderte ich, und noch bevor ich den Satz vollendet hatte, hatte Dennis den richtigen Sender gefunden.

"...in Zusammenhang mit der Grabschänderangelegenheit." hörte ich den Nachrichtensprecher hören. Offensichtlich liefen gerade die Lokalnachrichten. Der Sprecher fuhr fort:

"In der Nacht vom 15. zum 16. Februar wurde auf dem städtischen Friedhof drei Jugendliche dabei ertappt, als sie in der Erde gruben. Der Friedhofswärter, der die Jugendliche noch bis zur Mauer verfolgte, berichtete folgendes:"

Ich mußte schmunzeln, als ich die dämliche Fresse des Friedhofswärters sah, der uns bis zur Mauer verfolgt hatte. Dieser Idiot nutzte doch tatsächlich jede Möglichkeit, um einmal ins Fernsehen zu kommen. Mit seiner tiefen brummigen Stimme und stolz geschwellter Brust begann er zu erzählen.

"Ich hatte vom Gräberfeld her Gemurmel gehört, und da bin ich dorthin gegangen. Ich hab' mit meiner Taschenlampe dann das Gebiet abgeleuchtet und die Strolche erspäht. Die Burschen gruben gerade mit einem Spaten in der Erde, als ich sie überrascht hab. Die haben mich noch frech angegrinst und sind dann losgelaufen. Ich bin natürlich direkt hinterher, aber ihr Vorsprung war einfach zu groß. Ich hab' zwar noch mächtig aufgeholt, aber zwei Meter haben noch gefehlt - dann hätt' ich die erwischt, und die hätten was erleben können. Ich hätte...."

Mitten im Satz wurde ins Nachrichtenstudio zurückgeblendet, und der Nachrichtensprecher meldete sich wieder zu Wort:

"Wenn es aber wirklich nur ein Streich von Jugendlichen war - wo sind dann die Leichen? Die Polizei sucht nun nach den drei Jugendlichen und appelliert an sie, sich doch zu melden, falls sie nichts mit der Sache zu tun haben."

Mein Schmunzeln war jetzt nicht mehr zu übersehen. Mit großen Augen sah Dennis mich an. "Was amüsiert Dich denn so?" fragte er.

"Ich weiß, wer die Jugendlichen waren. Und daß die in der Erde gegraben haben, war eine Lüge", antwortete ich.

"Woher weißt Du das? Warst Du dabei?" wollte mein Bruder wissen.

"Ich? Quatsch! Bin ich verrückt und renne nachts über den Friedhof? Das waren welche aus meiner Schule", log ich ihn an. Nicht, daß ich ihm nicht vertrauen konnte, aber er mußte halt nicht alles wissen.

Anschließend spielten Dennis und ich noch etwas Computer, bevor wir uns daran machten, uns aus dem Haus zu schleichen. Unbemerkt aus dem Haus zu schleichen, schien uns die einfachste Lösung zu sein, denn dies ersparte uns überflüssige Erklärungen und Notlügen unseren Eltern gegenüber. Und wenn sie nicht wußten, was wir taten, würden sie sich auch keine Sorgen machen.

Also entschieden wir, aus dem Fenster in Dennis Zimmer zu steigen, das sich im ersten Stock an der Hinterseite des Hauses befand. Direkt unter dem Fenster lag unser Garten mit Terrasse. Zum Glück war die Terrasse überdacht, so daß es kein Problem war, über das kleine Dach nach unten zu gelangen.

Zunächst stieg mein Bruder aus dem Fenster hinaus, dann ich. Wir lehnten das Fenster von außen fest an und mußten nun nur noch vom Dach nach unten gelangen. Doch den einzigen problematischen Teil hatten wir schon hinter uns. Wir waren aus dem Fenster gestiegen, und keiner hatte uns gehört. Jetzt, wo wir einmal draußen waren, würden uns unsere Eltern auch nicht mehr hören, wenn es etwas lauter zuging, und so sprangen wir mit einem beherzten Sprung in den Garten hinab.

Gemütlich machten Dennis und ich uns auf den Weg zu meinem Onkel. Gemütlich heißt nicht, daß wir entspannt waren - denn das waren wir sicher nicht - sondern daß wir langsam gingen und erst nach etwa 20 Minuten unser Ziel erreichten.

Norbert hatte bereits zwei Taschenlampen und einen abgenutzten Spaten bereitgelegt.

"Alles klar?" fragte er uns und machte dabei einen entspannten und lockeren Eindruck.

"Naja, ziemlich aufgeregt", sagte Dennis, und ich stimmte nickend zu.

"Wird schon alles gut gehen. Der Zombie muß ja auch mal schlafen. Der wird uns schon nicht erwischen", versuchte mein Onkel uns zu beruhigen.

Das war zwar ein netter Versuch, aber eigentlich war es nicht so sehr die Angst, daß Dittmann uns entdecken konnte, die mich beunruhigte.

"Darum geht es ja weniger", sagte ich. "Aber der Inhalt des Sacks. Mir wird ganz übel, wenn ich daran denke.

"Du mußt einfach cool bleiben, die Nerven behalten. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Robert wirklich ein Mörder ist, aber wenn Ihr nicht wollt, braucht Ihr ja nicht hinzusehen, wenn ich den Sack öffne", sagte Norbert.

"Laßt uns jetzt erst mal nachsehen, ob der Zombie schon im Bett ist!"

Wir gingen auf den Balkon, und mein Onkel bat mich nachzusehen, ob beim Dittmann noch das Licht brannte. Dafür mußte ich mich weit über das Geländer lehnen, während Norbert und Dennis mich festhielten. Ich sah, daß aus Dittmanns Wohnung ein wenig Licht bis auf Dittmanns Balkon fiel.

"Er ist noch auf", berichtete ich, nachdem sie mich wieder auf den Balkon gezogen hatten.

"Dann werden wir wohl noch etwas warten müssen", sagte Norbert. "Wir können uns ja in der Zwischenzeit noch einen Horrorfilm reinziehen."

"Einen Horrorfilm? Laß' mich mal raten: Der Kettensägenmörder!" antwortete ich spontan.

Norbert schaute mich mit seinen großen braunen Augen erstaunt an und hob dabei seine kräftigen, dunklen Augenbrauen.

"Was?" fragte er.

"Hast Du den Film etwa nicht aufgenommen? Der war doch gestern im Fernsehen", sagte ich.

"Wirklich? Hmm...warum habt Ihr mir das nicht vorher gesagt. Den kenn' ich nämlich auch noch nicht. Aber ich hab noch so ein paar Kurzschocker. Die dauern nur jeweils 'ne halbe Stunde, sind aber echt stark", erwiderte mein Onkel nach einem kurzen Zögern.

"Seid Ihr verrückt geworden?" regte sich Dennis jetzt auf, und er klang dabei merklich angespannt und nervös. "Ihr wollt doch jetzt nicht tatsächlich einen Horrorfilm gucken?! Ihr seid wohl völlig übergeschnappt."

"Wir haben doch nur gescherzt. Ich würde jetzt auch keinen Horrorfilm ansehen", sagte ich schnell, bevor Dennis sich noch mehr aufregte. Als ich danach in die Runde blickte, sah ich, daß Norbert mich entgeistert anstarrte. In seinen Blicken las ich Unverständnis über unsere Reaktion. Es war sein Ernst gewesen, jetzt die Kurzschocker zu gucken, und seine Worte klangen jetzt ein wenig beleidigt.

"Dann halt nicht", sagte er resignierend.

So saß ich also da und beobachtete, wie Dennis nervös in einer Zeitschrift blätterte, während Norbert sich ein Bier aus dem Kühlschrank holte.

Nach etwa zwanzig Minuten gingen wir noch mal auf den Balkon. Erneut mußte ich Artist spielen, um nachzusehen, ob Robert noch da war. Als ich mich wieder weit über das Geländer gebeugt hatte, konnte ich zunächst keinen Lichtschein erkennen. Ich wußte nicht, ob das daran lag, daß ich mich zuvor vielleicht weiter über das Geländer hinausgelehnt hatte oder ob das Licht tatsächlich erloschen war.

"Und? Was ist los?" fragte Dennis, der mich gemeinsam mit meinem Onkel festhielt, ungeduldig.

"Ich bin mir nicht sicher. Von hier aus kann ich jedenfalls kein Licht erkennen." antwortete ich.

"Eben hattest Du Dich auch nicht weiter über das Geländer gelehnt. Das Licht wird wohl wirklich aus sein", versicherte uns Norbert. "Also an die Arbeit, Totengräber!" fuhr er fort und machte dabei einen sehr gelassenen Eindruck. Er war wohl fest davon überzeugt, daß keine Leiche in dem Sack war.

"Ihr nehmt beide eine Taschenlampe und ich den Spaten!" befahl Norbert. "Wir werden außenrum in den Garten gehen. Einer von euch muß ständig Dittmanns Fenster im Auge behalten und Alarm geben, falls das Licht angeht. Dann werden wir uns in den Büschen verstecken. Also, wer macht den Beobachter?" Norbert blickte fragend in die Runde.

"Ich mach das!" meldete ich mich. "Dann brauche ich mir wenigstens nicht den Inhalt des Sacks anzusehen.

Wir waren gerade dabei, die Wohnung zu verlassen, als Dennis eine entscheidende Frage stellte: "Was machen wir, wenn wirklich eine Leiche in dem Sack ist?"

"Wir rufen natürlich sofort die Bullen", antwortete mein Onkel wie aus der Pistole geschossen.

"Das ist schon klar", sagte Dennis. "Aber was machen wir mit dem Sack? Lassen wir ihn einfach da liegen? Vielleicht geht Dittmann ja noch mal in den Garten und sieht nach...."

"Das ist sehr unwahrscheinlich. Wenn der noch mal nachsehen wollte, hätte der das gemacht, bevor er zu Bett gegangen ist." erwiderte Norbert.

"Aber der Zombie ist unberechenbar. Wir sollten jedes Risiko vermeiden", ergriff ich das Wort.

"Was schlagt Ihr denn vor?" Norbert klang jetzt hörbar genervt. "Wollt Ihr die Leiche etwa mit in die Wohnung nehmen? Vielleicht sollten wir sie ja auf die Wohnzimmercouch setzen und mit Ihr zusammen fernsehen, bis die Polizei eintrifft."

"Wir brauchen sie nur wieder einzubuddeln..." begann Dennis erneut zu protestieren, aber mein Onkel unterbrach ihn.

"Macht euch nicht ins Hemd, da liegt sowieso keine Leiche. Der Dittmann ist zwar irre, aber ein Mörder?"

Mich überraschte, daß Norbert sich so sicher zeigte. Hatte er uns vielleicht nur einen Streich gespielt, und Makkalakalane war gar nicht zu Dittmann gegangen? Wollte er vielleicht nur ein kleines Abenteuer für uns arrangieren? Wenn es wirklich so wäre, wäre er damit zu weit gegangen.

Wir hatten die Wohnung verlassen, und Norbert öffnete die Haustür. Ich ging als erster hinaus, als mir zwei, drei dicke Regentropfen ins Gesicht fielen. Fluchend wich ich einen Schritt zurück. "Scheiße! Es fängt an zu regnen!"

Mit einem Mal öffneten sich die Himmelstore, und der Regen rauschte in Strömen hinab.

"Das gibt eine Schlammschlacht!" meinte Dennis.

"Wartet! Ich hab' da eine Idee", sagte Norbert. "In der Abstellkammer im Keller hab' ich noch ein paar alte Gummistiefel und Regenjacken. Die können wir ja eben holen gehen.

Dennis und ich stimmten zu, und so stiegen wir gemeinsam die steile Kellertreppe hinunter. Wenige Meter weiter rechts befand sich Norberts Abstellkammer. Diese Kammer war eigentlich nicht viel mehr als ein durch gitterartig angebrachte Holzlatten abgetrenntes Stück des Kellers. Neben Norberts Abstellraum befand sich ein weiterer, die der anderen Hausbewohner lagen alle links in der Dunkelheit.

Die Tür, die ebenfalls nur aus Holzlatten bestand, war mit einem Riegel versehen, an dem ein Schloß hing. Mein Onkel stellte den Spaten an die Wand und kramte aus seiner Hosentasche ein Schlüsselbund hervor. Die Tür öffnete sich geschmeidig ohne einen Laut, was mich verwunderte. Früher hatte sie immer ein furchterregendes Quietschen von sich gegeben.

"Mußte mal geölt werden", erklärte Norbert. Wir gingen hinein. Nun konnte man deutlich erkennen, was sich schon bei einem Blick durch die Holzlatten von außen angedeutet hatte: es herrschte ein gewaltiges Durcheinander - wie immer. Es stapelten sich Holzkisten, und eine Menge Werkzeuge standen an der Wand oder lagen wild durcheinander auf den Kisten. Norbert holte drei Paar Gummistiefel und drei alte Regenjacken aus dem antiken Kleiderschrank, auf dem sich eine zentimeterdicke Staubschicht gebildet hatte.

Jetzt, wo wir mit drei Leuten in der Kammer standen, wurde mir erst bewußt, wie eng sie war und wieviel Krempel hier herumstand. Mein Onkel reichte Dennis und mir je ein paar Gummistiefel herüber.

"Erst mal raus aus dem Stall! Die Sachen könnt ihr draußen anprobieren!" sagte er, und wir gingen hinaus. Norbert, der die drei Regenjacken unter seinem linken Arm hielt, schob den Riegel vor und brachte das Schloß zum einrasten.

Wir probierten die Gummistiefel an, und sie waren in Ordnung. Meine waren zwar ein wenig groß, aber ich konnte in Ihnen gehen, ohne zu stürzen - glaubte ich zumindest.

Plötzlich wurde es stockfinster. Ich erschrak, doch dann erinnerte ich mich an das zeitgeschaltete Licht, das mich schon lange nicht mehr überrascht hatte, da ich den Keller in letzter Zeit immer schnell genug verlassen hatte.

Ich konnte hören, wie Norbert sich bis zum Lichtschalter vortastete, bevor die gelblichen Lampen einen Augenblick später wieder aufleuchteten und den Keller in ein schummriges Licht tauchten. Wir gingen nach oben, zogen die Regenjacken über und verließen das Haus in den Regen.

Die Straße wurde von den dort stehenden Laternen relativ gut erleuchtet, was jedoch nicht bedeutete, daß wir besonders gut sehen konnten. Das Licht reflektierte am nassen Boden, und der Regen peitschte uns ins Gesicht. Es tobte ein heftiger Sturm, so daß es häufiger vorkam, daß eine Windböe einem von uns die Kapuze vom Kopf riß. Wir schlichen uns hinter das Haus in den Garten, wo Dennis und ich die Taschenlampen einschalten mußten, um noch etwas sehen zu können. Während wir uns einen Weg durch Dittmanns Gestrüpp bahnten, behielt ich ständig seinen Balkon im Auge. Das Licht war erloschen.

Die Erde war mittlerweile so aufgeweicht, daß wir bei jedem Schritt einige Zentimeter tief einsanken. Meine innere Anspannung steigerte sich. Was machte ich eigentlich hier? Warum hatten wir nicht sofort die Polizei gerufen? Wäre es so schlimm gewesen, wenn die Polizei gekommen wäre, und keine Leiche im Sack gefunden hätte? Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Wir gelangten hinter den großen Busch, wo Dittmann die Leiche eingebuddelt hatte. Der Regen fegte uns jetzt noch stärker ins Gesicht. Das Wasser, das sich auf den Zweigen und Blättern des großen Busches gesammelt hatte, wurde durch den starken Wind wieder aufgepeitscht. Norbert hob den Spaten und schwang ihn in die aufgeweichte Erde.

"War das nicht weiter links?" fragte ich Norbert.

"Sollst Du nicht Dittmanns Fenster im Auge behalten?" konterte Norbert, dessen Kapuze wieder vom Wind weggerissen wurde. Seine nassen, langen, schwarzen Haare klebten ihm im Gesicht - normalerweise hatte er sie hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Sein linkes Auge, daß nicht von seinen Haaren bedeckt wurde, blickte mich streng an, so daß ich ein wenig erschrak.

"Schon gut", flüsterte ich und richtete meinen Blick wieder auf den Balkon. Dennis sagte nichts. Wahrscheinlich glaubte auch er, es wäre die richtige Stelle.

Während ich mit einem Auge das Fenster beobachtete, schaute ich mit dem anderen meinem Onkel zu, der sich gar keine Mühe mehr gab, die Kapuze wieder überzuziehen. Sein Regencape klebte an seinem Körper, was ihn jedoch nicht zu stören schien. Er konzentrierte sich voll und ganz auf das Graben und kam sicherlich schneller voran als Dittmann. Mit kräftigen Hieben schaufelte er die Erde nach hinten. Obwohl sie naß war, wurde die Erde vom Wind noch weiter nach hinten geweht.

Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, den Balkon zu beobachten. Ich starrte nur noch vor Nervosität erstarrt in das schon etwa 30 Zentimeter tiefe Loch, in dem sich bereits eine kleine Wasserpfütze gebildet hatte. Nach kurzer Zeit hörte Norbert plötzlich auf zu graben. War er auf den Sack gestoßen?

Er steckte den Spaten schwungvoll neben dem Loch in die Erde und beugte sich über das Loch.

"Leuchte rein, Dennis!" befahl er.

Mein Bruder strahlte mit der Taschenlampe genau in das Loch. Norbert reichte mit beiden Armen in das Loch und begann zu ziehen. Es bestand kein Zweifel mehr. Er hatte den Sack gepackt. In wenigen Sekunden würden wir erfahren, ob unsere Annahme richtig war. Ich bat Gott, daß es nicht so war. Hoffentlich hatten wir uns geirrt.

Ich hielt den Atem an, während Norbert mit beiden Händen am braunen Stoffsack zerrte, der mit einer dunklen Schnur zugebunden war. Doch der Sack saß fest in der Erde; er schien schwer zu sein und war noch nicht vollständig freigelegt.

"So geht das nicht", murmelte Dennis mit leiser Stimme. Man konnte seine Anspannung deutlich erkennen. Er hatte seine Worte kaum beendet, da hob mein Onkel den Spaten mit beiden Händen.

"Zur Seite!" rief er, und diese Worte erfüllten die Stille so laut, daß ich fürchtete, Dittmann könnte uns hören. Stumm und von Panik erfüllt wichen Dennis und ich einen Schritt zurück und starrten Norbert mit weit aufgerissenen Augen an. Ich wollte etwas sagen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.

Norbert stand dort im prasselnden Regen und hielt den Spaten fest umklammert. Die nassen langen schwarzen Haare klebten immer noch in seinem nun regungslosen Gesicht, als er mit dem Spaten ausholte und dann die scharfe Kante in den braunen Stoffsack rammte. Wortlos hob Norbert die Hand, um Dennis anzudeuten, er solle mit der Taschenlampe nach unten leuchten und Licht ins Dunkel bringen.

Dennis reagierte nicht.

"Dennis!" Die Stimme meines Onkels durchbrach erneut die Stille, so daß ich einen kurzen Blick hinüber zu Dittmanns Fenster warf, doch dort blieb alles ruhig. Langsam ließ Dennis den Lichtkegel der Taschenlampe nach unten schweifen. Der Spaten hatte den Sack in der Erde aufgerissen und ich sah etwas dunkles. Vorsichtig wagte ich mich näher, und die Umrisse verdeutlichten sich. Eine menschliche Hand, blutbefleckt und unterhalb des Ballens abgetrennt - die Hand eines Schwarzen. Regungslos stand ich da, nicht fähig mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Erst der dumpfe Schrei meines Bruders riß mich aus meiner Lethargie. Wankend wich ich zwei Schritte zurück. Um keinen Preis in der Welt wollte ich sehen, was sich noch im Sack befand. Norbert stand immer noch dicht neben dem freigelegten Sack und hatte den Kopf nach unten gesenkt, so daß seine Haare jetzt einen klebrigen Vorhang vor seinem Gesicht bildeten. Fast behäbig hob er seinen Kopf und wandte sich uns zu, während er sich die Haare nach hinten strich. Er atmete tief durch; die Arbeit hatte ihn erschöpft.

"Worauf wartet Ihr? Ruft die Polizei!" sagte er ruhig, und ich bewunderte ihn für seine Gelassenheit, mit der er auf diese Situation reagierte.

Wir standen jedoch immer noch wie angewurzelt da. Erst als Norbert mir die Taschenlampe aus der Hand nahm und sich einen Weg durch den Dschungel suchte, rührte ich mich wieder. Doch bewegten sich meine - und wohl auch Dennis - Beine automatisch, so daß wir Norbert auf Schritt und Tritt folgten. Erst jetzt wurde mir bewußt, was das, was ich gesehen hatte, bedeutete. Makkalakalane war tot. Mein Onkel hatte viele Jahre lang mit einem Mörder zusammen in einem Haus gelebt. Wenn Dennis und ich Dittmann früher über den Weg gelaufen waren, hatten wir ihn sogar noch gegrüßt - zwangsweise. Er hätte mir im Keller auflauern können, wenn ich mir eine Cola holte. Ich hätte ein Opfer dieses Verrückten sein können.

Wir waren mittlerweile an der Haustür angelangt. Hatte dieses Arschloch uns vielleicht doch beobachtet? Wartete er vielleicht hinter der Tür auf uns?

Mir war es egal. Ein Gefühl völliger Gleichgültigkeit setzte plötzlich bei mir ein. Sollte er doch mit seiner Axt hinter der Tür stehen. Sollte er uns doch auch ermorden. In diesem Moment dachte ich, das wäre eine Erlösung für mich.

Norbert öffnete die Tür, und wir gingen hinein - kein Dittmann, keine Axt. Wir gingen die wenigen Stufen hinauf, und mein Onkel schloß die Wohnungstür auf. Wir wollten hineingehen, die Tür hinter uns schließen und die Polizei rufen, doch Norbert streckte seinen Arm aus und hielt uns davon ab, seine Wohnung zu betreten.

"Zieht bitte vorher die Gummistiefel aus! Das gäbe sonst eine schöne Sauerei", sagte er und deutete auf die Schlammspur, die wir auf der Treppe hinterlassen hatten.

Mich packte die Wut. Wen interessierte jetzt sein blöder Teppichboden? Wie konnte er jetzt nur daran denken? Wahrscheinlich war es seine Art, mit solchen Situationen fertig zu werden - sich einfach so zu verhalten wie immer. Eigentlich bewunderte ich dafür, wie ihm das gelang. Wir zogen unsere Gummistiefel aus, stellten sie auf die Fußmatte und gingen hinein. Nachdem Norbert die Tür geschlossen hatte fühlte ich mich irgendwie erleichtert, und ich spürte ein Gefühl der Sicherheit. Mein Onkel ging zum Telefon.

 

8

Minutenlang starrte ich regungslos durch das Fenster in den Regen hinaus. Jeden Augenblick mußte die Polizei eintreffen, doch die Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Als der Regen nach einiger Zeit etwas nachließ, blickte ich auf die Uhr. Zehn Minuten waren vergangen, seitdem mein Onkel den Telefonhörer aufgelegt hatte. Ich hätte schwören können, daß die Uhr stehengeblieben war, doch man konnte das Ticken deutlich vernehmen. Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße, als plötzlich zwei Paar Scheinwerfer die Dunkelheit erhellten. Ein weinroter Opel Vectra hielt genau vor dem Fenster gefolgt von einem Streifenwagen.

Die Türen der Wagen öffneten sich, und es stiegen zwei uniformierte Beamte aus dem Streifenwagen sowie zwei Polizisten in Zivil aus dem Vectra.

Einer der Zivilbeamten kam auf uns zu. Als ich ihn sah, dachte ich zunächst, ich wäre in einem billigen Kriminalfilm gelandet, denn er trug einen Trenchcoat und einen Hut, unter dem er jedoch seine Segelohren und Hamsterbacken nicht verbergen konnte.

"Lassonczyk, Kriminalpolizei", sprach er und zeigte uns seine Marke. "Sind Sie Herr Karsch?"

"Ja, das bin ich", bestätigte Norbert. "Und das sind meine Neffen."

"Sie haben also eine Leiche gefunden?"

"Ja, hinten im Garten haben wir sie ausgebuddelt."

"Und Sie glauben zu wissen, wer der Täter ist?" fragte der Kommissar und hob dabei die Augenbrauen.

"Ja, wir haben schließlich gesehen, wie er den Sack dort vergraben hat", erwiderte Norbert.

Kommissar Lassonczyk deutete den beiden Streifenpolizisten an, vor dem Haus zu warten und niemanden hinauszulassen.

"Dann wollen wir es uns mal ansehen", sagte er, und seiner Stimme konnte man erkennen, daß es für ihn Routine war. "Bitte sehr!" deutete er Norbert an vorzugehen.

Dennis und ich folgten meinem Onkel und dem beiden Beamten in den Garten. Kurz vor Dittmanns Gartenabschnitt blieb Norbert stehen.

"Da drüben ist es", sagte er, während er mit der Hand in Richtung des großen Buschs zeigte.

"Bleiben Sie bitte hier stehen!" forderte uns der Kommissar auf. Hatte er etwa gedacht, wir würden es uns freiwillig noch mal ansehen? Er und sein Mitarbeiter bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp. Nun zeigte sich erneut, daß es klug von uns gewesen war, Gummistiefel anzuziehen, denn auch die beiden Beamten sanken bei jedem Schritt ein paar Zentimeter in der matschigen Erde ein. Beim ersten Einsinken gab der Kommissar ein lautes "Scheiße" von sich und sah danach auf seine schlammbedeckten Schuhe und die versaute Hose hinab.

Bald waren beide hinter dem großen Busch verschwunden. Wir hörten ein kurzes Gemurmel und danach längere Zeit nichts. Drei Minuten später kehrten die beiden Beamten zu uns zurück.

"Gehe ich recht in der Annahme, daß das Ihr Spaten ist, der dort in der Erde steckt?" wandte sich der Kommissar an meinen Onkel und erhielt als Antwort ein zustimmendes Nicken.

Lassonczyk rieb mit der Hand an seinem Kinn. "Unser weiteres Vorgehen sieht folgendermaßen aus: wir werden jetzt Verstärkung rufen - die Leute von der Spurensicherung und so weiter. Dann werden wir uns Ihren Nachbarn, diesen.."

"Dittmann", fügte Norbert ein.

".. einmal vornehmen. Am besten warten Sie solange in Ihrer Wohnung. Und Ihr (er wandte sich Dennis und mir zu) müßt auch noch hierbleiben, bis jemand eure Personalien aufgenommen hat und euch sagt, daß Ihr gehen könnt."

"Haben Sie denn Atemschutzmasken dabei?" fragte Norbert den Beamten.

"Habe ich richtig gehört?" wunderte sich der Kommissar. "Atemschutzmasken? Wofür das? Soll das ein Scherz sein?"

"Ich glaube nicht, daß Sie es ohne länger als zehn Sekunden in seiner Wohnung aushalten. Es ist aber schon schlimm genug, wenn Sie nur die Wohnungstür öffnen."

Auch wenn Lassonczyk dies für einen Witz hielt, Norbert hatte es vollkommen ernst gemeint. Und ich wußte, daß er recht hatte. Die Wohnung des Mörders mußte von einem derartig verfaulten Gestank erfüllt sein, daß die Gase die Atemwege reizen und einen Ekel hervorrufen würden, auf den der Magen nur auf eine Art antworten konnte.

Wir verließen den Garten wieder und begaben uns vor das Haus, wo noch immer die beiden Streifenpolizisten standen.

"Gehen Sie in den Garten und sichern Sie die Stelle ab!" befahl der Kommissar dem größeren der beiden, der einen Vollbart trug. Während dieser aus dem Kofferraum des Streifenwagens einen Koffer hervorholte und sich damit in den Garten begab, setzte sich Lassonczyk in den Vectra und forderte per Funk Verstärkung an.

"Dann werden wir uns jetzt um Herrn Dittmann kümmern", sagte er, nachdem er wieder ausgestiegen war. "Sie können sich entweder in den Wagen setzen oder in Ihre Wohnung gehen!" bot er uns zwei Möglichkeiten an, von denen ich die zweite für die bessere hielt. Norbert und Dennis schienen meiner Meinung zu sein, und wir wollten gerade die Wohnung meines Onkels betreten, als Norbert noch mal vom Kommissar zurückgerufen wurde.

"Herr Karsch! Warten Sie noch einen Augenblick!"

Norbert blieb stehen und wandte sich Lassonczyk zu. "Ja?"

"Ich wollte nur hören, wie Sie Ihren Nachbarn einschätzen", sagte die Columbo-Imitation.

"Tja, die Frage ist nicht so leicht zu beantworten", begann Norbert. "Wissen Sie, er lebt dort ganz alleine und erhält auch nie Besuch. Er hat keine Freunde, und auch die anderen Hausbewohner halten sich fern von ihm - sie wollen nichts mit dem zu tun haben und ich auch nicht. Er hat sich das alles selber zuzuschreiben, so wie der dort lebt."

"Wie lebt er denn?"

"Ziemlich verkommen und dreckig. Schauen Sie sich doch nur seine Wohnungstür an, der Dreck darauf sagt einiges. Oder glauben Sie, in seiner Wohnung sehe es besser aus? Und der Gestank, der von ihm und seiner Wohnung ausgeht ist unerträglich. Glauben Sie mir, das mit dem Atemschutzmasken eben war kein Scherz.

Seine Frau hat ihn vor zehn Jahren verlassen, und man sagt, das habe er nicht verkraftet. Vielleicht ist es die Einsamkeit oder sonst irgend etwas - jedenfalls ist er völlig durchgeknallt."

"Danke für die Information", bedankte sich Lassonczyk.

Wir gingen nun zusammen mit Norbert in seine Wohnung. Ich ließ mich völlig erschöpft auf einem Stuhl nieder, und auch Dennis setzte sich. Norbert brachte uns jeweils eine Cola und sich eine Flasche Schnaps und ein Bier, bevor er sich in den Wohnzimmersessel fallen ließ. Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Schnapsflasche und öffnete dann sein Bier.

Wo waren wir da nur hineingeraten? Und ich war schuld. Hätte ich nicht die Idee für den Streich gehabt, würde Makkalakalane noch leben. Ich war schuld. Dieser Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf und fraß mich von innen auf. Ich hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen. Aber ich hätte doch nicht wissen könne, daß dies alles so enden würde. Instinktiv griff meine Hand zu der Flasche, die Norbert gerade abgestellt hatte, und auch ich nahm einen kräftigen Schluck, bevor ich wieder ins Grübeln verfiel.

Plötzlich riß mich ein lautes KRACK aus meinen Gedanken. Sofort sprang Norbert auf und stürmte zum Guckloch. "Siehst Du was?" fragte Dennis, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte.

"Die haben beim Zombie die Tür aufgebrochen und gehen rein. Moment - die kommen schon wieder raus. Der ist ja ganz grün. Oh Gott! Er übergibt sich. Jetzt wird mir auch schlecht."

Norbert wich einen Schritt vom Guckloch nach hinten und atmete tief durch. Wir hörten weiterhin Stimmen und Schritte aus dem Treppenhaus. Ich vermutete, daß sie jetzt doch in die Wohnung hineingingen.

Es klingelte. Mein Onkel, der noch an der Tür stand, öffnete und bat den Beamten schnell herein. Ich konnte mir gut vorstellen, warum er sich so beeilte, die Tür wieder zu schließen. Die Wohnungstür des Zombies mußte noch offen stehen und der Gestank inzwischen bis zu meinem Onkel vorgedrungen sein.

Das bedeutete, daß sie nun tatsächlich in Zombies Wohnung hineingingen und ihn dann wohl bald verhaftet hätten. Der Beamte, den Norbert hereingebeten hatte, nahm unsere Personalien auf. Er war ein freundlicher junger Mann, der wohl gerade erst bei der Polizei angefangen hatte und dem sie deshalb noch nicht viel mehr anvertrauten als die Aufnahme von Personalien.

"Haben sie ihn schon verhaftet?" fragte Norbert neugierig.

"Soviel ich weiß noch nicht. Aber wenn er in seiner Wohnung ist, wird dies wohl gerade geschehen. Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu machen", antwortete der Beamte.

"Ihr braucht jetzt nicht mehr hier zu warten", wandte er sich uns zu. "Wenn Ihr wollt, fahre ich euch eben nach Hause."

"Ja, das wäre nett", nahm Dennis das Angebot dankend an.

Wir verabschiedeten uns von unserem Onkel und verließen seine Wohnung. Beim Hinausgehen warfen Dennis und ich einen neugierigen Blick in Dittmanns Wohnung, in der noch immer Polizisten beschäftigt waren. Wir konnten Teile eines Gesprächs aufschnappen, die mich zusammenzucken ließen.

"Wie hat der das nur geschafft, die Leichen so lange hier zu verbergen - bei dem Gestank?" "Wo er sich jetzt wohl aufhält?"

Dennis und ich schauten uns gegenseitig mit großen Augen an. Diese Information beunruhigte uns. Dittmann hatte schon zuvor gemordet und - was noch viel beunruhigender war - er war noch auf freiem Fuß.

Hatte er vielleicht gesehen, wie wir die Leiche ausgebuddelt hatten und sich daraufhin aus dem Staub gemacht? Dann wüßte er auch, daß wir es waren, die die Polizei gerufen hatten. Ich konnte mir die Rachegefühle in ihm vorstellen. Würde er zurückkommen, um sich auf grausame Weise zu rächen? Panische Angst überkam mich. Dieser Irre war unberechenbar - und brandgefährlich.

Wir stiegen in den Streifenwagen, und der Beamte fuhr uns nach Hause, wo wir alles unseren Eltern berichten mußten. Ich wußte jedoch nicht, ob sie alles hundertprozentig aufgenommen hatten, weil sie ziemlich verschlafen und nicht voll aufnahmefähig wirkten. Meiner Mutter verschlug unsere Geschichte anscheinend die Sprache, aber mein Vater meinte, daß wir erst mal darüber schlafen sollten und am nächsten Tag darüber sprechen würden. Ich zog mich nur noch schnell um und ließ mich dann todmüde ins Bett fallen, war jedoch überzeugt davon, keinen Schlaf zu finden.

 

 

9

Was war das? Hatte ich mich verhört? Oder spielte mir meine Phantasie einen üblen Streich?

Ich sperrte meine Ohren noch weiter auf und hörte etwas, was ich lieber nicht hören wollte. Das Geräusch wurde vom Donner der Gewitters, das draußen tobte, begleitet.

POCK!

Zuerst hörte ich es nur leise, doch das dumpfe Geräusch wurde zunehmend lauter. Es war jedoch nicht genau, welches ich aus Norberts Treppenhaus her kannte. Es klang irgendwie hohler, und das war es, was mir Sorgen bereitete. Es klang genauso, wie es sich anhört, wenn Holz auf Holz schlägt. Das Problem war, daß unsere Treppe im Gegensatz zur steinernen Treppe in Norberts Haus aus Holz bestand.

Ich wußte, was das bedeutete: nicht Gutes. Nein, etwas ganz schlechtes, das mir den Schweiß auf der Stirn gefrieren ließ. Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Ich wollte aufstehen und wegrennen, doch ich war wie gelähmt - wie am Bett gefesselt.

Das Gewitter war näher gekommen; es stand jetzt genau über unserem Haus, und wenn es donnerte, war es so laut, daß ich das POCK für kurze Zeit nicht vernehmen konnte.

Nachdem es von der Lautstärke her seinen Höhepunkt erreicht hatte, verstummte das POCK plötzlich. Daß dies nichts Gutes bedeutete, wußte ich genau. Der Zombie war oben angekommen und ging jetzt über den Teppichboden. Ich hielt den Atem an. Er würde jeden Moment meine Tür öffnen und hineintreten.

Doch was würde er tun? Würde er tatsächlich einen Jungen abschlachten?

Ich zweifelte nicht daran. Doch wenn er es tat, würde er mich dann anschließend verspeisen? Oder hatte er den Spaten gleich mitgebracht, um meine sterblichen Überreste im Garten zu verscharren?

Ich war immer noch wie gelähmt und kämpfte verzweifelt gegen die unsichtbaren Fesseln an, die mich ans Bett ketteten. Es war, als ob eine zentnerschwere Last auf meinen Körper drückte, so daß ich nicht in der Lage war, auch nur einen Finger zu rühren. Ich versuchte einen Schrei auszustoßen, doch was aus meinem Mund herauskam, war eher ein Winseln.

Mittlerweile waren bestimmt zwei Minuten vergangen, und plötzlich hörte ich einen lauten Schrei - den Schrei meines Bruders, in dessen Stimme ich Verzweiflung und Todesangst erkennen konnte.

Der Zombie hatte also zuerst meinem Bruder einen Besuch abgestattet, und kurz darauf sollte ich erfahren, was er mit ihm gemacht hatte, denn dann war ich an der Reihe.

Ich versuchte erneut, aufzustehen, doch die unsichtbaren Fesseln schienen nun noch fester zugeschnürt. Langsam knarrend öffnete sich die Tür. Es war vollkommen dunkel, und daß sie sich öffnete, konnte ich nur ihrem Knarren entnehmen. Mein eigener Herzschlag war jetzt so laut, daß ich nicht einschätzen, ob das schwere Atmen, das ich hörte, von der Tür her kam oder ob der Mörderzombie bereits neben meinem Bett stand. Doch bald sollte ich es erfahren.

Ein Blitz zuckte vom Himmel und erhellte für einen Augenblick mein Zimmer. Ich sah etwas, das ich mein ganzes Leben lang - zu diesem Zeitpunkt wußte ich nicht, wie lange das noch sein würde - nicht vergessen sollte.

Der Zombie stand in der Tür. Das Licht des Blitzes gewährte mir einen kurzen Blick auf ihn. Was hätte ich dafür gegeben, hätte ich ihn nicht sehen müssen. Doch der kurze Augenblick, in dem ich ihn sehen konnte, kam mir unendlich lang vor. Ich sah ihn von unten nach oben an. Mein Blick schweifte über sein Holzbein, seinen gelben Gummistiefel, auf dem sich mehrere rote Flecken unterschiedlicher Größe befanden. Dann über seine zerschlissene Jeans. Sein rechter Arm hing schlaff hinunter, und in der Hand hielt er etwas, das mich erschaudern ließ - den blutverschmierten Kopf meines Bruders Dennis.

Wut und Entsetzen erfüllten mich gleichermaßen. Ich starrte verachtungsvoll in Dittmanns Augen, die teilweise von seinen fettigen Haaren verdeckt waren, die ihm im Gesicht hingen. Dennoch erkannte ich ein gespenstisches Funkeln in seinen Augen und ein unheilvolles Lächeln in seinem Gesicht, aus dem die Gier nach Blut sprach.

Nun begann er zu sprechen. Die Stimme war klar und dunkel, so wie ich sie nie zuvor gehört hatte.

"Du kleiner Dummkopf! Glaubtest Du wirklich, Du könntest mich verarschen?! Jetzt mußt Du für Deine Dummheit büßen, genau wie Dein Bruder!"

Es blitzte erneut, und nun konnte ich erkennen, daß er eine Axt, von der Blut hinabtropfte, lässig über seine Schulter gelegt hatte. Doch dort ruhte sie nicht lange. Mit einer schwungvollen Bewegung warf er sie über seinen Kopf nach hinten, um auszuholen. Ich sah die scharfe Kante der Axt auf meinen Schädel zurasen. "Das ist das Ende!" schoß es mir durch den Kopf, und mit der Kraft der Verzweiflung stieß ich einen Schrei aus.

Ich war wach und in Schweiß gebadet.

 

 

10

Ich konnte nicht verstehen, was geschehen war. Also hatte ich meinen Stützpunkt verlassen, um die Gegend auszukundschaften. Ich ging herum, beobachtete Zivilisten - falls es keine getarnten Feinde waren - und konnte nichts auffälliges feststellen. Die Lage war ruhig - vielleicht etwas zu ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm?

Ich wußte wirklich nicht, was der Feind vorhatte; ich konnte es einfach nicht nachvollziehen. Meine Erkundigungstour schien völlig sinnlos gewesen zu sein. Mein Bein schmerzte und ich ging herum, ohne etwas zu entdecken. Zunächst dachte ich, es wäre vielleicht besser gewesen, im Stützpunkt abzuwarten und sich dort weiter vorzubereiten. Dort hätte ich zusammen mit meinen Kameraden trinken oder Karten spielen können.

Aber als ich um die Ecke bog, wußte ich, daß mein Entschluß richtig gewesen war. Der Feind war in großen Scharen angerückt und hatte den Stützpunkt mit hundertprozentiger Sicherheit eingenommen. Wenn ich Glück hatte, waren meine Kameraden noch am Leben; zwar als Gefangene, aber am Leben. Was war jedoch, wenn der Feind sie hingerichtet hatte? Ich würde alleine dastehen. Alleine gegen den Feind. Eine ausweglose Situation. Ich konnte also nur beten, daß sie noch lebten. Doch was sollte ich jetzt tun? Kein Stützpunkt mehr, keine Kameraden. Sollte ich mich ergeben?

"Niemals!" schrie mein Geist. Ich war bereit, zu kämpfen und in der Schlacht mein Leben zu lassen. Jedoch jetzt noch nicht. Jetzt wäre es Selbstmord. Ich mußte eine bessere Gelegenheit abwarten. Zunächst mußte ich mich gedulden und meine Kräfte sammeln. Ich mußte versuchen, neue Verbündete zu gewinnen und - noch wichtiger - einen neuen Stützpunkt zu errichten. Aber wie um alles in der Welt sollte ich das anstellen? Ich war ganz alleine, auf mich allein gestellt - der letzte Mohikaner. Nun wußte ich, wie Norbert Karsch sich fühlen mußte. Eine Situation zum verrückt werden. Einen Moment lang zog ich es in Erwägung, mich zurückzuziehen und ein Leben als Zivilist zu führen. Doch dann wußte ich, daß ich diese Situation nicht ertragen könnte wie Karsch. Ich mußte mich dem Feind stellen.

Ich warf einen letzten Blick auf meinen ehemaligen Stützpunkt und ging. Wohin wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich ging einfach in der Hoffnung, Verbündete zu finden, die mit mir gegen den Feind antreten würden - den Feind, den ich offensichtlich unterschätzt hatte. Es war mein Fehler gewesen, und meine Kameraden mußten dafür bezahlen. Warum hatten sie nicht mich erwischt? Mich, der ich den Fehler gemacht hatte. Doch ich hatte Glück gehabt. Wo war da die Gerechtigkeit?

Jetzt war ich es meinen Kameraden schuldig zu kämpfen.

 

 

11

Dennis und ich hatten unseren Eltern alles so gut es ging erklärt. Sie waren ziemlich geschockt, und ich wußte nicht, wie sie es verarbeiten würden. Es war schließlich auch für sie eine schlimme Situation.

Wir gingen an diesem Morgen nicht zur Schule. Zuerst mußten wir herausbekommen, wie die Sache weiter verlaufen war und ob sie Dittmann vielleicht doch noch erwischt hatten. Wir konnten unsere Eltern soweit beruhigen, daß sie zur Arbeit gingen, indem wir ihnen versprachen, das Haus nicht zu verlassen.

Um zehn Uhr riefen wir Norbert an, und nach dem dritten Mal nahm er ab.

"Karsch", meldete er sich.

"Ich bin's, Tim. Weißt Du, was noch passiert ist?" fragte ich.

"Noch einiges", begann er. "Zunächst wurde meine Aussage zu Protokoll genommen. Euch werden die sicherlich auch noch befragen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie Dittmanns Wohnung schon komplett durchsucht und daraufhin desinfiziert.

Du wirst es nicht glauben, die haben noch fünf weitere Leichen in seiner Wohnung gefunden, daher kam der Gestank."

Ich wollte Norbert nicht unterbrechen, daher erzählte ich nicht, daß ich das schon mitbekommen hatte.

"Und das schlimmste ist, daß der Zombie nicht in der Wohnung war. Der Kommissar meinte, daß ich sofort informiert werde, wenn sie ihn haben. Aber bis jetzt habe ich noch nichts gehört. Also geht am besten nicht nach draußen, da läuft ein Irrer rum, der vielleicht was mitbekommen und es nun auf uns abgesehen hat."

"Mach Dir keine Sorgen, wir bleiben im Haus", beruhigte ich Norbert.

"Dann", fuhr er fort "hat die Spurensicherung alles durchkämmt: den Garten und die Wohnung. Ob sie noch was gefunden haben, weiß ich nicht. Jedenfalls werden sie jetzt versuchen, die Leichen zu identifizieren, und die Gerichtsmediziner werden sie sich mal unter die Lupe nehmen. Wie gut, daß ich keiner bin.

Also über die Toten kann die Polizei erst nach der Autopsie etwas sagen. Mehr war eigentlich nicht. Die haben nur noch zwei Beamte zurückgelassen, die das Haus im Auge behalten sollen und sind dann abgedüst. Ich hab' mir erst mal drei Tage frei genommen. Ihr geht ja offensichtlich auch nicht zur Schule."

"Richtig. Wir wissen sowieso schon genug, da können wir uns das leisten", versuchte ich die angespannte Stimmung ein wenig zu lockern.

"Dann ist ja jetzt alles klar, oder?" fragte er.

"Ja, alles soweit in Ordnung. Wir müssen uns halt gedulden", log ich. In Wahrheit war überhaupt nicht alles in Ordnung. Noch immer plagte mich der Gedanke, daß Makkalakalane noch leben würde, wenn ich nicht diese dumme Idee gehabt hätte. Doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und so verabschiedeten wir uns. Dann teilte ich Dennis, der zwar neben mir gestanden hatte, aber nur die Hälfte mitbekommen hatte, den Rest mit.

Um fünfzehn Uhr klingelte bei uns das Telefon. Es war ein Kripobeamter, der sich für sieben Uhr bei uns anmelden wollte, um unsere Aussagen zu protokollieren. Als er schließlich da war, erzählten wir ihm die Geschichte von dem Scherz mit Makkalakalane, von unseren Beobachtungen und unserer nächtlichen Ausgrabung. Er schrieb alles fleißig mit, und als wir fertig waren, meinte er, daß er fast dasselbe Protokoll schon einmal hätte und daß damit ja dann alles klar wäre.

Anschließend fragten wir ihn noch, ob er schon wüßte, was bei der Autopsie herausgekommen war und ob man die anderen Leichen schon identifiziert hatte. Er meinte jedoch, daß er darüber nichts wüßte und selbst wenn er es wüßte, keine Auskunft geben dürfte.

"Wartet weiter ab und verfolgt die Nachrichten!" meinte er uns einen schlauen Tip geben zu können.

Am Abend sahen wir wie meistens die Lokalnachrichten, was jedoch nicht auf den schlauen Rat des Polizisten zurückzuführen war. Nach einigen kürzeren Meldungen aus der Politik, die mich weniger interessierten, folgte dann tatsächlich eine Meldung über die entdeckten Leichen, die mich sehr überraschte.

"In der vergangenen Nacht wurde im Garten eines Mehrfamilienhauses die angeblich mit einer Kettensäge zerstückelte Leiche eines Schwarzen entdeckt. Der Leichnam konnte mittlerweile identifiziert werden. Es handelt sich um den afrikanischen Staatsbürger Bachirou Makkalakalane.

Zeugen wollen beobachtet haben, wie der Hausbewohner Robert Dittmann, von dem bis jetzt jegliche Spur fehlt, die Leiche in einem Sack in seinem Garten vergraben hat. Nach diesem Hinweis drang die Polizei in die Wohnung des mutmaßlichen Täters ein, wo sie eine erstaunliche Entdeckung machte. Man fand fünf weitere Leichen, bei denen es sich um die vom Friedhof verschwundenen Thomas Ruster, Herbert Müller, Joseph Strunz, Hans Peters und Joachim Schroth handelt. Damit scheint bewiesen, daß Robert Dittmann der Grabschänder ist, der innerhalb der letzten zwölf Monate die genannten Leichen auf dem Friedhof ausgegraben und anschließend in seine Wohnung geschleppt hat. Die Polizei geht davon aus, daß Robert Dittmann auch für den Mord an Bachirou Makkalakalane verantwortlich ist.

Bitte melden Sie sich umgehend bei der Polizei, wenn Sie diesen Mann sehen!"

Ein Phantombild wurde eingeblendet, auf dem Dittmann wirklich gut getroffen war. Sie hatten es wohl mit Norberts Hilfe angefertigt.

"Ein weiteres Erkennungsmal des Verdächtigen ist sein Holzbein, daß er rechts trägt. Bitte seien Sie vorsichtig. Der Gesuchte gilt als unberechenbar und gemeingefährlich."

Mein Bruder wollte gerade wieder umschalten, als dem Nachrichtensprecher ein Zettel gereicht wurde. Kurz senkte der Sprecher seinen Blick auf die Notiz, bevor er wieder in die Kamera sah und zu sprechen begann:

"Gerade haben wir eine neue Nachricht zum Fall Robert Dittmann erhalten. Man hat in seinem Keller die Tatwaffe gefunden - eine T230 Kettensäge. Für die Polizei besteht jetzt kein Zweifel mehr, daß es sich bei Robert Dittmann um den Täter handelt."

Das mußten wir erst einmal verdauen. Dittmann war also nicht nur der Mörder, sondern auch der Grabschänder. Das bedeutete aber auch, daß er die Männer, die in seiner Wohnung gefunden worden waren, nicht ermordet hatte. Gab es keine weiteren Opfer oder hatte man sie nur noch nicht gefunden?

Diese Nachricht beschäftigte mich den ganzen Abend und die ganze Nacht. Es gab etwas, das ich nicht verstand. Wie kam Dittmann an eine...?

"Ach, Quatsch!" dachte ich mir. Das war heute wohl alles kein Problem, und bei der Einschätzung des Zombies hatten wir uns sowieso schon mehrmals getäuscht. Also konnte es durchaus auch ein Irrtum sein, daß er noch im Zweiten Weltkrieg lebte.

 

12

Verwirrt und verzweifelt marschierte ich durch die Stadt. Ich hatte noch keinen neuen Stützpunkt errichten können, und auch neue Kameraden hatte ich bislang vergeblich gesucht. In meinem Kopf schwebte jedoch ein Plan, der mir ein wenig Hoffnung machte. Ich würde am nächsten Tag bewaffnet zum alten Lager zurückkehren und meine Kameraden befreien - falls sie dort noch festgehalten wurden.

Was sollte ich sonst tun gegen einen übermächtigen Feind? Außerdem war ich es meinen Kameraden schuldig - sie hätten das gleiche für mich getan.

Die Tat war zwar mit einem hohen Risiko verbunden, aber ich hatte keine Wahl.

Ich ging gerade durch die Elektroabteilung eines Kaufhauses, in dem ich mir eine neue Waffe besorgen wollte, als ich zufällig eine erschütternde Nachricht sah, die in den tausend Fernsehern an der Wand lief.

Sie zeigten ein Bild von mir und baten die Zivilisten, die Augen offenzuhalten und sich bei ihnen zu melden, wenn sie mich sahen. Der Feind hatte die ganze Stadt eingenommen, einschließlich der Medien. Er suchte nach mir und mit ihm nun die ganze Stadt. Er hatte mich gar als gemeingefährlich bezeichnet. Das verwunderte mich. Was hatten sie von einem Einzelkämpfer noch zu befürchten? Oder war ich vielleicht wirklich stark genug, es mit dem Feind aufzunehmen? Hatte ich mich vielleicht so sehr unterschätzt?

Ich glaubte es nicht. Meine Situation war zuvor schon ausweglos, doch nun bestand nahezu gar keine Hoffnung mehr - jetzt, wo der Feind alles unter Kontrolle hatte. Ich mußte so schnell wie möglich raus aus dem Kaufhaus, raus aus der Stadt.

Ich war auf der Flucht und konnte meinen Plan vergessen. Aber was sollte ich tun? Sie hatten ein Bild von mir gezeigt, und jeder würde mich erkennen.

Ich zog den Kragen meines Mantels hoch und versuchte so unauffällig wie möglich fortzuschleichen. Ich fühlte mich von allen Seiten beobachtet und rechnete jeden Augenblick damit, daß jemand laut schreien würde: "Da ist er! Ich habe ihn gesehen! Da ist Leutnant Dittmann!"

Vielleicht war es nur Einbildung. Doch was wäre, wenn mir tatsächlich ein Feind seine Pistole an den Kopf setzte und sagte: "Dittmann! Geben Sie auf!"

Was sollte ich dann tun? Sollte ich seiner Anweisung folgen, oder sollte ich besser eine ruckartige Bewegung nach unten durchführen, versuchen ihn zu entwaffnen und ihn dann mit seiner eigenen Kanone wegballern? Oder ihn gar als Geisel nehmen, um zu entkommen.

Ich wußte nicht wie ich in dieser Situation reagieren würde und wünschte, daß ich es nie erfahren würde.

Bald hatte ich das Kaufhaus verlassen. Niemand hatte geschrien. Vielleicht hatte sich keiner getraut, weil sie mich als gefährlich beschrieben hatten. Dann hätten sie wahrscheinlich still und heimlich den Feind gerufen und dieser könnte jeden Augenblick hier auftauchen.

Mir war klar, daß ich es noch nicht geschafft hatte. Ich würde es erst geschafft haben, wenn es mir gelang, die Stadt zu verlassen. Doch selbst dann wäre es noch unsicher. Der Feind konnte ja auch schon die Nachbarstadt und die Nachbarstadt der Nachbarstadt - jedoch die andere und nicht unsere - eingenommen haben.

Ich bog in eine kleine Nebenstraße, um den großen Menschenmassen und damit der Gefahr auszuweichen. Ein Jugendlicher kam mir entgegen. Er trug eine ausgeblichene Jeans, eine Jeansjacke und darunter einen Pullover, der ihm bis zu den Knien reichte. Als er etwa zwei Meter vor mir war, blieb er stehen und musterte mich von oben bis unten. Er mußte mich erkannt haben.

"Sie! Sie sind der Mörder! Und der Grabschänder!" schrie er aufgeregt, doch ich wußte nicht, was er damit meinte. Doch er machte auf mich aufmerksam, und das konnte ich nicht zulassen. Er schrie weiter wirres Zeug. Ich mußte ihn zum Schweigen bringen. Ich setzte ein grimmiges Gesicht auf und starrte ihm tief in seine Augen. Seine Schreie verstummten. Mein Blick hatte ihn zu einer Eissäule erstarren lassen.

"Ich werde Dich zerfetzen!" sprach ich mit heiserer Stimme, während ich ihm einen hektischen Schritt entgegen tat. Er schrie noch einmal laut auf, und dann sah ich ihn nur noch von hinten. Er rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

Jetzt mußte ich mich jedoch auch verdrücken. Es waren schließlich schon mehrere Leute von der Haupteinkaufsstraße in die Nebenstraße eingebogen, weil sie den Schrei gehört hatten. Wahrscheinlich hatten sie mich erkannt. Früher waren dies alles nette und freundliche Mitmenschen gewesen, doch heute war nichts mehr wie früher. Der Feind kontrollierte die Stadt und die Menschen, die in ihr lebten.

Ich nahm mein Bein in die Hand und lief so schnell ich konnte. Nur weg von den Menschen - weit weg.

Plötzlich hörte ich Sirenen. Zuerst leise, dann zunehmend lauter. Der Feind war auf dem Weg hierher. Unterwegs, um mich zu holen. Bald würden die ersten da sein. Ich schaute mich schnell um, erst nach links und dann nach rechts. Was war da? Ja! Das konnte meine Rettung bedeuten. Es war meine einzige Chance.

Ich beobachtete eine junge Frau, die ein Mehrfamilienhaus verließ und bemerkte, daß die Haustür nicht ins Schloß fiel. Ich zögerte einen Moment, bis ich glaubte, die Frau könne mich nicht mehr sehen. Dann begab ich mich zum Haus, ging hinein und schloß die Tür hinter mir. Im Hausflur verharrte einen Augenblick und atmete tief durch. Doch was nun? Ich war in einem fremden Haus, und draußen lauerte der Feind. Ich wußte nicht, wie lange er suchen würde. Vielleicht würde er sogar in die Häuser kommen und mich aufspüren. Mir mußte etwas einfallen. Vielleicht konnte ich einen Zivilisten finden, der bereit war, mich zu beherbergen. Vielleicht würde ich sogar jemanden finden, der für die gleiche Sache kämpfte wie ich.

Aber wie sollte ich das herausfinden? Im Haus wohnten mindestens zehn Familien. Und sie würden bestimmt nicht alle vor die Wohnungstür treten, um sich vorzustellen. Einen Moment lang dachte ich scharf nach.

Das war die Lösung! Die Wohnungstüren! An den Türen befanden sich schließlich Namensschilder. Und am Namen konnte man einen Kameraden erkennen, da war ich mir vollkommen sicher - bis zu diesem Zeitpunkt.

Ich marschierte also durchs ganze Haus und las die Namen an den Türen. Verdammt, waren das viele Stufen! Beinahe hätten meine Schmerzen mich besiegt und ich wäre die Treppe hinuntergestürzt. Doch ich konnte kämpfen - kämpfen gegen den Schmerz. Ich war zum kämpfen geboren.

Deshalb würde ich niemals aufgeben. Der Feind konnte mich nicht besiegen. Aber ich würde ihn mit der Zeit kleinkriegen.

"Gullowitsch", "Fulder", "Teuchler", "Schuhmacher",...

Schuhmacher! Das war gut.

Ich hielt kurz inne und entschloß mich dann an dieser Tür zu klingeln. Schuhmacher war ein guter Name. Ich war mir fast sicher, daß ich hier einen neuen Kameraden finden würde - aber eben nur fast.

Ich drückte die Türklingel hinab und wartete. Nichts geschah. Nach einem weiteren Klingeln hörte ich, daß sich in der Wohnung etwas tat.

"Wer da?" hörte ich eine heisere Stimme langsam sprechen.

"Der Briefträger", sagte ich schnell, da mir nichts anderes einfiel.

"Einen Moment!"

Den Geräuschen, die ich vernahm, konnte ich entnehmen, daß die Person hinter der Tür einen Schlüssel hervor kramte, ins Schlüsselloch steckte und aufschloß.

Die Tür öffnete sich.

 

 

13

An diesem Morgen waren Dennis und ich wieder zur Schule gegangen. Wir konnten uns ja schließlich nicht im Haus verstecken, bis sie Dittmann gefaßt hatten. Wer wußte schon, wie lange das noch dauern würde?

Außerdem glaubte ich nicht, daß sich der Zombie überhaupt noch in der Stadt aufhielt, sonst hätte ihn schon längst jemand gesehen, schließlich war er eine auffällige Erscheinung.

Und wenn er tatsächlich noch hier war und auf Rache sann, wie sollte er das anstellen? Wenn er uns irgendwo auflauern würde, wäre es für uns wahrscheinlich eine Leichtigkeit davonzulaufen.

In der Schule mußte ich meinen Freunden natürlich Bericht erstatten. Fasziniert hatten Tobias und Markus meinen Ausführungen gelauscht, aber in die Situation hineinversetzten konnten sie sich nicht. Sonst hätten sie hinterher niemals gesagt, daß sie es schade fänden, nicht dabei gewesen zu sein.

Erst als ich ihnen versicherte, daß ich gerne mit ihnen tauschen würde, begannen sie allmählich zu verstehen.

Ich saß an meinem Schreibtisch und arbeite an meinen Hausaufgaben, als es an der Tür klingelte.

"Geh mal aufmachen!" rief ich, doch Dennis, der sich in seinem Zimmer aufhielt, hatte es wohl nicht gehört. Es klingelte ein weiteres Mal, doch ich war zu faul, die Treppe hinunterzulaufen - schließlich war ich beschäftigt.

"Dennis!" rief ich noch einmal und um einiges lauter.

"Was ist denn?" fragte mein Bruder genervt, nachdem er meine Zimmertür aufgerissen hatte.

Es klingelte ein drittes Mal.

"Das ist. Du sollst die Tür öffnen!" sagte ich , aber Dennis war schon auf dem Weg nach unten und fluchte laut über meine Bequemlichkeit.

"Besuch für dich!" hörte ich Dennis Stimme wenige Augenblicke später.

Nun mußte ich doch die Treppe hinunter. Unten wartete Tobias, der in der Hand eine Videokassette hielt.

"Hallo!" sagte er. "Ich hab’ was interessantes mitgebracht."

"Ich hab’ im Moment keine Zeit", entgegnete ich. "Ich bin noch nicht ganz mit den Hausaufgaben fertig und möchte jetzt nicht mittendrin unterbrechen."

"Wie lange brauchst Du denn noch?" fragte Tobias.

"Eine halbe Stunde vielleicht. Du kannst ja so lange warten, wenn Du willst", bot ich ihm an.

Ich führte Tobias die Treppe hinauf und schickte ihn in Dennis Zimmer. Dennis war gerade dabei, sich auf seine letzte Vorklausur zum Abitur vorzubereiten, aber wie immer, wenn er lernte, war er für jede Ablenkung dankbar. So schaltete er sogleich den Computer ein, und Tobias war beschäftigt.

Nach etwa zwanzig Minuten war ich schließlich fertig und versuchte Tobias zu entlocken, was denn an dem Film so interessant war. Aber Tobias tat nur geheimnisvoll und sagte, ich solle mir den Film einfach anschauen. Dann wandte er sich Dennis zu.

"Komm schon! Du solltest den Film auch sehen."

Dennis schaute skeptisch.

"Was ist das für ein Film? Hoffentlich nicht wieder so ein Schwachsinn, wie die Filme, die ihr euch sonst immer anschaut", sagte er und klang dabei leicht genervt. Offenbar war ihm gerade wieder eingefallen, daß er eigentlich für seine Klausur lernen sollte.

"Der Kettensägenmörder!" sprach Tobias mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht.

Es war merkwürdig. Normalerweise hätte ich einen Film mit diesem Titel ohne Zögern in den Videorecorder gesteckt, aber heute war alles anders. Nach dem, was geschehen war, wollte ich den Film einfach nicht sehen. Wut stieg in mir auf. Tobias hätte es doch eigentlich wissen müssen. Wie konnte er es wagen, mit so einem Film hier anzutanzen. Er hatte wohl immer noch nicht begriffen, das das alles kein Spiel gewesen ist, sondern bitterer Ernst. Ich verlor die Beherrschung.

"Hast Du sie nicht mehr alle?" fuhr ich ihn an. "Wie kannst Du jetzt mit so einem Film hier ankommen? Du willst mich wohl verarschen!"

"Beruhige Dich!" fiel er mir ins Wort. "Ich will niemanden verarschen. Ich habe schon meine Gründe, warum ich den Film mitgebracht habe. Ihr müßt ihn euch ansehen!"

Ich wollte gerade wieder zu fluchen beginnen, als Dennis schlichtend eingriff.

"Wenn mein Bruder den Film nicht sehen will, dann sag doch endlich, was an dem Film so wichtig ist, daß wir ihn unbedingt sehen müssen", sprach er ruhig zu Tobias, der erstaunlicherweise sogleich einlenkte.

"Ok, ok", sagte Tobias und wandte sich an mich. "Dann werde ich es halt erzählen. Du hattest doch heute morgen angedeutet, daß der Dittmann nicht auf dem neuesten Stand ist, oder?"

"Ja und ?" fragte ich.

"Jetzt bleib’ ganz ruhig", fuhr Tobias fort. "Ich bin davon überzeugt, daß Makkalakadingsa von jemandem ermordet worden ist, der genau diesen Film gesehen hat. Und wie sollte Dittmann den Film gesehen haben, wenn er höchstwahrscheinlich noch nicht einmal einen Fernseher hat?"

"Du meinst, daß der Zombie nicht der Mörder ist?" sprach Dennis seine Gedanken laut aus.

"Wer?" fragte Tobias und sah verwirrt aus. Anscheinend konnte er mit dem Namen Zombie nichts anfangen. Ich ging davon aus, das er schon wußte, wer gemeint war, aber offensichtlich wollte er trotzdem eine Bestätigung, also gab ich ihm eine.

"Zombie. So nennen wir Dittmann."

"Ach so", sagte er, bevor er Dennis Frage beantwortete:

"Ja, genau das meine ich! Vorausgesetzt, alles was ihr mir erzählt habt, stimmt auch."

"Und wie kommst Du darauf, daß der Mörder den Film gesehen hat?" fragte ich gespannt.

"Seh’ dir den Film an!" sagte er nur, und ich sah, wie Dennis zur Treppe in Richtung Wohnzimmer ging.

Mein Unbehagen dem Film gegenüber kam sogleich zurück und schlug in Wut um.

"Nein!" schrie ich hysterisch und erntete dafür einen schrägen Blick von meinem Bruder Dennis.

"Ich schau mir den Film nicht an, Du wirst jetzt alles erzählen!" brüllte ich Tobias an, der klein beigab.

"Ich merk’ schon, daß ich Dich heute nicht dazu bewegen kann. Also gut. Dittmann soll Makkadingsda..."

"Makkalakalane", berichtigte Dennis Tobias, der daraufhin fortfuhr.

"Dittmann soll Makkalakalane mit einer T-230 Kettensäge in Stücke zerlegt haben, richtig? Und genau mit dieser Säge tötet der Mörder in dem Film."

Ich dachte nach. Tobias konnte recht haben mit seiner Annahme, doch genauso gut konnte alles nur ein Zufall sein. Vielleicht war die T-230 ein sehr verbreitetes Modell. Aber noch etwas anderes in meinem Innern wehrte sich gegen diese gewagte Theorie. Ich wußte nicht warum. Vielleicht nur, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wer es sonst getan haben konnte, wenn nicht Dittmann.

"Das sagt gar nichts. Ist wahrscheinlich nur ein dummer Zufall", hörte ich Dennis mit seiner üblichen Skepsis sagen.

"Richtig", sagte Tobias. "Es kann Zufall sein, aber wenn es noch mehr solcher Zufälle gibt, wäre ich mir da nicht mehr so sicher."

Dennis und ich schauten ihn mit großen Augen an.

"Noch mehr Zufälle? Was meinst Du damit?" fragte ich verwundert.

Tobias lächelte und schwieg einen Augenblick, bevor er wieder das Wort ergriff.

"Ihr solltet euch den Film selbst ansehen. Schließlich habt ihr die Leiche mit eigenen Augen gesehen. Möglicherweise gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten.

Mich würde nicht wundern, wenn Makkalakalanes Hände direkt unterhalb des Ballens abgetrennt waren."

Ich schluckte. Vor meinem geistigen Auge sah ich wieder das grauenvolle Bild. Ich fühlte wieder, wie der Regen auf mich hinabprasselte und sah, wie Norbert den Spaten in den schlammverschmierten Sack rammte. Und dann erkannte ich wieder die Hand, die als erstes zum Vorschein kam. Abgetrennt direkt unterhalb des Ballens.

Ich gab mir einen Ruck und versuchte, mich zusammenzureißen. "Zufall!" schoß es mir durch den Kopf, da mein Verstand sich noch immer gegen Tobias Theorie wehrte. Aber bevor ich etwas sagen konnte, fuhr Tobias fort.

"Und der Kopf... Der Schädel war in der Mitte gespalten."

Entsetzt sah ich Tobias an. Auch Dennis starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte den Kopf.

"Glaubst Du wirklich, daß wir die Leiche aus dem Sack genommen haben?" fragte ich Tobias vorwurfsvoll. "Glaubst Du wirklich, ich hätte mir die Leiche so genau angesehen?"

Tobias zuckte mit den Schultern, und dann sprach Dennis, der offenbar seine Fassung wiedergewonnen hatte:

"Eine Hand haben wir gesehen, mehr nicht. Abgetrennt direkt unterhalb des Ballens, genau wie Du gesagt hast."

Das triumphierende Lächeln kehrte auf Tobias Gesicht zurück.

"Wenn Makkalakalanes Schädel wirklich auch gespalten war", sagte Dennis zögernd, "dann wären das zu viele Zufälle. Vielleicht hat der Mörder wirklich den Film gesehen. Und wenn der Mörder den Film gesehen hat, kommt dann überhaupt noch Dittmann als Täter in Frage?"

Ich konnte es nicht glauben. Jetzt unterstützte mein Bruder diese abwegige Theorie.

"Das bedeutet alles gar nichts", sagte ich trotzig. "Und selbst wenn der Mörder den Film gesehen hat, heißt das nicht, daß es nicht der Dittmann gewesen ist. Du kannst ja noch nicht mal mit Sicherheit sagen, daß er keinen Fernseher hat."

"Das könnte man leicht herausfinden", sagte Tobias und grinste schelmisch.

"Selbst wenn Dittmann keinen Fernseher hat, könnte er den Film früher schon gesehen haben", wehrte ich mich immer noch gegen Tobias Idee.

"Früher?" fragte Tobias und hielt mir die Videokassette vor die Nase, so daß ich den Text darauf lesen konnte. "Der Film ist von ’95."

Als ich Dennis zustimmend nicken sah, packte mich die Wut erneut.

"Was ist eigentlich los mit euch?" schrie ich sie an. "Scheiß egal, ob Dittmann den Film gesehen hat oder nicht! Er ist der Mörder! Oder glaubt ihr der buddelt die Leiche im Garten ein, wenn er Makkalakalane nicht umgebracht hat?"

"Wir könnten zumindest mal bei der Polizei nachfragen, was es mit dem gespaltenen Schädel auf sich hat", wandte Dennis ein.

"Dann frag’ mal nach und mach dich lächerlich! So eine dumme Theorie habe ich noch nie gehört. Außerdem: glaubst Du, die werden ausgerechnet dir auf die Nase binden, was sie bis jetzt an Informationen zurückgehalten haben?"

Damit war das Gespräch beendet. Tobias ging beleidigt mit seinem Film nach Hause, und Dennis zog sich stinksauer auf sein Zimmer zurück.

Doch ich war immer noch der Ansicht, Recht zu haben. Es dauerte zehn Minuten, bis mich mein schlechtes Gewissen einholte. Ich hätte Tobias und Dennis nicht so beleidigen sollen. Die Idee schien mir zwar immer noch absurd, aber dennoch faßte ich den Entschluß mich zu entschuldigen und betrat Dennis Zimmer.

Eigentlich wollte ich sagen, daß es mir leid tat, wie ich mich verhalten hatte, aber Entschuldigungen waren noch nie meine Stärke gewesen.

"Ich versteh’ Dich nicht", sagte ich, und Dennis wandte sich zu mir um.

"Du hast doch mit deinen eigenen Augen gesehen, wie Dittmann den Sack vergraben hat."

"Du hast Tobias ganz schön verärgert", sprach Dennis, ohne auf meine Worte einzugehen. "Das hättest Du nicht tun sollen."

"Ich weiß", sagte ich leise.

Dann ergriff Dennis wieder das Wort.

"Richtig, ich habe gesehen, wie er den Sack vergraben hat. Und ich habe auch nicht gesagt, daß Dittmann nicht für die Tat verantwortlich ist, oder?"

Er sah mich an, und ich nickte zustimmend.

"Aber ich frage mich wirklich, was an Tobias Theorie dran ist. Wenn der Schädel tatsächlich gespalten war, haben wir uns möglicherweise verdammt in Dittmann getäuscht."

"Meinst Du wirklich, wir sollten das der Polizei mitteilen?" fragte ich verunsichert.

"Wir sollten zumindest versuchen, einige Informationen zu erhalten", antwortete er und wandte sich wieder seinen Büchern zu.

Ich verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Ich nahm den Hörer ab und wählte Tobias Nummer, wartete jedoch vergeblich darauf, daß jemand abnahm.

Ich konnte mir gut vorstellen, daß Tobias mit dem Film geradewegs zu Markus spaziert war, um ihn von seiner Theorie zu überzeugen.

Irgend etwas beunruhigte mich. Bedenken kamen in mir auf, als ich mich daran erinnerte, wie verwundert ich gewesen war, als ich erfahren hatte, daß die Leiche mit einer T-230 Kettensäge zerstückelt worden war. Wie war Dittmann an die Säge gekommen ? Und jetzt sollte er auch noch einen Fernseher mit Videorecorder haben?

Wir mußten uns sehr in ihm getäuscht haben, dachte ich, während ich mich daran erinnerte, wie er die Leiche verbuddelt hatte. Ich hatte es selbst gesehen. Es gab keinen Zweifel. Es durfte keinen geben.

 

14

Zuerst sah ich niemanden. Doch dann senkte ich meinen Blick ein wenig und schaute in das faltige Gesicht einer alten Frau. Ich hatte mich wohl getäuscht, hier einen Kameraden zu finden.

"Sie sind nicht der Postbote!" schnauzte mich die Alte an. Der Lautstärke nach zu urteilen war sie wahrscheinlich schwerhörig. Augenblicklich versuchte sie, die Tür wieder zu schließen, doch ich drückte mit meinem Arm dagegen, so daß sie es ihr nicht gelang.

"Ich weiß wer die sind! Sie sind Robert Dittmann!" schrie sie erbost. "Wenn sie nicht verschwinden, rufe ich die Polizei!"

"Und wenn sie jetzt nicht ihre dämliche Fresse halten, beiße ich ihnen die Kehle durch", sprach ich ruhig und ernst. Es gelang mir, sie einzuschüchtern.

"Sie können alles haben, doch lassen sie mich in Ruhe", stammelte sie. Offenbar sah sie jetzt ein, wer hier das Sagen hatte. Ich schubste sie in die Wohnung hinein, folgte ihr und schloß die Tür hinter mir.

"Tun Sie, was ich sage, dann geschieht Ihnen nichts", sagte ich, während ihre nervösen Blicke mich regelrecht durchbohrten.

Ich sah mich in der Wohnung um und überlegte, was ich mit der Alten machen konnte. Dies wäre ein schöner neuer Stützpunkt.

Plötzlich hatte ich einen Einfall. Vielleicht hatte dieses Haus ja auch einen Keller mit einzelnen Abstellkammern.

"Haben Sie eine Abstellkammer im Keller?" fragte ich sie und sah ihren Kopf ruckartig nicken.

"Haben Sie Klebeband?"

"In einer Schublade in der Küche", antwortete sie hastig.

"Dann holen Sie es!" sagte ich nun strenger und zog meine Augenbrauen hinunter, so daß sie meine Augen fast verdeckten. Die Alte spurte sofort und brachte mir eine Rolle graues Klebeband.

Sofort begann ich, sie zu fesseln. Sie wehrte sich nicht; anscheinend hatte sie große Angst vor mir. Als sie ordentlich verpackt war, mußte ich sie nur noch in den Keller schaffen.

Doch Moment mal. Hatte ich da nicht einen Fehler gemacht? Wie sollte ich sie denn nun in den Keller bekommen? Jeder, der mich sehen würde, wenn ich sie so herunter trug, wüßte direkt Bescheid.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich sie nicht statt dessen im Badezimmer einschließen sollte. In der Badewanne war schließlich genug Platz.

Aber dann entschied ich mich anders, befreite sie von ihren Fesseln und ließ mich von ihr in den Keller führen.

Wir betraten die Abstellkammer. Die Hälfte der Klebebandrolle war noch übrig, und so fesselte ich sie erneut. Als ich fertig war, setzte ich sie auf einen Klappstuhl, den ich in der Kammer fand und fesselte sie zusätzlich noch an den Stuhl.

Den letzten Klebestreifen benutzte ich, um ihr den Mund zu verkleben, bevor ich das Licht ausknipste und die Tür von außen verriegelte.

Nach getaner Arbeit begab ich mich wieder nach oben in die Wohnung - mein neuer Stützpunkt. Ich befand mich vorerst in Sicherheit.

 

15

Betrübt kamen Dennis und ich zu Hause an. Die Polizei hatte uns keine weiteren Auskünfte geben wollen. Der zuständige Beamte hatte uns mehrmals darauf hingewiesen, daß er keine Informationen weitergeben dürfe, und uns dann eindringlich gebeten, das Revier wieder zu verlassen, da er viel zu tun habe.

Nun waren wir genauso schlau wie vorher. Doch ich hatte bereits meinen Plan.

Dennis hatte den Wagen gerade abgestellt und wollte aussteigen, als ich zu sprechen begann.

"Wir werden herausfinden, ob Dittmann einen Fernseher hat."

Mittlerweile ließ mir die Vorstellung, daß wir uns so im Zombie getäuscht haben sollten, keine Ruhe mehr. Ich wollte eine Bestätigung.

"Was?"

Mein Bruder grinste mich verächtlich an.

"Wie willst du denn das rauskriegen? Willst du etwa bei ihm einbrechen?" fragte er ironisch, doch an meinem Gesichtsausdruck erkannte er, daß er damit den Kern getroffen hatte, und das Grinsen wich aus seinem Gesicht.

"Wer hat Dir denn jetzt ins Gehirn geschissen?" regte er sich auf. "Das ist doch nicht dein Ernst, oder?"

"Doch, ich meine es vollkommen ernst. Wenn die Bullen uns nichts sagen, müssen wir uns eben selbst darum kümmern."

"Du bist total verrückt geworden. Ohne mich."

Dennis schien zu verzweifeln.

"Dann werde ich wohl mit Tobias und Markus reden müssen. Sie werden bestimmt mitkommen. Aber du hältst dicht, klar?"

"Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann. Aber frag’ erst mal Tobias und Markus. Ich bin überzeugt, daß dir nicht dazu bereit sein werden - und alleine wirst Du sicherlich nicht dort einbrechen", erklärte Dennis.

"Sie werden mitkommen", erwiderte ich bestimmt. "Und wenn sie es nicht tun, werde ich eben alleine dort einbrechen."

"Und wenn ihr erwischt werdet?"

Dennis versuchte immer noch, mich davon abzubringen.

"Was soll dann schon passieren? Heutzutage kannst du als Jugendlicher die dollsten Sachen anstellen, ohne bestraft zu werden. Und wir brechen schließlich nur in eine leerstehende Wohnung ein. Das kleine Risiko ist mir die Sache wert."

"Tu, was Du nicht lassen kannst", murmelte Dennis und schlug die Autotür hinter sich zu.

Sofort machte ich mich auf den Weg zu Tobias. Ich mußte mich immer noch bei ihm entschuldigen, und mein Plan würde ihn begeistern.

Fünf Minuten später drückte ich die Klingel an Tobias Haustür nieder und wartete. Hinter der matten Glasscheibe in der zweigeteilten Tür sah ich eine Gestalt , die von der Größe her Tobias sein konnte.

Die Tür öffnete sich, und ich hatte recht. Tobias stand vor mir und lächelte.

"Hast du dich endlich beruhigt?"

"Ja, das hab’ ich. Ich war mit Dennis bei der Polizei", antwortete ich.

"Dann war meine Idee wohl doch nicht so hirnlos, was?" stichelte Tobias. "Was haben die Bullen denn gesagt?"

"Nichts. Die wollten uns keine Auskunft geben."

"Verdammt", fluchte Tobias. "Das hätte sehr wichtig sein können, zusammen mit der Information, ob Dittmann einen Fernseher hat."

"Deswegen bin ich hier", erwiderte ich und erkannte an Tobias Gesichtsausdruck, daß er mich nicht verstand.

"Ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen", eröffnete ich ihm, nachdem er mich hereingebeten hatte. "Ich kann dabei doch mit deiner Unterstützung rechnen, oder?"

"Das kommt darauf an, was Du vorhast", entgegnete er mißtrauisch. Offensichtlich vertraute er mir angesichts meines plötzlichen Sinneswandels nicht ganz.

"Ich will mich mal in Dittmanns Wohnung umsehen."

Tobias verzog das Gesicht.

"In seiner Wohnung? Weißt du nicht mehr, was du über den Gestank erzählt hast? Wo jetzt auch noch Leichen in seiner Wohnung waren... Ich weiß nicht."

"Die haben doch alles desinfiziert, nachdem die die Leichen weggeräumt haben", versuche ich ihn zu überzeugen.

"Du meinst er wirklich ernst", formulierte er halb als Frage und halb als Aussage.

"Mein Entschluß steht fest."

Ich blickte ihn entschlossen an.

"Klar bin ich dabei!" sagte er nach einem leichten Zögern.

Als ich dies hörte, fiel eine Last von meinem Herzen und ich wurde plötzlich viel lockerer.

"Laß’ uns Markus anrufen!" sprach ich und stürmte an Tobias vorbei zum Telefon.

"Und Klaus?" fragte Tobias zögernd.

Ich verzog nur kurz das Gesicht und zuckte mit den Schultern, aber er hatte verstanden.

"Du hast recht", sagte er. "Für Klaus war die Sache auf dem Friedhof schon zuviel."

Inzwischen hatte ich Markus schon an der Leitung. Er war sogleich einverstanden.

Ich verspürte eine freudige Aufregung, doch dann mischte sich plötzlich ein beunruhigendes Gefühl dazu...

 

16

 

Wir trafen uns um zehn Uhr bei Markus vor der Haustür. Es war soweit. Gleich würden wir in Dittmanns Wohnung einsteigen. Wir hatten alles so gemacht wie verabredet. Wir trugen dunkle Jacken, und Tobias und Markus hatten Taschenlampen dabei.

Nervös spielte ich mit dem Schraubenzieher, den ich in der Hand hielt. Mit diesem Werkzeug glaubte ich, Dittmanns Balkontür öffnen zu können. Jedenfalls gelang dies bei Norberts Balkontür, ohne etwas zu beschädigen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Norbert sich ausgesperrt hatte. Wir hatten ihm vorgeschlagen, den Schlüsseldienst anzurufen, doch Norbert hatte nicht auf uns gehört. Er hatte bei einem Nachbarn geklingelt (nicht bei Dittmann) und sich einen Schraubenzieher ausgeliehen. Dann war er auf seinen Balkon geklettert.

Dort hatte er das Werkzeug kurz an die Tür angesetzt und dann mit einer ruckartigen Bewegung zu sich gezogen, so daß die Tür aufsprang. Aber das Verblüffendste daran war, daß die Tür nicht eine Schramme abbekommen hatte und sich nach wie vor problemlos schließen und öffnen ließ. Dennis und ich waren so erstaunt gewesen, daß Norbert uns noch mal gezeigt hatte, wie er dieses Kunststück vollbracht hatte. Nun hoffte ich, daß dieser Trick bei Dittmanns Tür genauso funktionieren würde.

Wir machten uns auf den Weg, und kurze Zeit später bogen wir vorsichtig in die Straße ein, in der sich unser Ziel befand. Ich betete, daß die Polizei Dittmanns Wohnung nicht mehr überwachte. An den parkenden Autos auf dem Seitenstreifen vorbei gingen wir vorsichtig auf das Haus zu. Alles war ruhig. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich nicht, daß die Polizei Dittmanns Wohnung nicht mehr beobachtete.

Langsam öffneten wir das rostige Gartentor und bewegten uns leise in Richtung Dittmanns Balkon. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir darauf verzichtet, unsere Taschenlampen einzuschalten. So tasteten wir uns in der Dunkelheit durchs Gestrüpp, als ich plötzlich ein leises Zischen vernahm und erschrocken herumfuhr.

Neben dem großen Busch, wo die Leiche vergraben war, hockte Markus, der eine Dose Bier in der Hand hielt. Angesichts unserer vorwurfsvollen Blicke zuckte er verlegen mit den Schultern und lehrte die Dose dann mit einem Zug.

"Halt mal!" flüsterte er und reichte mir Dose und Taschenlampe. Ich nahm sie ihm ab und sah zu, wie er mit beiden Händen das Geländer packte, seine Füße auf den kleinen Vorsprung des Balkon hob und sich anschließend hoch zog. Dann nahm er unsere Sachen an, und wir bemühten uns nach ihm nach oben.

Wir standen nun vor der Balkontür, über die ein breiter gelber Streifen mit der Aufschrift "GESPERRT!" klebte.

"Reiß’ die Scheiße erst mal ab!" sprach Markus, der immer noch unsere Sachen hielt.

Tobias tat dies, knäuelte den Streifen zusammen und warf ihn in den Garten.

"Jetzt bist du dran, Meister!" flüsterte er mir zu. "Öffne uns das Tor!"

Ich ließ mir von Markus den Schraubenzieher geben und setzte ihn an die Tür an, so wie es Norbert mit vor fast fünf Jahren gezeigt hatte. Einen Moment lang zögerte ich und bat Gott, daß es funktionieren würde.

"Worauf wartest Du?" flüsterte Tobias ungeduldig. Er wurde langsam nervös.

Ich atmete tief durch und zog den Schraubenzieher mit einer kräftigen, ruckartigen Bewegung an.

TRRRRK!

Die Tür war offen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich sie nicht beschädigt hatte, und so konnte ich mich noch nicht richtig freuen.

"Ihr dürft zuerst!" bat ich Markus und Tobias hineinzugehen. Ich öffnete die Tür ein wenig weiter und sie traten ein. Ich folgte ihnen.

Der modernde, beißende Geruch wurde von einem Desinfektionsmittel übertüncht, daß mich an den Geruch in Krankenhäusern erinnerte. Das Desinfektionsmittel war stark und roch unangenehm, doch im Vergleich zu vorher war es eine Wohltat für die Nase.

"Bahh! Voll die Seuche!" bemerkte Markus, der den Gestank von vorher nicht kannte und somit das Desinfektionsmittel nicht zu schätzen wußte.

"Das ist nichts im Vergleich zu vorher. Stellt euch nicht so an!" forderte ich sie auf.

Jetzt standen wir alle drei in der Wohnung des Zombies. Wir konnten kaum unsere Hand vor den Augen erkennen, doch mit einem Mal wurde es heller. Tobias hatte seine Taschenlampe eingeschaltet.

Ich ging zur Tür zurück, schaute mir das Schloß an und probierte, ob sie sich noch öffnen und schließen ließ. Das Ergebnis meiner Untersuchung erleichterte mich.

"Alles in Ordnung, die Tür ist nicht beschädigt", sagte ich und war froh, meine Freunde beruhigen zu können.

Markus ließ den Lichtkegel seiner Lampe nun ebenfalls durch den Raum wandern.

Das erste, was wir sahen, war die kahle Steinwand. Der Zombie hatte seit seinem Einzug in die Wohnung nie tapeziert. Das Licht lief weiter die Wand entlang, doch wir sahen nichts weiter als die Mauer. An den Wänden befanden sich keine Bilder, keine Möbel, gar nichts. Der Raum kam mir viel größer vor als der entsprechende in der Wohnung meines Onkels.

Plötzlich schweifte das Licht über einen kleinen Holztisch, der sich genau in der Mitte des Zimmers befand. Daran standen zwei einfache Stühle. Der Raum strahlte eine solche Kälte aus, daß ich mir nicht vorstellen konnte, wie jemand hier leben könnte. Allein der Gedanke daran, sich hier längere Zeit aufzuhalten kam mir unmöglich vor.

Aber Dittmann war ein kaltblütiger Mörder. Irgendwie paßte der Raum zu ihm. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er alleine an dem Tisch saß und Selbstgespräche führte.

"Laßt uns weitergehen", flüsterte Markus, und Tobias richtete das Licht seiner Taschenlampe auf die Tür, die in den Wohnungsflur führte.

Langsam und voller Spannung öffnete ich die Tür . Es war hier noch dunkler als in dem Raum zuvor. Erst als Tobias mit seiner Taschenlampe in den Flur trat, konnte man etwas erkennen.

"Können wir hier nicht das Licht anstellen? Hier merkt es doch keiner", fragte Tobias, der bemerkt hatte, daß sich im Flur keine Fenster befanden.

"OK", sagte ich. "Leuchte mal zum Ende des Flurs. Da muß sich irgendwo der Lichtschalter befinden.

Er folgte meiner Anweisung und ich ging vorsichtig zum Lichtschalter, um ihn zu betätigen. Ich drückte den Schalter und es wurde hell. Mein Blick schweifte schnell durch den ganzen Flur. Der Boden war mit Teppichboden bedeckt, der schon sehr alt zu sein schien. Jedenfalls waren mehrere dunkelbraune Flecken auf ihm zu erkennen.

Die Wände waren so kahl wie in dem Raum zuvor. Ich schaute zur Decke und wurde von der Lichtquelle geblendet. Es war eine einfache Glühbirne, die in einer losen Fassung von oben herabhing. Aus dem Flur führten vier Türen heraus, genau wie in Norberts Wohnung - oder besser gesagt fünf Türen, wenn man die Wohnungstür mitzählte.

An der Längswand des Flurs stand ein alter Eichenschrank. Ich sah, wie Markus und Tobias ihre Blicke darauf gerichtet hatten. Sie waren genauso begierig darauf, zu erfahren, was sich darin befand, wie ich. Vielleicht sein Spaten? Oder ein Gummistiefel? Wir würden es bald herausgefunden haben.

"Die Bullen haben alles kontrolliert, oder?" fragte Markus.

"Klar! Warum fragst du?" erwiderte ich.

"Weil ich sicher sein will, daß mir gleich keine Leiche entgegen fällt, wenn ich den Schrank öffne."

"Eine Leiche wird schon nicht drin sein, aber vielleicht ist Dittmann ja zurückgekehrt, jetzt, wo die Polizei das Haus nicht mehr überwacht. Und - wer weiß - vielleicht hat er sich gerade in diesem Schrank versteckt", scherzte Tobias und brachte mit seiner Theorie eine Gänsehaut auf meinen Rücken, obwohl ich genau wußte, daß sein Gerede Blödsinn war.

"Dann wollen wir den Zombie mal aus dem Schrank lassen", sagte Markus, während er einen Schritt auf den Schrank zuging und seine Hand zum Griff gleitete.

Knarrend öffnete sich die Schranktür, die mir genau die Sicht ins Innere versperrte. Ich bewegte mich einen Schritt zur Seite, so daß ich auch hineinsehen konnte.

Ich sah verschiedene Soldatenuniformen, die auf einfachen Holzbügeln hingen, sonst nichts. Keine Leiche, kein Dittmann, kein Spaten und auch kein Gummistiefel, sondern Uniformen. Was zum Teufel wollte er mit all den Uniformen. Ich konnte mich nicht erinnern ihn jemals mit einer gesehen zu haben. Aber anscheinend lebte er doch noch im Zweiten Weltkrieg. Und mit dieser Erkenntnis schwand mein Hoffnung, doch noch einen Fernseher in seiner Wohnung zu finden.

Ich starrte immer noch auf die Uniformen, als Tobias die Schranktür zuschlug.

"Laßt uns weiter suchen!" forderte er uns auf. "Wir werden bestimmt noch etwas interessanteres finden."

Wir knipsten das Licht im Flur wieder aus und bewegten uns zu der Tür, hinter der sich in Norberts Wohnung die Küche befand. Ich fragte mich wirklich, ob Dittmann so etwas besaß. Markus öffnete die Tür und schaltete das Licht an.

"Mach es wieder aus!" schrei ich. "Mach es aus! Das Fenster!"

Markus war offensichtlich durch meinen Schrei erschreckt, denn er schien einen Moment lang verstört, bevor er den Schalter ein zweites Mal betätigte.

Das Licht erlosch, und wir standen wieder in der Dunkelheit. Ich war so aufgeregt gewesen, daß ich mich in der kurzen Zeit, in der die Küche erleuchtet gewesen war, noch nicht darin umgesehen hatte. Ich wußte nicht, ob Tobias oder Markus etwas erkannt hatten, aber ich konnte es mir nicht vorstellen.

"Was machen wir, wenn jemand das Licht gesehen hat und mißtrauisch wird? Vielleicht ruft sogar jemand die Bullen", offenbarte ich meine Bedenken.

"Das Licht war doch nur einen Augenblick lang an. Außerdem ruft so schnell keiner die Polizei, nur weil er ein Licht gesehen hat", versuchte mich Tobias zu beruhigen.

"Nein, nein. Tim hat recht. Laßt uns abhauen", mischte sich Markus ein. Es überraschte mich, daß ausgerechnet Markus, den sonst nichts so schnell erschüttern konnte, so unruhig wurde. Aber vielleicht war es auch nur ein gewisses Gefühl der Schuld, das ich plagte, denn schließlich hatte er uns in diese Lage gebracht.

"Noch nicht!" sprach Tobias entschlossen. "Laßt uns schnell noch die anderen Räume nach einem Fernseher abklappern."

"Gut. Aber Beeilung. Du gehst alleine und ich zusammen mit Markus", schlug ich vor. Diese Aufteilung war notwendig, da wir nur zwei Taschenlampen hatten.

Tobias schien einverstanden, denn er nickte und entfernte sich von uns.

Markus schaltete seine Taschenlampe wieder ein, hielt sie jedoch nach unten, so daß aus dem Fenster möglichst wenig Licht drang.

Auch in Dittmanns Wohnung schien es so etwas wie eine Küche zu geben. Wir erkannten einen Holztisch mit einem Stuhl daran, eine Spüle, einen Küchenschrank sowie einen Kühlschrank. Auf dem Tisch stand ein kastenförmiger Apparat. Zunächst hielt ich ihn für einen Toaster, doch als Markus den Lichtkegel ein wenig weiter bewegte, erkannte ich, daß es sich um ein Radio handelte. Ich ging näher ran, um es mir anzusehen. Nachdem ich einen prüfenden Blick darauf geworfen hatte, glaubte ich nicht mehr, daß Dittmann es in jüngerer Vergangenheit benutzt hatte. Es befand sich kein Kabel daran, und ein Fach für Batterien war auch nicht auszumachen. Wahrscheinlich stand es schon seit dem zweiten Weltkrieg da und war noch nie benutzt worden.

"In die Schränke brauchen wir nicht zu sehen, da wird er schon keinen Fernseher versteckt haben", meinte Markus, und ich stimmte ihm schweigend zu.

"Laßt uns den nächsten Raum durchsuchen!"

Eilig verließen wir die Küche. Als wir gerade das nächste Zimmer betreten wollten, wurden wir plötzlich geblendet. Es war Tobias, der auf dem Weg in den Raum war, der in Norberts Wohnung das Bad war.

"Noch keinen Fernseher gefunden?" fragte er im Vorbeigehen, und an seiner Frage erkannten wir, daß er selber noch keinen gefunden hatte.

Ich öffnete die Tür des letzten Raumes, der durchsucht werden mußte. Markus erhellte den Raum mit der Lampe. Es handelte sich um Zombies Schlafzimmer. Eine einfache Matratze lag auf dem Boden und zusätzlich fünf weitere, so daß der ganze Raum dadurch ausgefüllt wurde. Hatte der Verrückte etwa dort die Leichen abgelagert? Hatte er inmitten der Toten geruht? Der Gedanke war so absurd, daß ich ihn gleich wieder verwarf.

Inmitten dieser Gedanken zerfetzte ein von Entsetzen geprägter Schrei die Luft. Es folgten die Worte "Oh, mein Gott!" und ich erkannte Tobias Stimme. Augenblicklich wandten wir uns um und eilten in den Flur, wo wir auf Tobias trafen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er an uns vorbei. So hatte ich Tobias noch nie gesehen in den neun Jahren, die ich ihn kannte. Irgend etwas an ihm hatte sich verändert. Zunächst konnte ich nicht richtig erkennen, worin die Veränderung bestand, doch dann wurde mir bewußt, daß er älter aussah - viel älter. Etwas sehr, sehr schreckliches mußte geschehen sein. Aber was?

Er stand vor uns und bewegte sich nicht. Nur seine Lippen zitterten. Wir mußten wissen, was ihn diesen Schock versetzt hatten, und so bewegten wir und langsam aber aufgeregt in Richtung Bad. Als Markus und ich vor der Tür standen, hielt ich den Atem an.

Die Tür stand offen, wir konnten jedoch nichts genaues erkennen, da es zu dunkel war, obwohl ein schwacher Lichtschein die grünen Fußbodenfliesen beleuchtete. Als ich hinsah, wurde mir klar, daß das Licht von Tobias Taschenlampe stammte, die er fallengelassen haben mußte.

Er hatte also genau an dieser Stelle gestanden, als es geschehen war. Ich bemerkte, wie meine Hände zu zittern begannen, Markus schien es ebenso zu ergehen, denn das Licht seiner Taschenlampe wackelte unruhig hin und her.

Meine Hände wurden feucht, und ein Teil von mir wehrte sich dagegen, diesen Raum zu betreten. Doch meine Neugier war stärker. Ich mußte einfach wissen, was dort war, egal wie schlimm es auch sein sollte.

Ich sah Markus kurz an, und er verstand mich. Wir faßten all unseren Mut zusammen und schritten weiter vorwärts.

Langsam ruckelte der Lichtkegel von Markus Taschenlampe vom Boden an, wo Tobias Lampe lag, aufwärts. Meine Augen verfolgten das Licht, während meine Knie weich wurden und sich zitternd gegen meinen Willen bewegten.

Der Lichtstrahl fuhr die Seitenwand einer Badewanne hinauf, bis ich den oberen Rand erkennen konnte. Die Wanne leuchtete in einem matten weiß.

Ich mußte schlucken. Irgend etwas in dieser Wanne hatte Tobias den Schock versetzt, und es dauerte keine Sekunde mehr, bis ich es ebenfalls sah.

Ein regungsloser Körper lag in der Wanne, mit einer Gesichtsfarbe, die sich nicht von der Farbe der Wanne abhob. Ich sah in das Gesicht einer alten Frau, deren weit aufgerissene Augen an die Decke starrten. An ihrem faltigen Hals befanden sich dunkle, violette Würgemale, doch schlimmer war die Todesangst, die in ihrem Gesicht stand. Das Gesicht wirkte verzerrt und fremdartig, so daß mir erst jetzt bewußt wurde, daß ich es kannte. Vor mir lag Frau Schreiber aus dem ersten Stock - dahingemeuchelt in Dittmanns Badewanne.

Wenig später liefen wir die Straße entlang; wir liefen, um das hinter uns zu lassen, was wir gesehen hatten. Keiner von uns sagte etwas oder dachte darüber nach, was zu tun sei. Wir liefen einfach weiter.

17

Die Nacht verbrachte ich schlaflos in meinem Bett und grübelte. Hätten wir sofort die Polizei verständigen sollen? Wahrscheinlich wäre dies die richtige Entscheidung gewesen, doch uns hatten Kraft und Mut dazu gefehlt. Schließlich waren wir in die Wohnung eingebrochen. Also hatten wir die unbequeme Entscheiden vor uns hergeschoben. Am nächsten Morgen würden wir entscheiden, was zu tun sei.

Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um die Geschehnisse der letzten Tage. Doch sie waren ungeordnet und verschwommen. Ich sah Bilder der Leiche in Dittmanns Garten, Dittmann, wie er in Soldatenuniform seinen Spaten in die Erde wuchtete und hörte die stummen Schreie der toten Frau in Dittmanns Badewanne. Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder klarere Gedanken fassen konnte, aber schließlich fiel mir wieder ein, warum wir überhaupt in der Wohnung des Zombies gewesen waren. Wir hatten einen Fernseher gesucht. Einen Fernseher, den es nicht gab.

Ich hatte mich also nicht in Dittmann getäuscht. Er hatte keinen Fernseher. Er hatte keinen Videorecorder. Und er hatte den Film "DER KETTENSÄGENMÖRDER" wahrscheinlich niemals gesehen.

Aber das änderte nicht daran, daß er eine Bestie war - ein mordendes Monster, ein Menschenmetzger, dem ein Leben nichts bedeutete. Er hatte nicht nur Makkalakalane auf dem Gewissen.

Merkwürdigerweise beruhigte mich dieser Gedanke, denn er nahm mir einen Teil meiner Schuldgefühle. Ich fühlte mich nicht mehr alleine für Makkalakalanes Tod verantwortlich, denn der Zombie hätte sowieso gemordet.

Aber die beruhigende Wirkung dieses Gedankens hielt nicht lange an, da diese Annahme nur einen Schluß zuließ:

Er würde es wieder tun.

 

18

Wir mußten eine Entscheidung treffen. Ich sah, wie Markus sich mit verschränkten Armen zurücklehnte. Er saß auf der Couch im Wohnzimmer seiner Eltern, und Tobias saß neben ihm. Wir saßen jetzt schon fast eine Stunde lang hier und waren immer noch zu keiner Entscheidung gekommen. Tobias rutschte nervös auf der Couch hin und her, während Markus immer wieder durch seine Gesten andeutete, daß es für ihn nur eine Möglichkeit gab, nämlich alles für sich zu behalten und abzuwarten.

So bemühte ich mich also vergeblich, meine Freunde davon zu überzeugen, daß wir die Polizei informieren sollten.

Einige Minuten lang hatten wir uns gegenseitig angeschwiegen, als Tobias plötzlich zu reden begann.

"Gib mir das Telefon, Markus!" sagte er knapp.

Markus verzog verärgert das Gesicht.

"Ich hab’ die doch gesagt, was meine Meinung ist", protestierte er. "Wir werden uns nicht bei der Polizei melden. Was sollen wir denen denn erzählen? Daß zufällig die Tür zu Dittmanns Wohnung offenstand und wir nach dem Rechten sehen wollten? Das ist doch lächerlich."

"Beruhige dich und gib mir das Telefon", erwiderte Tobias lächelnd. "Oder meinst du nicht, die Bullen sollten wenigstens einen anonymen Hinweis erhalten?"

Markus wollte gerade wieder zu protestieren beginnen, verzog dann aber nur noch einmal das Gesicht und reichte Tobias das Telefon.

"Wenn du dich mit Namen meldest, bringe ich dich um", sagte er trocken, als Tobias den Apparat entgegennahm.

Angesichts seines Gesichtsausdrucks fürchtete ich beinahe, Markus könne diese Drohung wahr machen, doch dazu bestand kein Anlaß. Kurz und knapp wies Tobias den Beamten am Telefon darauf hin, daß sich in Dittmanns Wohnung die Leiche eines weiteren Opfers befand und legte dann auf.

Die Polizei war nun informiert. Aber würden sie dem Hinweis überhaupt nachgehen? Das schien mir zu diesem Zeitpunkt fraglich.

Den Nachmittag verbrachte ich in Dennis Zimmer. Ich saß vor dem 15" Monitor am Computer meines Bruders und hämmerte auf die Tastatur. Das Computerspiel hielt mich davon ab, immer noch nachzugrübeln.

Mein Bruder Dennis saß links neben mir an seinem Schreibtisch und durchsuchte verschiedene Ordner und Bücher nach der Lösung zu einer Aufgabe, die er in seiner Abiturklausur erwartete. Offensichtlich hatte er nichts gefunden, denn er ließ seine Ordner mit einem lauten Knall auf den Fußboden fallen und wandte sich dann mir zu.

"Ich versteh’ dich einfach nicht", sagte er. "Wie kannst du nachts in Dittmanns Wohnung einsteigen?"

Erstaunt drehte ich mich zu ihm um. Er wußte es. Er wußte es, ob wohl ich ihm nichts erzählt hatte. Es kam häufig vor, daß er gerade etwas aussprach, was ich dachte und umgekehrt. Und jetzt hatte er gespürt, daß ich letzte Nacht tatsächlich in Dittmanns Wohnung war. Er hatte bemerkt, daß ich nervös und angespannt war, daß ich mit meinem Gewissen kämpfte. Und er wußte, daß der Einbruch geplant gewesen war. So brauchte er nur noch eins und eins zusammenzuzählen.

"Ich wünschte, ich hätte es nicht getan", begann ich.

Dennis nickte nur und hörte mir weiter zu. Wenige Minuten später hatte ich ihm alles erzählt.

"Frau Schreiber", murmelte er. "Warum sollte Dittmann sie umbringen?"

Ich schwieg. Frau Schreiber wohnte im ersten Stock, direkt über Dittmann. Sie hatte allein dort zusammen mit ihrem Mann gelebt. Ich hatte sie kaum gekannt. Gelegentlich hatte ich sie im Treppenhaus getroffen oder sie auf ihrem Balkon sitzen sehen.

Dennis schien immer noch nachzudenken und es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach.

"Ich wüßte zu gerne, ob die Polizei bereits auf den Anruf reagiert hat", dachte er laut und machte darauf einen Vorschlag.

"Ruf doch eben Norbert an und sag ihm, er soll die Augen offen halten!"

Nein. Ich wollte ihn jetzt nicht anrufen. Irgend etwas in meinem Innern sträubte sich dagegen.

"Er wird sich schon melden, wenn er etwas mitkriegt. Und wenn etwas passiert, dann kriegt er es auch mit. Verlaß dich drauf!" lehnte ich Dennis Vorschlag ab.

Dennis schien sich nun zufriedenzugeben und schaltete das Radio ein.

"Die von den Lokalnachrichten sind manchmal ganz fix", kommentierte er und hob die Order, die er auf den Fußboden geworfen hatte wieder auf.

Kurze Zeit später klingelte das Telefon. Ich stürzte die Treppe hinunter und nahm den Hörer ab.

"Hallo?"

"Hallo, Tim! Hier ist Norbert", meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Etwas unglaubliches ist passiert. Die Polizei war eben da. In Dittmanns Wohnung. Die haben sich fast zwei Stunden da aufgehalten und sogar Verstärkung gerufen. Und gerade eben ist ein Leichenwagen vorgefahren. Jede Wette, daß die noch ein Opfer des Irren gefunden haben."

"Ich weiß", antwortete ich, und noch im gleichen Augenblick bereute ich diese Worte. Jetzt mußte ich Norbert alles erzählen. Norbert war zwar mein Onkel, und ich konnte ihm vertrauen, aber trotzdem berichtete ich nur ungern über meinen nächtliche Einbruch.

"Eine tote Frau. In der Badewanne. Frau Schreiber", sagte ich stockend.

Norbert war sprachlos, also fuhr ich fort.

"Ich war in Dittmanns Wohnung du habe die Leiche gesehen. Letzte Nacht!"

"Was?" fragte er ungläubig. "Willst du damit sagen, du bist in die Wohnung eingebrochen? Das ist doch ein Scherz, oder?"

"Nein, Norbert. Das ist kein Scherz", sprach ich und bemühte mich, ernst zu klingen. "Zusammen mit ein paar Freunden bin ich letzte Nacht dort eingebrochen."

"Aber warum? Was wolltest du da? Sag bloß, du hast gewußt, daß der Zombie dort noch eine Leiche versteckt hatte", erwiderte Norbert fassungslos.

Ich wußte zunächst nicht, was ich ihm antworten sollte. Ich wollte ihm nicht von Theorie erzählen, daß Makkalakalanes Mörder den Film "DER KETTENSÄGENMÖRDER" gesehen haben muß, deshalb konnte ich auch nicht die Suche nach dem Fernseher erwähnen.

"Weißt du, wir wollten unbedingt wissen, wie ein Mörder lebt", log ich. "Aber ich hätte nie damit gerechnet, daß es da noch ein Opfer gab."

"Ja, für so dämlich hätte ich den Dittmann auch nicht gehalten, daß der tatsächlich noch mal in seine Wohnung zurückkehrt und eine Leiche da läßt", bestätigte Norbert. "Entweder hat er genau gewußt, daß die Polizei die Wohnung nicht mehr überwacht oder der ist so wahnsinnig, daß er sich um keine Risiken kümmert. Das Risiko habt ihr ja auch nicht gescheut, bei deinem Einbruch. Wie seid ihr eigentlich da rein gekommen? Habt ihr etwa seine Wohnungstür aufgebrochen?"

"Ich hab’ es so gemacht wie du es mir gezeigt hast", antwortete ich. "Mit dem Schraubenzieher an der Balkontür. Man muß nur an der richtigen Stelle ansetzen, und die Tür geht auf."

Norbert schien erneut erstaunt zu sein, denn er zögerte mit seiner Erwiderung.

"Daran konntest du dich noch so genau erinnern? Das ist doch sechs oder sieben Jahre her, daß ich es dir gezeigt habe. Übrigens, du mußt mir unbedingt erzählen, wie es in der Wohnung ausgesehen hat!"

"Nicht jetzt. Ich will jetzt noch nicht darüber sprechen", sagte ich, da ich wieder an die tote Frau in der Badewanne denken mußte.

"Dann vielleicht am Wochenende", schlug Norbert vor. "Ihr könnt ja am Samstag mal vorbeikommen, Dennis und du."

"Einverstanden", stimmte ich zu. "Ich werde Dennis fragen, ob er mitkommt. Bis Samstag!"

 

19

Den neuen Stützpunkt konnte ich nur als Übergangslösung akzeptieren. Wenn ich dennoch hier bleiben wollte, mußte ich ihn ein wenig umbauen und zu meinen Zwecken neu einrichten, was sicherlich mit einigen Mühen verbunden wäre.

Zu viele Möbel, zu wenig Platz, zu viel Licht durch die Fenster und kein Beobachtungsloch an der Tür. Womit hatte ich das nur verdient?

Sicher, es war besser als nichts, aber noch lange kein idealer Stützpunkt.

Ich entschied mich, die Wohnung nur als Übergangslösung zu betrachten und nur das nötigste zu ändern. Das wichtigste war sicherlich das Guckloch an der Tür. Ich wußte nicht, wie lange ich noch hier verharren würde. Die Situation in der Stadt mußte sich zunächst einmal beruhigen, ehe ich über die Errichtung eines neuen Lagers nachdenken konnte. Solange konnte ich es mir nicht erlauben, vom Feind überrumpelt zu werden, falls er plötzlich vor meiner Tür auftauchen würde. Daher brauchte ich das Beobachtungsloch. Ich mußte die Lage beobachten und nach Anzeichen für das Nahen des Feindes Ausschau halten können.

Doch wie sollte ich in diese verdammte Tür ein Beobachtungsguckloch bekommen?

Ich ging in die Küche und durchsuchte die Schränke und Schubladen nach einem geeigneten Werkzeug. Ich fand zwei Werkzeuge, von denen ich dachte, sie könnten vielleicht für mein Vorhaben geeignet sein - ein großes Küchenmesser sowie einen Eispickel.

Mit dem Messer ritzte ich eine Markierung in das Holz der Tür an der Stelle, wo ich mir das Loch vorstellte. Dann ging ich einen Schritt zurück und rammte das Messer mit voller Wucht in die markierte Stelle.

ZSCHRRRIK!

"Verdammt!" dachte ich, als ich sah, daß ich nur noch den Griff des Messers in meiner Hand hielt, und die Klinge klirrend zu Boden fiel.

Mehr als eine kleine Schramme hatte das Messer an der Tür nicht verursacht. Es war offensichtlich nicht das richtige Werkzeug gewesen. Während ich skeptisch auf den Eispickel blickte, wünschte ich mir, ich hätte mein Kampfmesser hier, das mir im Krieg bisher so gute Dienste geleistet hatte.

Da ich aber kein besseres Werkzeug hatte, faßte ich den Eispickel fester und konzentrierte mich. Nichts sollte unversucht bleiben. Schließlich waren es nicht meine Sachen, die bei mißlungenen Versuchen zu Bruch gingen.

Ich holte erneut aus, und diesmal sollte ich ein wenig mehr Erfolg haben.

"Für meine Kameraden", sprach ich, bevor ich den Eispickel mit all meiner Kraft gegen die Tür donnerte.

Erneut gelang es mir nicht, das Holz zu durchbrechen, aber diesmal hielt das Werkzeug dem Aufprall stand und hinterließ deutliche Spuren. Ich betrachtete die Vertiefung an der markierten Stelle und faßte wieder Hoffnung, daß es mir vielleicht doch noch gelänge, ein Loch in die Tür zu rammen, wenn ich den Vorgang noch einige Male wiederholen würde.

Doch dann hatte ich eine Idee, die mir die Arbeit erheblich vereinfachen konnte. Ich benötigte nur einen Hammer, mit dessen Hilfe ich den Eispickel durch die Tür befördern konnte. Ein paare Schläge, die mich nicht allzu sehr anstrengen würden sollten eigentlich dazu genügen. Ich rechnete fest damit, einen Hammer in der Abstellkammer im Keller zu finden. Ich mußte sowieso noch mal runter, um nach Frau Schuhmacher zu sehen. Sie saß nun schon einen Tag dort unten, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Das hatte sie wahrlich nicht verdient. Sie gehörte schließlich nicht den feindlichen Streitkräften an.

Ich ging also zum Kühlschrank, um ihr etwas mitzunehmen. Dort fand ich eine Flasche Milch, etwas Wurst und einen Joghurt. Als ich die Milch in die Hand nahm, überkam mich ein Durstgefühl. Ich öffnete die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Sie schmeckte sauer - genauso wie die Milch, die der Konditor mir immer geschenkt hatte, wenn ich ihn um ein paar Lebensmittel gebeten hatte.

Ich drehte den Verschluß wieder zu und packte die Flasche zusammen mit drei Scheiben Wurst und einem Joghurt in eine Tüte, die ich in einer Schublade gefunden hatte. Gerade wollte ich die Wohnung verlassen, als mir einfiel, daß die Hausbewohner mich nicht beim Verlassen der Wohnung sehen sollten.

Vielleicht sollte ich mein Aussehen verändern, nachdem überall mein Foto gezeigt worden war. Ich ging also ins Bad, wo ich hoffte einen Spiegel und eine Schere zu finden.

Einen Spiegel fand ich dort auch, eine Schere suchte ich jedoch vergebens. Daraufhin durchsuchte ich erneut die Küchenschubladen, bis ich dort zwischen allerlei Gerümpel eine rostige Schere fand, die ich benutzte, um mir einen neuen Haarschnitt zu verpassen - einen Kurzhaarschnitt. Ich vollendete mein Werk mit einer Rasierklinge, die ich im Bad gefunden hatte und blickte dann nachdenklich in den Spiegel. Was konnte ich noch tun, um mein Äußeres zu verändern. Diese Frage beschäftigte mich, als ein Klingeln mich aus meinen Gedanken riß.

"Verdammt! Was jetzt?" dachte ich, ohne eine Ahnung zu haben, wie ich mich verhalten sollte. Wer war es? Was wollte er? War es schon der Feind?

Es klingelte ein zweites Mal. So leise wie möglich ging ich zur Haustür und wollte durch das Beobachtungsloch schauen, so daß ich bitterlich daran erinnert wurde, was ich eigentlich vorhatte.

Als es ein drittes Mal klingelte, sah ich mich um und stellte fest, daß es nicht die Türklingel war, von der das Geräusch stammte. Frau Schuhmacher besaß tatsächlich ein Telefon, das links von der Tür auf einer kleinen Kommode stand und läutete.

Die Erkenntnis, daß niemand an der Tür stand, erleichterte mich erheblich. Es klingelte ein weiteres Mal, und ich entschloß mich, das einzig sinnvolle zu tun: ich nahm den Hörer nicht ab.

Ich wußte zwar, wie dieses Gerät bedient wurde, doch es wäre nicht besonders schlau von mir gewesen, mich in einer fremden Wohnung am Telefon zu melden. Außerdem mußte der Anrufer ja nicht gleich Verdacht schöpfen, wenn keiner abnahm. Es konnte ja gut sein, daß Frau Schuhmacher gerade etwas anderes zu tun hatte. Und so war es schließlich ja auch; sie hockte im Keller und zitterte vor Angst und Hunger.

Der Anrufer hatte es aufgegeben; das Klingeln stoppte. Ich öffnete die Haustür einen Spalt weit und spähte mit einem Auge in den Flur. Die gegenüberliegende Haustür, die ich sehen konnte, war geschlossen, doch wie sah es mit der rechten Tür aus, die ich von hier nicht sehen konnte?

Ich mußte es riskieren. Ich trat aus der Wohnung heraus und sah mich um. Ich hatte Glück gehabt. Alle Wohnungstüren waren verschlossen; keiner hatte mich gesehen.

Schnell schloß ich die Tür hinter mir und eilte die Treppe hinunter in den Keller.

Als ich in die kleine Abstellkammer eintrat, schaute ich in Frau Schuhmachers verstörtes Gesicht. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen und sah mich erwartungsvoll an. Ich deutete ihr durch eine Geste an, daß ich jetzt den Klebestreifen von ihrem Mund entfernen würde und machte ihr unmißverständlich klar, daß sie keinen Laut von sich geben sollte.

Danach riß ich ihr den Klebestreifen vom Mund. Sie schnappte nach Luft und atmete dann tief durch. Wie erwartet schrie sie nicht.

"Ich habe Ihnen etwas mitgebracht", sagte ich, während ich die Lebensmittel aus der Tüte packte. Anschließend band ich ihr auch noch die Hände los, da ich nicht daran interessiert war, sie zu füttern. Ohne ein Wort aß sie, was ich ihr gebracht hatte. Nur als sie die Milch trank, verzog sie kurz das Gesicht. Als sie fertig war, schaute sie mich mitleiderregend an.

"Lassen sie mich doch gehen! Ich werde sie nicht verraten", winselte sie. Ich verzog das Gesicht und starrte sie bösartig an. Sie schien verstanden zu haben.

"War ja nur ein Vorschlag", stammelte sie leise.

"Haben Sie einen Hammer?" fauchte ich sie an. Sie richtete ihren Blick in die hintere Ecke der Kammer, wo ich zwischen verschiedenen Werkzeug auch schon einen Hammer erkennen konnte. Ich fesselte die Frau erneut und nahm dann den Hammer, neben dem ich noch ein Klappmesser fand, das ich ebenfalls einsteckte. Der Hammer schien wie geschaffen für mein Vorhaben.

Wieder in der Wohnung angekommen machte ich mich erneut an die Arbeit, mein Vorhaben zu beenden. Mein Bein schmerzte zwar, doch die Aufgabe mußte jetzt erledigt werden. Ich setzte den Eispickel an der richtigen Stelle an, holte mit den Hammer aus und schlug zu. Noch in der selben Sekunde wußte ich, daß es ein Fehler gewesen war, doch ich konnte den Schlag nicht mehr rechtzeitig abbremsen. Ich hatte Schritte auf dem Flur vernommen. Mir stockte der Atem, als der Hammer mit voller Wucht auf den Eispickel traf, und tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Doch ich wurde sofort wieder in die Realität zurückgeholt. Der Eispickel durchdrang von der Wucht meines Schlages getrieben die Tür, als ob diese aus Butter bestände. In diesem Augenblick erfüllte ein schriller Schreckensschrei das Treppenhaus.

"Verdammt!" dachte ich, bevor jemand gegen die Tür pochte. Was hatte ich getan?

"Was ist hier los, Mutter?" ertönte jetzt eine kräftige Männerstimme.

Der Schrei hallte immer noch im Flur, als ich den Eispickel aus der Tür zog.

"Wer sind Sie?" hörte ich die Stimme erneut. Der Mann hatte mich offensichtlich durch das Loch gesehen, und ich bedauerte, daß ich den Eispickel hinausgezogen hatte. Was sollte ich jetzt tun? Ich mußte mich schnell entscheiden. Ich hatte keine Zeit, lange zu überlegen.

Immer noch hielt ich den Eispickel in der Hand und zitterte am ganzen Körper. Ich mußte fliehen, sagte mir eine innere Stimme. Ich holte kurz aus und wuchtete den Eispickel wieder durch das Loch. Erneut erklang ein Schrei. Diesmal jedoch kein schriller Schreckensschrei, sondern ein von schmerzen verzerrter Ruf, der mich zusammenschrecken ließ. Der Mann vor der Tür hatte ihn ausgestoßen.

Bruchteile einer Sekunde später folgte ein weiterer Schrei, der dem ersten ähnelte, während der Schmerzensschrei des Mannes immer noch anhielt. Ich zog am Eispickel und konnte sehen, daß sich eine rote Flüssigkeit daran befand. In meinen Gedanken malte ich mir aus, was geschehen war. Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Doch jetzt konnte ich sicher sein, daß der Feind bald da sein würde.

Mit einem Ruck öffnete ich die Tür und stürmte hinaus. Aus dem Augenwinkel konnte ich einen Mann sehen, der sein Auge mit der Hand bedeckte und eine Frau, die ein weiteres Mal zu einem hysterischen Schrei ansetzte. Ohne zu zögern setzte ich meine Flucht fort und verließ das Haus.

 

 

20

Am Samstag besuchten Dennis und ich wie verabredet unseren Onkel. Norbert hatte uns schon erwartet. Er brannte geradezu darauf zu erfahren, wie es in Dittmanns Wohnung ausgesehen hatte. Aufmerksam lauschte er meinen Worten, als ich berichtete, woran ich mich erinnern konnte.

"So etwas ähnliches hatte ich mir gedacht", murmelte er, bevor er sich aus seinem Fernsehsessel erhob, um eine Schachtel Zigaretten aus dem Schrank zu holen. Dann setzte er sich wieder, zündete sich eine Zigarette an und sah mich nachdenklich an.

"Wer hat die Leiche zuerst entdeckt?" fragte er mich.

Doch dies war nur die erste von zahlreichen Fragen, die ich zu beantworten hatte, bis sein Wissensdurst endlich gestillt war.

"Was nun?" fragte Dennis, und wir überlegten gemeinsam, was wir mit dem angebrochenen Nachmittag noch anfangen konnten.

Ich erwartete, daß Norbert gleich in seine "Monsterschublade" greifen und einen Horrorfilm vorschlagen würde, also legte ich mir bereits eine Antwort zurecht, mit der ich ihm klar machen würde, daß für mich jetzt kein Horrorfilm in Frage käme. In letzter Zeit hatte ich genügend Filme gesehen und soviel Horror live erlebt, wie ich es nie erhofft oder befürchtet hatte.

Doch Norbert enttäuschte meine Erwartungen und überraschte uns mit einem anderen Vorschlag.

"Wir könnten Karten spielen", sagte er und sah uns fragend an.

In unseren Gesichtern las er, daß uns sein Vorschlag nicht sonderlich begeisterte. Ich vermutete, daß er vielleicht jetzt einen Horrorfilm vorschlagen würde, doch ich täuschte mich erneut. Er drückte seine Zigarette aus und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.

"Was haltet ihr davon, wenn wir in der Videothek eine Spielekonsole mit ein paar Spielen ausleihen?" schlug er vor, und diesmal stieß er auf mehr Zustimmung.

"Ja, das könnten wir machen", antwortete mein Bruder Dennis.

"Wir sollten aber darauf achten, daß wir Spiele ausleihen, die man auch zu dritt spielen kann", warf ich ein.

Doch Norbert hatte sich bereits erhoben. "Dann werde ich jetzt mal nach Video Ideal gehen. Und das mit den Spielen überlaßt mal mir. Ich bin schließlich gut informiert", sagte er, während er eine Videospielzeitschrift aus dem Regal nahm und mir zuwarf.

"Ihr könnt euch ja schon was zu trinken holen. Ihr wißt ja, wo es steht", fügte er hinzu, bevor er das Zimmer und dann die Wohnung verließ.

Ich schlug die Zeitschrift auf und sah dann Dennis an.

"Bringst Du mir eine Cola aus dem Keller mit?" fragte ich. Verärgert über meine Faulheit sah Dennis zu mir herüber. "Ich werde in den Keller gehen und mir eine Cola", antwortete er, wobei er das Wort "mir" besonders betonte.

"O.K., dann werde ich eben mitkommen", brummte ich zornig und legte die Zeitschrift weg.

Dennis nahm den Schlüssel von der Pinnwand in der Küche, und wir gingen gemeinsam in den Keller. Die Abstellkammer meines Onkels lag gleich rechts von der Kellertreppe. Durch das Gitter aus Holzlatten, daß die Abstellräume voneinander und vom Rest des Kellers trennten, konnte ich bereits den Kühlschrank sehen. Dennis öffnete die Tür und ich ging als erster zum Kühlschrank. Wir hatten Glück gehabt. Es waren noch genau zwei Dosen Cola da.

Mein Bruder hatte gerade wieder die Tür geschlossen, als ich ein seltsames Rascheln vernahm. Ich sah Dennis fragend an, und er nickte. Auch er hatte das Geräusch vernommen. Ich wand mich nach links in die Richtung, aus der das Rascheln zu kommen schien. Mein Blick schweifte den Gang entlang, in der sich auch Dittmanns Abstellkammer befand. Ich wollte die Ursache für das Geräusch finden, doch ich war mir nicht sicher, ob es aus dem Gang oder aus einem der Abstellräume kam.

In diesem Augenblick spielte uns das zeitgeschaltete Licht wieder einen Streich. Mit einem dumpfen Klacken erlosch das Licht und ließ uns in völliger Dunkelheit zurück. Noch mal vernahmen meine Ohren das seltsame Rascheln.

"Was ist das?" fragte ich Dennis, und erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich dabei flüsterte.

"Gleich werden wir es wissen", antwortete er, während er sich offensichtlich zum Lichtschalter vortastete. Einen Augenblick später wurde der Keller wieder erleuchtet und ich sah die Ursache des Raschelns - eine Ratte, die gerade an Dittmanns Kammer vorbeihuschte. Mir war zum Schreien zu Mute. Schon eine Maus reichte aus, um mich in Panik zu versetzen, und das hier war eine ausgewachsene Ratte.

Dennis hingegen machte einen hastigen Schritt auf das Tier zu, welches daraufhin in die andere Richtung davon huschte. Ich atmete tief durch und musterte Dennis der stehengeblieben war und gedankenverloren auf Dittmanns Abstellraum starrte.

"Was ist denn das?" fragte er und ging näher ran.

"Was denn?" fragte ich, doch noch im selben Augenblick sah ich, was Dennis wohl gemeint hatte. Zwei der Holzlatten der Kammer, die sich direkt neben der Tür befanden, hatten einen helleren Farbton als die übrigen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, zuvor schon einmal diesen Unterschied bemerkt zu haben. Daher waren sie wohl auch Dennis ins Auge gefallen. Ich machte einen Schritt darauf zu und fuhr mit der Hand über die Holzlatten. Es bestand kein Zweifel; die Oberfläche fühlte sich glatter an als die der übrigen Latten, und die Kanten waren schärfer. Die Holzlatten mußten vor kurzem erst erneuert worden sein.

Ich fragte mich, ob vielleicht die Polizei sich auf diese Weise Zutritt zur Kammer verschafft hatte und kam übereilt zu dem Schluß, daß es wohl so gewesen sein mußte. Aber Dennis konnte sich das nicht so leicht erklären. Er blickte mich fragend an und ging dann einen Schritt von mir weg, um vorsorglich noch mal den Lichtschalter zu betätigen.

"War das schon vorher so?" fragte er mich. Ich schüttelte kurz den Kopf. "Dafür ist wohl die Polizei verantwortlich", versuchte ich die Sache aufzuklären. Doch Dennis konnte diesen Schluß nicht nachvollziehen. Er hatte bereits etwas bemerkt, was mir noch nicht aufgefallen war.

"Sieh Dir das Schloß an!" sagte er und zeigte mit dem Finger darauf. Das blanke Stahlschloß glänzte silbern in der schummrigen Kellerbeleuchtung. Ich mußte zugeben, daß meine Theorie nicht völlig schlüssig war. Ich erinnerte mich noch an das vor Rost braune Schloß, das zuvor die Tür zu Dittmanns Kammer verschlossen hatte. Jemand hatte das Schloß ausgewechselt, und das konnte nur die Polizei gewesen sein. Wahrscheinlich hatten die Beamten das Schloß aufgebrochen es anschließend erneuert. Doch was hatte es dann mit den helleren Latten auf sich?

Ich sah Dennis an und zuckte mit den Achseln. "Seltsam", murmelte er, bevor wir den Keller wieder verließen.

21

Immer noch müde ging ich langsam den Gang entlang auf das Klassenzimmer zu. Montags fiel es mir immer besonders schwer, morgens früh aufzustehen. Um so mehr wunderte ich mich, als ich auf die Uhr sah, die am Ende des Ganges angebracht war. Ich war beinahe zehn Minuten zu früh.

"Hallo!" hörte ich eine Stimme hinter mir, und drehte mich um. Ich war überrascht, als ich Tobias sah, denn er hatte die Angewohnheit, gewöhnlich mindestens fünf Minuten zu spät zu kommen.

"Gibt es etwas neues?" fragte er. Sein Interesse an der Sache war zu einer regelrechten Begeisterung geworden, und diese Begeisterung schwang in seiner Stimme mit. Die Leiche der alten Frau Schreiber, die wir gemeinsam entdeckt hatten, hatte ihn offenbar nicht abgeschreckt.

"Ich glaube, du weißt mindestens genauso viel wie ich", antwortete ich. Erst einen Moment später fielen mir die helleren Holzlatten wieder ein, die Dennis und ich an Dittmanns Abstellkammer entdeckt hatten. Ich hatte diese Entdeckung fast verdrängt, doch jetzt hatte Tobias sie wieder in mein Gedächtnis zurückgerufen. Ich sagte jedoch nichts, bis Tobias erneut das Wort ergriff.

"Mußtest Du eigentlich schon den KETTENSÄGENMÖRDER ansehen?" löcherte er mich weiter mit Fragen. Er hatte sich wohl daran erinnert, daß mein Onkel ein regelrechter Horrorfilmfanatiker war, der sämtliche Horrorschocker auf Video aufzeichnete, um sie dann Dennis und mir vorzuführen.

"Hab' ich Dir zuletzt nicht schon gesagt, daß ich den Film nicht sehen will?" antwortete ich patzig. "Und außerdem hat mein Onkel den Film sowieso nicht aufgenommen."

Tobias sah mich an, und ich las Erstaunen in seinen Augen. Ich erwiderte seinen Blick und sah ihn ebenfalls fragend an.

"Ich dachte, Dein Onkel sei ein Horrorfilm Fan?" fragte er.

"Ja, das ist er auch", entgegnete ich und versuchte Tobias durch meinen Tonfall klarzumachen, daß deshalb nicht die Notwendigkeit bestand, daß Norbert den Film aufgenommen hatte.

"Und er hat den Film wirklich nicht aufgenommen?" fragte Tobias ungläubig, der anscheinend meinen Tonfall überhört hatte.

"Nein, hat er nicht! Warum sollte er jeden x-beliebigen Horrorfilm aufnehmen?" wurde ich nun deutlicher und sah genervt über meine Schulter auf die Uhr am Ende des Ganges. Ich wünschte mir es wäre bereits 8 Uhr, da Tobias mir allmählich auf die Nerven fiel, doch wir hatten noch fünf Minuten Zeit.

"Der Kettensägenmörder ist kein x-beliebiger Film", sagte Tobias und aus seiner Stimme klang Empörung. "Der Film ist absolute Klasse, einer der besten Horrorschocker, die ich seit langem gesehen habe. Ein echter Horrorfilm Fan wie Dein Onkel Norbert..."

"Er hat ihn aber nicht aufgenommen!" unterbrach ich ihn nun sichtlich genervt, daß Tobias diese Tatsache nicht verstehen wollte.

"Ist ja gut", gab er endlich klein bei, aber dennoch schien er mit meiner Antwort immer noch nicht zufrieden zu sein. Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht damit abfinden.

Während wir jetzt gemeinsam den Gang zum Klassenraum entlang gingen, überlegte ich, ob ich Tobias von unserer Entdeckung an Dittmanns Abstellkammer berichten sollte oder nicht. Ich fürchtete, daß er wieder nervige Fragen dazu stellen und verrückte Theorien aufstellen würde. Wahrscheinlich würde er jedes einzelne Detail wissen wollen.

"Ja oder nein?" fragte Tobias, als wir im Klassenraum angekommen waren und riß mich damit aus meinen Gedanken. Er hatte offensichtlich eine Frage gestellt, die ich während meiner Überlegungen überhört haben mußte.

"Hattest Du etwas gefragt? Ich war gerade in Gedanken versunken...", gestand ich Tobias.

"Ich wollte nur wissen, ob Du heute nachmittag Zeit hast", wiederholte er sein Anliegen, und ich bejahte mit einem Nicken. Bevor ich fragen konnte, was er vorhatte, fuhr er fort:

"Woran hast Du denn gerade gedacht, daß Du meine Frage nicht mitbekommen hast?"

"Ach, nichts besonderes", wiegelte ich ab, doch dann fragte ich mich, warum ich es ihm nicht sagen sollten. So verrückt seine Theorien auch waren, sie brachten uns wenigstens immer zum Lachen.

Tobias schien bemerkt zu haben, daß ich versucht hatte, mich herauszureden und sah mich zweifelnd an.

"Also gut, ich werde es Dir erzählen", gab ich nach und erkannte ein Leuchten in Tobias Augen.

Ich berichtete so detailgetreu wie möglich von unserer Entdeckung. Tobias hörte mir aufmerksam zu, ohne eine Zwischenfrage zu stellen.

"Seltsam", sagte er, als ich die Geschichte beendet hatte.

"Das bedeutet wohl, daß entweder vor oder nach dem Polizeibesuch noch jemand in der Kammer gewesen ist", folgerte er logisch.

"Ja, zu diesem Schluß sind Dennis und ich auch gekommen", bestätigte ich seine Überlegungen.

"Es könnte ja sein, daß..." begann Tobias, brach dann jedoch abrupt ab.

"Was könnte sein?" drängte ich nun und erwartete eine von seinen abgedrehten Theorien, doch Tobias sah mich nur nachdenklich an.

"Nein, ist schon gut", sagte er und die Klingel zum Stundenbeginn läutete.

 

22

Ich hatte Glück. Mehr Glück, als ich eigentlich verdient hatte. Ich war dem Feind entkommen und hatte sogar einen Stützpunkt gefunden - einen, der besser war als Frau Schuhmachers Wohnung.

Ich war geflohen, in dem ich einfach in den nächsten Bus gestiegen war, der mich vor dem Feind gerettet hatte. Er fuhr bis in einen anderen Stadtteil, wo ich mich zunächst einmal in Sicherheit glaubte. Ich zog durch die Straßen, auf denen wenig Verkehr herrschte, dann durch ein kleines Waldstück direkt neben einem großen Lazarett. Vielleicht würde ich hier sogar verwundete Kameraden finden.

Ich konnte mein Glück nicht fassen, als ich schließlich das zweistöckige Haus sah. Direkt neben dem Lazarett in einem kleinen Waldstück gelegen. Die zerschmetterten Fensterscheiben verrieten mir sofort, daß das Gebäude unbewohnt war.

Durch eines der eingeschlagenen Fenster warf ich einen Blick ins Innere des Hauses. Außer etlichen Glasscherben und einem Backstein befand sich nichts in dem Raum. Ich drang durch einige Büsche zur Eingangstür vor. Ich war fest davon überzeugt, daß sie unverschlossen war. Als ich vor der schweren Eichentür stand, schaute ich nach, ob an der Klingel ein Namensschild angebracht war. Dies war jedoch nicht der Fall. Ich fand zwar ein kleines Namensschild, jedoch nicht an der Klingel. Diese suchte ich vergeblich. Statt dessen befand sich an der Tür ein metallener Türklopfer.

Der Name auf dem Schildchen lautete J. Wehrheimer. Egal wer das war, er würde sicherlich nicht mehr in dieser Baracke leben. Für mich jedoch stellte das Haus einen idealen Stützpunkt dar. Ich versuchte die Tür zu öffnen, doch ich hatte mich getäuscht. Die war verschlossen.

Sollte das etwa bedeuten, daß doch noch jemand hier wohnte? Ich überlegte nicht lange, sondern betätigte drei Mal hintereinander den Türklopfer, der jedesmal ein quietschendes Geräusch von sich gab, bevor er dumpf gegen die Eichentür pochte. Eine Minute lang wartete ich, doch es tat sich nichts. Meine Ungewißheit verwandelte sich nun in Sicherheit.

"Hier wohnt keine verdammte Seele", dachte ich und kämpfte mich erneut durch die Büsche zum Fenster vor. Ich stützte mich mit beiden Armen auf die Fensterbank und drückte mich mit meinem Bein vom Boden ab. Ich mußte auf die verfluchten Glasscherben aufpassen. Es gelang mir unter Schmerzen, durch das Fenster ins innere des Hauses zu gelangen. Durch eine knarrende Holztür verließ ich den kahlen Raum und gelangte in den Flur. Ich stand nun direkt vor der Innenseite der Haustür. Hier gab es eine weitere Tür, und eine schmale Betontreppe führte nach oben. Bis auf etwas Müll, der den Boden bedeckte, war hier sonst nichts zu finden.

Ich entschloß mich, zunächst die Tür zu nehmen und anschließend erst die obere Wohnstätte zu begutachten. Knarrend öffnete sich die Tür und ich gelangte in einen Raum, der etwas kleiner war als der erste. Links befand sich ein weiteres zerschmettertes Fenster. Ansonsten fand ich hier einen Stuhl mit drei Beinen, den ich einen Moment lang ansah, sowie einen zerbeulten Kühlschrank. Ich vermutete, daß dieser Raum einmal als Küche genutzt worden war.

Da ich nichts weiter fand, bemühte ich mich nun die Treppe hinauf. Mein Bein, oder das was davon übrig war, bereitete mir wieder Probleme, doch ich wußte bereits, daß ich diese Treppe in nächster Zeit öfter benutzen würde. Die Möglichkeit, mich im Erdgeschoß aufzuhalten kam aufgrund der Fenster leider nicht in Frage. Obwohl in dieser Gegend keine Menschenseele zu leben schien, wäre das Risiko zu groß gewesen, durch die Fenster erspäht zu werden. Also mußte ich mein Lager oben aufschlagen.

Als ich oben angekommen war, stand ich wiederum in einem kleinen Flur, aus dem drei Türen, bzw. zwei Türen und eine Türöffnung heraus führten. Ich bewegte mich zunächst durch den Rahmen, in dem die Tür fehlte, und sah mich um. Durch ein halb mit Brettern zugenageltes Fenster fiel ein wenig Licht. Mein Blick schweifte über den Boden über Berge von Müll hinweg, bis ich eine Matratze erspähte. Doch was war das?

"Das kann nicht wahr sein", dachte ich. Ich kniff die Augen zu und schüttelte kurz den Kopf. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, hatte sich das Bild vor mir nicht geändert. Da lag tatsächlich jemand auf der Matratze und schien zu schlafen. Er trug einen durchlöcherten Mantel und seinen Kopf, neben dem ein verblichener Lederhut lag, hatte er auf eine Zeitung gelegt.

Ich ging zu dem Kerl hinüber und verpaßte ihm einen leichten, hölzernen Tritt. Er rührte sich nicht. Daher stützte ich mit den Händen an der Wand ab, und trat nun kräftiger zu - mit meinem Fuß in seine Rippen. Er war tatsächlich lebendig. Er schrie, sprang keuchend auf und starrte mich an.

"Verpiß Dich!" herrschte er mich an. "Das ist meine Unterkunft, und ich habe nicht vor, sie mit Dir zu teilen."

"Denkst Du, ich habe vor meinen neuen Stützpunkt mit Dir zu teilen?" erwiderte ich ruhig. Ich würde mich doch nicht von einem dahergelaufenen Landstreicher vertreiben lassen.

"Bist Du irre oder taub?" fauchte er weiter. "Ich habe gesagt, Du sollst Dich wegmachen!"

Dieser Kerl schien nicht zu verstehen. Ich machte ein entschlossenes Gesicht und starrte ihm tief in die Augen.

"Ich glaube, Du verstehst nicht", fuhr ich fort und kramte Frau Schuhmachers Klappmesser aus meiner Tasche. "Wenn Du nicht auf der Stelle von hier verschwindest, schlitze ich Dich auf und fresse Deine Eingeweide."

Irritiert musterte mich der Penner, während sein Blick zunächst auf das Messer, das ich jedoch noch nicht aufgeklappt hatte, und dann in mein Gesicht fiel. Plötzlich machte er ein entsetztes Gesicht. Meine kleine Rede hatte wohl die beabsichtigte Wirkung gehabt.

"Sie sind Robert Dittmann!" sagte er leise. Ich hatte ihm anscheinend Respekt eingeflößt, denn er war tatsächlich höflicher geworden; zuvor hatte er mich noch geduzt. Doch Moment mal, woher kannte er meinen Namen? Ich wollte ihn gerade fragen, als er sich eilig bückte, seinen Hut aufhob, und dann an mir vorbei die Treppe hinunter stürmte.

"Komischer Kerl", dachte ich. Dann fiel mein Blick auf die Zeitung, auf die er seinen Kopf gelegt hatte. Ich hob sie auf und blätterte sie kurz durch. Auf der letzten Seite fand ich ein Foto von mir, unter dem verwirrendes Zeug stand. Ich las etwas von "Mörder" und "gemeingefährlich". Das war also der endgültige Beweis: der Feind kontrollierte die Medien. Der Mann, dem ich den Eispickel ins Auge gerammt hatte konnte doch nicht gestorben sein. Ich warf die Zeitung in die Ecke und setzte meine Erkundungstour fort.

 

23

Es war Samstag. Wir hatten gerade zu Mittag gegessen. Dennis und ich hatten beschlossen, am Nachmittag zu Norbert zu gehen.

Wir standen gerade an der Haustür, als das Telefon klingelte. Dennis hielt bereits die Klinke in der Hand und deutete mir an, daß wir gehen sollte. Doch ich wollte wissen, wer am Telefon war. "Warte!" sagte ich zu Dennis und eilte zum Telefon.

"Hallo?" sagte ich, als ich den Hörer abgenommen hatte.

"Hallo! Hier ist Tobias. Hast Du heute nachmittag Zeit?"

"Dennis und ich wollten unseren Onkel Norbert besuchen", antwortete ich kurz und dachte, daß damit seine Frage beantwortet war. Aber Tobias machte einen Vorschlag.

"Ich habe gerade einen Film aus der Videothek ausgeliehen. DER SCHLACHTHOF, gerade brandneu auf Video. Ich hatte gedacht, daß wir ihn zusammen ansehen könnten."

Ich wollte gerade etwas sagen, als Tobias fortfuhr.

"Dein Onkel ist doch ein Horrorfilm Fan. Vielleicht hat er den Film auch noch nicht gesehen..." sagte er.

"Kann sein", antwortete ich.

"Meinst Du, er hätte etwas dagegen, wenn ich mit komme?" fragte Tobias.

Ich überlegte kurz. "Ich denke nicht", entgegnete ich. "Wenn Du willst kannst Du mitkommen."

Norbert hätte bestimmt nichts dagegen. Außerdem wußte ich, das Tobias darauf brannte, Norbert einmal kennenzulernen. Ich war überzeugt, daß er alles geplant hatte, um Norbert einmal kennenzulernen. Vielleicht würde er sogar jetzt erst zur Videothek rennen, um den Film auszuleihen. Aber ich sah keinen Grund, warum ich Tobias Wunsch nicht erfüllen sollte.

Wir verabredeten, daß er in zehn Minuten zu mir käme, von wo wir uns dann gemeinsam auf den Weg zu Norbert machen würden.

Ich erzählte Dennis, der immer noch an der Tür stand, daß Tobias mitkommen würde. "Gut", sagte er nur, aber als ich erwähnte, daß wir noch auf Tobias warten mußten, verzog er das Gesicht.

"Ich geh schon mal vor und warne Norbert. Bis gleich", sagte er und schlug die Tür hinter sich zu.

Zwanzig Minuten vergingen, bis Tobias mit dem Film vorbeikam. Zusammen gingen wir zu Norbert und zehn Minuten später kamen wir an. Ich klingelte und Norbert öffnete die Tür. Ich stellte Tobias kurz vor und Norbert schien wirklich nichts dagegen zu haben, daß ich ihn mitgebracht hatte. Jedenfalls ließ er es sich nicht anmerken. Im Gegenteil, er fragte Tobias sofort nach dem Film, da Dennis ihm schon erzählt hatte, daß Tobias einen Film mitbringen würde.

"DER SCHLACHTHOF", sprach Tobias, während er Norbert die Videokassette reichte. Norbert nahm die Kassette und ging ins Wohnzimmer. Wir folgten ihm. Er hatte den Film tatsächlich noch nicht gesehen, doch er griff sofort eine Videozeitschrift aus dem Regal und schlug mit einem Mal die Seite auf, auf der der Film vorgestellt wurde.

"Dann wollen wir uns den Film mal ansehen", sagte er, während er mir das Videomagazin reichte und die Kassette in den Recorder steckte.

Wie immer ließ Norbert die Rolladen herunter und schaltete das Licht aus, bevor er in seinen Fernsehsessel setzte und sich eine Zigarette anzündete. Tobias und ich hatten neben Dennis auf der Couch Platz genommen.

Das Vorprogramm begann mit einer Vorschau auf neue Videofilme.

"Und Sie sind wirklich so ein Horrorfilm Fan?" fragte Tobias plötzlich, und ich konnte bereits ahnen, worauf er hinauswollte. Er wollte mir einfach nicht glauben, daß mein Onkel den KETTENSÄGENMÖRDER noch nicht gesehen hatte. Ich schluckte meine Wut herunter. Warum gab sich Tobias nicht mit meiner Antwort zufrieden? Mußte er es aus Norberts Mund unbedingt noch einmal hören? Seine Theorie, daß Makkalakalanes Mörder den Film gesehen haben mußte war einfach absurd. Ich spürte regelrecht, daß er Norbert verdächtigte, und das ließ den Zorn in mir aufsteigen. In diesem Moment hätte ich ihn gerne am Kragen gepackt und hinausgeworfen. Dich ich behielt die Nerven und wartete ab. Vielleicht würde er ja bald zur Vernunft kommen und einsehen, daß Norbert kein Mörder war.

"Ja, das ist wohl wahr", antwortete Norbert, ohne Tobias Hintergedanken zu erkennen. "Dich scheinen Horrorfilme ja auch zu faszinieren."

"Sicher", antwortete Tobias kurz, ohne sein Ziel aus den Augen zu verlieren.

"Haben Sie den KETTENSÄGENMÖRDER gesehen?" fragte er Norbert.

"Ich kann mich nicht daran erinnern", sagte Norbert, ohne lange zu überlegen. "Wenn er gut ist und nicht gerade besonders alt, würde ich mit sicherlich daran erinnern, wenn ich ihn gesehen hätte", fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Endlich hatte Tobias diese Antwort auch von Norbert persönlich erhalten. Jetzt mußte er schließlich einsehen, daß mein Onkel den verfluchten Film nicht gesehen hatte, und ich hoffte, er würde nun zufrieden sein.

Das Vorschauprogramm war zu Ende, doch bevor der Film begann, drückte Norbert auf die Stop-Taste. Tobias sah uns irritiert an, doch wir wußten, was dies bedeutete. Wir waren schon daran gewöhnt, daß Norbert sich vor einem Film noch etwas zu trinken holte. Meistens gingen auch wir dann in die Küche oder in den Keller hinunter, um uns etwas zu holen.

"Ich habe noch eine Flasche Cola im Kühlschrank. Wenn Ihr etwas trinken wollt, könnt Ihr sie euch ja holen", sagte Norbert, bevor er sich aus seinem Sessel erhob, um in die Küche zu gehen. Im Vorbeigehen betätigte er den Lichtschalter, und Dennis erhob sich ebenfalls.

"Bringst Du Tobias und mir ein Glas mit?" bat ich ihn. Dennis nickte und verließ ebenfalls das Zimmer.

Tobias sah mich kurz an, und dann schweifte sein Blick durch das Zimmer.

"Wo bewahrt Dein Onkel seine Filme auf?" flüsterte er mir zu.

"Da drüben in der Schublade", antwortete ich, ohne nachzudenken und deutete mit dem Finger auf eine große Kommode rechts von der Couch.

Nur einen Augenblick später bedauerte ich, daß ich Tobias diese Auskunft gegeben hatte. Ich traute meinen Augen nicht. Ich hatte gerade den Satz beendet, als Tobias auch schon vor der Monsterschublade kniete und diese öffnete.

"Bist Du verrückt? Was machst Du da?" brach ich heraus, wobei ich jedoch darauf achtete nicht zu laut zu sprechen. Doch Tobias ließ sich nicht stören. Er blieb seelenruhig und durchsuchte systematisch die Schublade. Ich konnte es nicht glauben. Er suchte nach einem Beweis. Nach dem Beweis für seine wahnwitzige Theorie, daß Norbert der Mörder war. Der Kettensägenmörder, der Makkalakalane brutal zerstückelt hatte.

Ich wollte aufspringen, die Schublade zuknallen und Tobias zur Rede stellen, doch ich hörte bereits Norberts Schritte im Flur. Was würde geschehen, wenn er Tobias vor seiner Schublade hocken sähe? Was würde er von mir denken, wenn ich dabeisäße und tatenlos zusähe?

"Schnell! Mach die Schublade zu", zischte ich nervös. Tobias, der die Schritte anscheinend auch gehört hatte, schob die Schublade schnell zu.

Ich sah, wie sich die Tür genau in dem Moment öffnete, als Tobias sich hastig erhob. Norbert trat ein, und sein Blick streifte erst Tobias und dann mich. Tobias erbleichte. Schweigend setzte sich Norbert und stellte die Flasche Bier, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch ich konnte nicht deutlich erkennen, ob er etwas bemerkt hatte und was er dachte. Er wirkte ruhig, beinahe ein wenig zu ruhig.

Einen Moment später trat Dennis ein. Bevor er das Licht wieder ausschaltete, erhaschte ich noch einen Blick auf Tobias, in dessen Gesicht jetzt langsam wieder Farbe zurückkehrte.

"Dann kann es ja losgehen", sagte Norbert und betätigte die Play-Taste auf der Fernbedienung. Ich versuchte mich auf den Film zu konzentrieren, doch immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Es dauerte eine Weile, bis der Film mich schließlich doch gefangennahm.

"Trotzdem, vielen Dank!" sagte die junge Frau, und in ihrer Stimme schwang Unbehagen mit. Der große Mann hob die dunklen Augenbrauen. "Was werden Sie jetzt tun?" fragte er mit tiefer Stimme, während er sie durchdringend ansah.

Die Frau tänzelte einen Schritt zurück und warf über Ihre Schulter einen verlegenen Blick auf die Tür.

"Ich...", begann sie, "..ich werde zu Fuß gehen. Es ist nur zehn Minuten von hier. Nochmals, danke."

Der Hüne lächelte schief. Die Narbe an seinem Kinn ließ dieses Lächeln falsch erscheinen. "Warten Sie! Wenn Sie niemanden erreicht haben, könnte ich Sie vielleicht...", sprach er und war dabei bemüht, freundlich zu klingen.

"Danke, ich komm schon alleine klar", antwortete die Frau hektisch, öffnete die Tür und schloß sie genauso schnell wieder hinter sich. Beinahe fluchtartig stürmte sie die Treppen hinunter, verließ das Haus und trat in das Dunkel der Nacht.

Dicke Regentropfen prasselten vom Himmel und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich am feuchten Boden. Sie schlug den Kragen ihres Mantel hoch und warf noch einen Blick auf das Fenster in der Wohnung über der Metzgerei. Man konnte einen vagen Schatten dort oben erkennen, der kurz darauf verschwand.

Eilig schritt sie an ihrem liegengebliebenen Wagen vorbei und trat ihren Heimweg durch den Regen ein. Nach einigen Schritten sah sie sich nervös um. Sie glaubte, einen Schatten hinter sich gesehen zu haben und beschleunigte Ihren Schritt.

Wieder sah sie sich um. Jetzt war es ganz deutlich. Eine Gestalt folgte ihr. Sie kam näher. Entsetzten spiegelte sich in ihren Augen.

Instinktiv sah ich zu Norbert hinüber. Nur im Licht des Fernsehers meinte ich so etwas wie ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. Er hielt seine Augen starr auf den Fernsehschirm gerichtet, und ich bemerkte wie Tobias ihn aus den Augenwinkeln beobachtete.

Immer schneller hallten ihre Schritte auf dem nassen Asphalt, und immer öfter sah sie sich um. Die Gestalt kam näher. Ihr Puls raste. Eilig bog sie um eine Straßenecke. Hier gab es keine Straßenbeleuchtung. Nur der Mond und das Licht aus dem Fenster eines Hauses erhellten die Dunkelheit ein wenig.

Kurz bevor sie das Haus erreichte, erlosch das Licht. Panik stand in ihrem Gesicht. Schnell sah sie sich um und blickte in ein paar Autoscheinwerfer, die langsam näher kamen. Im Gegenlicht konnte sie nicht erkennen, ob die Gestalt ihr immer noch folgte.

Sie machte ein paar hektische Schritte zur Straße hin und winkte dem sich nähernden Wagen verzweifelt zu, während sie weiter rückwärts lief. Sie konnte ihren Verfolger in der Dunkelheit nicht mehr sehen, doch sie spürte die Bedrohung.

Der Wagen wurde langsamer und hielt an. Die Scheinwerfer erloschen, doch der Motor lief weiter. Die Frau hastete ein paar Schritte auf die Fahrertür zu.

"Hilfe! Sie müssen mir helfen!" keuchte sie atemlos.

Dicke Regentropfen bedeckten die Scheibe an der Fahrertür.

"Helfen Sie mir, ich..."

Die Tür schwang auf, und ihre Augen weiteten sich zu Entsetzen. Sie riß den Mund auf und versuchte zu schreien, doch alles, was sie hervorbrachte, war ein heiseres Würgen.

Dann verstummte sie, als das Fleischerbeil auf sie herab raste und sich tief in ihren Schädel grub. Die Augen quollen hervor, und eine wabernde Masse vermengt mit Blut wich aus ihrem Schädel und ergoß sich über ihr Gesicht als sie zusammensackte.

Norbert kniff die Augen zusammen und warf seine Stirn in Falten. Seine Mundwinkel zuckten kurz, als sich das Blut ergoß und die Gehirnmasse hervorquellte. Erst als die Szene vorüber war, löste er seine Augen kurz vom Fernsehschirm und warf einen flüchtigen Blick auf Tobias. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Film und sein Gesicht trug die Andeutung eines Lächelns.

Der Film dauerte etwas länger als zweieinhalb Stunden. Norbert wartete, bis der Nachspann vorüber war. Erst dann betätigte er die Stop-Taste und zog sein Fazit.

"Nicht schlecht", sagte er, während er die Kassette zurückspulte.

"Oder was meint Ihr?" fügte er hinzu und blickte fragend in die Runde. Dennis und ich nickten zustimmend, doch aus Tobias Blick sprach Unverständnis.

"Und Du, Tobias?" wandte sich Norbert an ihn.

"Nicht schlecht?" antwortete er. "Das finde ich ein wenig untertrieben. Der Film war atemberaubend. Nur in einem Punkt, hätte man ihn noch besser machen können."

Wir sahen ihn fragend an.

"Welchen Punkt meinst Du?" fragte Dennis.

Tobias zögerte einen Augenblick und lächelte kurz.

"Die Mordwaffe!" sagte er enthusiastisch. "Eine Kettensäge wäre noch besser gewesen als das Fleischerbeil. Zumindest für das Finale."

"Meinst Du?" sagte Norbert nachdenklich.

"Ja", bestätigte Tobias, "so wie in der KETTENSÄGENMÖRDER."

"Das Fleischerbeil hat doch genug Schaden angerichtet", erwiderte ich schnell, da mir nichts besseres einfiel, um von der Kettensäge und Tobias Theorie abzulenken.

"Nein, Tobias hat recht", meinte Norbert überraschend. Er schien immer noch ganz in Gedanken versunken zu sein.

"Sicher, mit einem Fleischerbeil kommt der Todesstoß überraschender. Aber was ist schon der überraschende Schlag mit dem Beil im Vergleich zum surrenden Motorengeräusch der Kettensäge, bevor man die Knochen bersten hört?" fuhr er fort.

Norberts Worte machten mich stutzig. Hatte er etwa doch den KETTENSÄGENMÖRDER gesehen? Ich überlegte fieberhaft, doch ich konnte mich an keinen Horrorfilm erinnern, in dem der Mörder mit einer Kettensäge zugeschlagen hatte. Doch Norbert zeigte mir und Dennis immer seine neuen Horrorfilme.

Tobias Stimme riß mich aus meinen Gedanken. "Was haben Sie denn schon für Filme gesehen, in denen der Mörder seine Opfer mit einer Kettensäge zerstückelt?" fragte er Norbert.

Zum ersten Mal sah ich Tobias Verhalten auch von einer anderen Seite. Wenn man davon ausging, daß er wirklich an seine Theorie glaubte, bewies er durch diese Frage eine Menge Mut. Schließlich wäre Norbert für ihn dann Makkalakalanes Mörder. Mit seinen Fragen wagte er sich somit in die Höhle des Löwen.

Ich vermutete, daß er selbst nicht fest an seine Theorie glaubte und alles als mehr als ein Spiel betrachtete.

"Der Menschenmetzger", sagte Norbert, der seine langen pechschwarzen Haare nach hinten strich. Dennis, Tobias und ich sahen ihn interessiert an, da keiner von uns diesen Film kannte.

"Der Film ist schon ein wenig älter", fügte Norbert erklärend hinzu, als er sah, daß wir ein wenig verwundert dreinschauten.

Norbert zündete sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich dann in seinem Sessel zurück.

"Der Film handelt von einem älteren Mann. Einen Kriegsveteranen, der den Verstand verliert, als seine Frau stirbt. Er besorgt sich eine Kettensäge und beginnt sein grausiges Werk; wahllos sucht er sich seine Opfer und metzelt sie gnadenlos ab. Doch so willkürlich er auch seine Opfer auswählt, so geschickt führt er die Morde durch. Auch nach Dutzenden von Opfern kommt ihm die Polizei noch nicht auf die Schliche, da der Täter geschickt alle Spuren verwischt hat.

Nur ein neugieriger Junge schöpft Verdacht und beginnt ihm nachzuspionieren. Er sammelt eine Menge Indizien dafür, daß der Mann der gesuchte Mörder ist. Doch leider kommt er nicht mehr dazu, der Polizei von seinen Entdeckungen zu berichten. Statt dessen findet die Polizei die zerstückelte Leiche des Jungen."

Mein Onkel nahm einen tiefen Zug und blies dann den Rauch ins Zimmer.

"Und wie endet der Film?" fragte Tobias, der zuvor aufmerksam zugehört hatte.

Norbert weitete die Augen und zog die Augenbrauen hoch.

"Der Alte mordet weiter und wird nicht erwischt", erwiderte er trocken.

 

24

Wie ein Heckenschütze bewegte ich mich vorsichtig durch das Gestrüpp. Ich durfte mich nicht entdecken lassen. Aus meinem Versteck heraus, in dem ich gewartet hatte, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte ich nur kurz einen Wächter gesehen, der über das unterirdische Lazarett spazierte. Ich wollte ihm nicht über den Weg laufen, daher mußte ich vorsichtig sein.

Über den einfachen Holzbetten, in denen die Verwundeten gewöhnlich unter der Erde aufbewahrt wurden, waren große Namensschilder angebracht., die mir bei der Suche nach Kameraden helfen würden. Das Lazarett glich ungefähr dem, aus dem ich früher schon meine Kameraden herausgeholt hatte. Es war lediglich ein wenig kleiner.

Diese Holzbetten waren eigentlich völlig sinnlos. Nachdem ich damals meine Kameraden daraus befreit hatte, ging es ihnen gleich viel besser. Keiner von ihnen ist gestorben.

Aus den Büschen peilte ich noch einmal kurz die Lage. Kein Wächter war zu sehen. Das war meine Gelegenheit. Ich trat aus meinem Versteck hervor und ging an einer der unterirdischen Bettreihen vorbei, wo ich verletzte Kameraden vermutete. Ich mußte nahe an die Namensschilder herangehen, um sie in der Dunkelheit entziffern zu können.

"Reinhard S."

"Reinhard S.", wiederholte ich den Namen, während ich darüber nachdachte, ob er vielleicht ein Kamerad war. Doch so sehr ich auch nachdachte, ich konnte mich an diesen Namen nicht erinnern. Also suchte ich weiter.

Ich ging die Reihe entlang und las nacheinander die Namen.

"Stavek Lektor, Walter Müsemann, Schinski Karl, Ralf Bohrer,..."

"Ralf Bohrer!"

Ich las dieses Schild nochmals. Eingemeißelt auf einem Stein stand dieser Name, der mir seltsam vertraut vorkam.

"Ralf Bohrer, Ralf Bohrer."

Ich kannte diesen Namen und versuchte mich zu erinnern woher. Ich überlegte eine Weile und flüsterte den Namen andauernd vor mir her. Plötzlich machte es klick.

Bohrer hatte zusammen mit mir an der Front gekämpft! Was für ein Glück! Ich hatte einen neuen Kameraden gefunden. Und wir hatten schon einmal gemeinsam gegen den Feind gekämpft. Damals hatten wir den Kürzeren gezogen, doch diesmal würden wir siegreich sein.

"Hoffentlich ist Ralf nicht allzu schwer verwundet", dachte ich, doch im selben Augenblick begann etwas, mich zu beunruhigen. "Ralf?" wiederholte ich den Namen nachdenklich. War es nicht Reinhold Bohrer gewesen, der mit mir an der Front gedient hatte?

"Ralf?" murmelte ich. "Reinhold! Reinhold? Reinhold....Ralf!"

Wen interessierte schon ein verdammter Vorname. Ob Ralf oder Reinhold, das spielte nun wirklich keine Rolle. Ich schob meine Bedenken beiseite und holte den Spaten aus dem Gebüsch hervor, wo ich ihn versteckt hatte.

Ich schaute mich noch mal vorsichtig um, ob auch alles ruhig war, bevor ich den Spaten schließlich in die Erde rammte.

"Bald bist Du frei, Kamerad. Und es wird Dir besser gehen", flüsterte ich, um mich beim Wegschaufeln der feuchten Erde zu motivieren. Ich schuftete und schwitzte, doch bislang noch ohne Erfolg. Das Lazarett schien hier sehr tief zu liegen.

"Verdammt", fluchte ich, als ich in das Loch hinab sah, das ich gegraben hatte. Es war nun schon ganz schön tief, doch ich hatte noch immer keine Spur von einem Holzbett entdeckt. Mir gelang es gerade noch aus dem Loch hinauszusehen, und ich befürchtete, daß ich nicht mehr herauskommen würde, wenn ich noch viel tiefer graben würde. Außerdem zerrte es an meiner Kraft, die Erde jetzt immer weiter nach oben zu befördern. Bereits bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehrere kurze Pausen einlegen müssen, um mich zu erholen und neue Kraft zu schöpfen.

Ich entschloß mich, noch einige Zentimeter tiefer zu graben und dann aufzugeben, wenn ich noch nicht auf Holz gestoßen war. Schließlich triefte der Schweiß von meiner Stirn und mein Bein bereitete mir höllische Schmerzen.

Ein letztes Mal donnerte ich den Spaten voller Wut und Enttäuschung in die Erde und hörte das Metall des Spatens auf ein anderes hartes Material treffen. Ich muß zugeben, daß ich hierbei ein wenig erschrak, da ich nicht mehr damit gerechnet hatte, etwas zu finden.

Doch das Geräusch hatte nicht so geklungen, als wenn Metall auf Holz getroffen wäre. Es war vielmehr ein metallisches Klirren. Doch dies entmutigte mich keineswegs.

Ich hatte nun wieder Hoffnung und grub so schnell ich konnte weiter. Schließlich konnten die Betten in diesem Lazarett auch aus einem anderen Material bestehen.

Noch einige Male stieß ich den Spaten in die Erde und schaufelte die Erde nach oben, bis ich innehielt. Ungläubig starrte ich auf dieses Ding, das ich freigelegt hatte. Das war nicht das was ich erwartet hatte. Vor mir lag ein verschmutzter kleiner Behälter, den ich in der Dunkelheit zunächst für eine Wunderlampe hielt. Verdammt!

Ich bückte mich und entfernte mit meinen Händen die Erde, die den metallenen Behälter noch in der Erde festhielt. Ich klopfte auf das kalte Metall und fragte mich, was sich wohl darin befinden würde. Eilig öffnete ich den Verschluß und sah hinein. Ich konnte nichts erkennen. Vielleicht lag es an der Dunkelheit, daß ich durch die kleine Öffnung nichts erkennen konnte. Vielleicht lag es aber auch daran, daß der Behälter leer war. Enttäuscht und fluchend schleuderte ich den Behälter aus dem Loch. Meine Suche mußte weitergehen. Ich würde mein Glück in einem anderen Abschnitt des Lazaretts versuchen.

 

25

Es war kurz vor acht, als wir uns von Norbert verabschiedeten. Mein Onkel begleitete uns zur Tür und verabschiedete sich von uns mit einem Händedruck. Als er Tobias die Hand reichte, verharrte er einen Augenblick und sah ihn durchdringend an. "Bis zum nächsten Horror", sagte er, bevor er seine Hand wieder losließ und seine Mundwinkel hoben sich zu einem Grinsen.

Tobias lächelte gequält und steckte den Videofilm in seine Jackentasche.

Das erste Stück des Weges legten wir schweigend zurück. Ich hatte das Gefühl, Tobias sah sich in seiner Theorie bestätigt, doch das fehlende Puzzlestück hatte er nicht entdeckt. Entweder war der Film "DER KETTENSÄGENMÖRDER" tatsächlich nicht in der Monsterschublade gewesen oder die Zeit hatte nicht gereicht, ihn zu entdecken. Tobias schien resigniert und ging mit gesenktem Haupt die Straße entlang. Es war inzwischen dunkel geworden und in den Nebenstraßen, durch die uns unserer Weg führte gab es keine Straßenbeleuchtung.

"Der Film war nicht schlecht. Bringst Du ihn heute noch zur Videothek zurück?" fragte Dennis Tobias und versuchte damit die Spannung zu brechen.

Tobias hob den Kopf. "Was hast Du gesagt?" fragte er, und Dennis wiederholte seine Frage.

"Nein, ich habe sowieso bis morgen bezahlt", antwortete Tobias und der finstere Ausdruck wich aus seinem Gesicht. "Vielleicht schaue ich mir den Film nachher noch einmal an. Der war wirklich gut, auch wenn Euer Onkel das nicht ganz einsehen wollte."

Ich nickte und dachte an die Szene zurück, in der der Killer die Frau verfolgte und tötete. Instinktiv blickte ich über die Schulter nach hinten und erschrak. In der Entfernung sah ich die Umrisse einer dunklen Gestalt, die mir zu folgen schien.

Ich muß wohl sichtbar zusammengezuckt sein, denn augenblicklich brachen Tobias und Dennis in Gelächter aus.

"Verfolgungswahn?" fragte Dennis spöttisch, und Tobias ergänzte:

"Ich dachte, Du hättest stärkere Nerven als meine kleine Schwester."

Ich sah die beiden mißbilligend an und warf dann einen weiteren Blick nach hinten. Die Gestalt war verschwunden.

Ich knabberte immer noch daran, daß ich mich lächerlich gemacht hatte, als wir an einem Kiosk vorbeigingen und Dennis plötzlich "Wartet!" rief.

Abrupt blieb ich stehen und sah zu wie Dennis auf den Kiosk zuging. Ich erschrak, als ich hinter uns an einer Straßenecke wieder eine dunkle Gestalt zu sehen glaubte, doch noch im selben Augenblick war sie wieder verschwunden.

Ich sah zum Kiosk und erkannte, was Dennis entdeckt hatte. Von innen an die Scheibe gepreßt stand dort die Abendausgabe des Lokalreports, die unregelmäßig erschien. Deutlich konnte ich die Schlagzeile auf der Titelseite lesen.

GRABSCHÄNDER SCHLÄGT WIEDER ZU

Drei Gräber auf dem Südfriedhof geplündert

Ohne ein Wort zog Dennis sein Portemonnaie aus der Tasche und kaufte die Zeitung. Sofort hatten wir uns zu ihm gesellt und überflogen den Artikel.

In der vergangenen Nacht wurden auf dem Südfriedhof drei Gräber geplündert. Der Friedhofswärter fand am heutigen Morgen zwei der drei Gräber ausgehoben mit dem geöffneten Sarg darin vor. Von den Leichen fehlt jede Spur.

Alles deutet auf eine Verbindung mit den Fällen von Grabschändung auf dem Zentralfriedhof hin, für die der wegen Mordes gesuchte Robert Dittmann verantwortlich gemacht wird. Rätsel wirft jedoch ein ausgehobenes Urnengrab in der Westhälfte des Friedhofs auf. SEITE 3

Dennis schlug die betreffende Seite auf. Hier fand sich ein Foto eines leeren Grabes sowie ein wenig aussagekräftiges Interview mit dem Friedhofswärter. Auch die Mordfälle, für die Dittmann verantwortlich gemacht wurde, wurden hier noch einmal aufgerollt.

Nachdenklich faltete Dennis die Zeitung zusammen, und wir setzten unseren Weg fort. Eifrig diskutierten wir über die Vorkommnisse. War erneut Dittmann der Täter? Wo war er untergeschlüpft? Was hatte er in der Zwischenzeit gemacht?

All diese Fragen beschäftigten mich, doch Tobias schien über etwas anderes nachzugrübeln, denn er hielt sich ungewöhnlich zurück, als Dennis und ich abenteuerliche Theorien und Vermutungen austauschten.

Kurz darauf hatten wir das Haus erreicht, in dem Tobias wohnte. Es war ein großes Altbaureihenhaus in einer ruhigen Nebenstraße. Der Vorgarten war mit einer dichten Hecke von den Straße abgetrennt, hinter der sich mehrere dichte Sträucher und Bäume anschlossen, die selbst das Küchenfenster im Erdgeschoß halb verdeckten.

Tobias schritt den Weg auf die Haustür zu, und wir wollten uns verabschieden, als Tobias sich umsah und uns zu sich winkte.

"Kommt mal eben mit rein. Ich hab euch was zu erzählen", sagte er und kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche.

Nacheinander traten wir in den Flur ein. Tobias schloß die Tür hinter uns.

"Laßt uns in die Küche gehen!" sagte er und führte uns dorthin. Wir setzten uns an den Tisch am Fenster und warteten gespannt auf das, was Tobias uns zu erzählen hatte.

"Ich habe die ganze Zeit nachgedacht", begann er langsam. Ich bemerkte, wie er mich durchdringend ansah. "Ich weiß, daß Du meiner Theorie keinen Glauben schenkst. Ich weiß, daß Du mich am liebsten erschlagen hättest, als ich die Monsterschublade Deines Onkels durchsucht habe."

Er hielt einen Moment inne und grinste triumphierend.

"Aber ich werde meine Theorie beweisen. Morgen werde ich zum Südfriedhof gehen und Dittmann suchen. Und wenn ich ihn gefunden habe, werde ich mit ihm sprechen. Ich werde ihn fragen, ob er der Kettensägenmörder ist."

Dennis und ich sahen Tobias ungläubig an.

"Du bist wahnsinnig", sagte Dennis.

"Weißt Du überhaupt, was Du tust?" fragte ich energisch. "Bete lieber, daß Du ihn nicht findest - sonst bringt er Dich um."

"Nicht mich", verbesserte mich Tobias, "sondern uns. Ihr werdet beide mit mir kommen."

Ich war sprachlos. Das konnte unmöglich sein ernst sein.

Tobias wartete keine Antwort ab.

"Wir treffen uns hier", sagte er. "Morgen abend um halb neun."

Ich wollte protestieren, doch zuvor warf ich Dennis einen Blick zu. Er sah mich fragend an und ich las in seinen Augen, daß Tobias hirnverbrannter Vorschlag sein Interesse geweckt hatte. Ich nickte und Dennis verstand.

"Wir werden da sein", sagte er und erhob sich vom Tisch.

Ich blieb noch einen Augenblick sitzen und grübelte. Worauf hatte ich mich da eingelassen?

Dennis mußte niesen und riß mich damit aus meinen Gedanken. Tobias lachte. "Ich hätte wohl doch besser das Fenster zu machen sollen. Hier zieht's immer so", sagte er und zeigte uns den Weg nach draußen.

 

26

Eine graue Wolkenbank schob sich vor die untergehende Sonne, so daß es draußen noch dunkler wurde. Die Laternen waren schon angeschaltet und ich blickte durch mein Zimmerfenster in ihr künstliches Licht.

"Es wird bald anfangen zu regnen", dachte ich und wußte dabei immer noch nicht welcher Wirrgeist in mir mich dazu gebracht hatte Tobias Plan zuzustimmen.

Es grenzte an Wahnsinn abends zu einem Friedhof zu pilgern, um sich mit einem Mörder zu unterhalten. Doch wahrscheinlich würden wir ihn sowieso nicht finden. Und dies wäre wohl auch besser so. Trotzdem hatte ich ein sehr ungutes Gefühl bei der Sache. Ich schaute unruhig auf meine Armbanduhr, die acht Uhr anzeigte. Dennis und ich würden uns bald auf den Weg machen; auf den Weg, von dem ich nicht wußte, ob er der richtige war.

"Südfriedhof", ertönte die heisere Stimme des Busfahrers und Dennis, Tobias und ich, die einzigen Fahrgäste, erhoben uns von unseren Plätzen und machten uns zum Aussteigen bereit. Hustend öffnete der Busfahrer die Tür. "Schönen Abend noch", sagte er und musterte uns schmunzelnd. Er war schon älter und nur wenige weiße Haare tauchten unter seiner grauen Busfahrermütze hervor. Ich warf ihm einen kurzen argwöhnischen Blick zu, als er hinzufügte "Endstation Südfriedhof". Wir verließen den Bus, der Alte schloß die Tür und fuhr ab. Dieses Arschloch glaubte wirklich, uns Angst machen zu müssen.

"Und wohin jetzt ?", fragte Dennis und sah dabei Tobias an. "Wo sollen wir ihn suchen ?"

"Ich bin davon überzeugt, daß er sich in der unmittelbaren Umgebung des Friedhofs versteckt. Vielleicht sogar irgendwo am Friedhof selbst", vermutete Tobias. Er sah Dennis und mich an und riß dabei die Augen weit auf. "Also auf über das Friedhofstor."

Der kleine Weg entlang der Mauer wurde von mehreren Laternen, die im Abstand von ca. zwanzig Metern voneinander angebracht waren, erhellt, und auch das Tor war von einer Lampe direkt darüber sehr gut beleuchtet, so daß man die rostig braunen Gitterstangen gut erkennen konnte.

"Wäre es nicht unauffälliger, wenn wir an einer anderen Stelle...", begann ich gerade, wurde jedoch sofort von Dennis unterbrochen. "Quatsch ! Hier ist keine Menschenseele weit und breit. Mach dir mal nicht sofort ins Hemd !"

Ich sah mich noch einmal um und mußte meinen Bruder dann zustimmen, daß mein Einwand töricht gewesen ist. Auf der anderen Straßenseite begann ein kleines Waldstück und erst am Ende der Straße, etwa 100 Meter vom Friedhofstor entfernt befand sich ein Wohnhaus. Wir konnten uns also wirklich ziemlich sicher sein, daß wir unbeobachtet über das Gittertor klettern könnten.

Es kostete uns keine große Anstrengung, das Tor hinter uns zu lassen, doch meine Nervosität stieg jetzt erst recht. Der Friedhof selbst war nur noch sehr schlecht beleuchtet. Nur an einigen Stellen, die sehr weit voneinander entfernt lagen, befand sich wirklich einmal eine Lichtquelle. Wir folgten den Umrissen eines schmalen Pfades, den man gerade noch in der Finsternis erkennen konnte. Um uns herum war es totenstill. Das einzige, was wir hörten, waren unsere Schritte, unser Atem und ab und zu den Schrei einer Eule, der jedesmal ein Kribbeln in meinem Bauch verursachte. Dennis und ich folgten Tobias wortlos. Er schien wirklich selbst nicht zu wissen, wo er suchen soll. Der Gedanke daran, daß er nun vielleicht erkannte, wie schwachsinnig seine Idee doch gewesen ist, befriedigte mich ein wenig. Wir gingen gerade an einer Grabreihe vorbei, als Dennis begann, ein wenig ungeduldig zu werden. "Du weißt, wo du suchen willst ?" fragte er Tobias sarkastisch.

Tobias antwortete nicht, sondern ging stumm weiter. Er schien sich anscheinend doch sicher zu sein, Dittmann zu finden. Nach weiteren fünf Minuten Marsch über den dunklen Friedhof wurde es Dennis dann schließlich zu bunt. "Du glaubst doch nicht wirklich, daß der hier irgendwo in einem Sarg wohnt oder sich hier eine Hütte gebaut hat. Die einzigen Menschen, die auf einem Friedhof wohnen sind tot."

Tobias schaute uns enttäuscht an.

"Wenn ihr keine Lust mehr habt, die Wahrheit zu erfahren, dann geht doch wieder nach Hause !" Seine eigene Enttäuschung wandelte sich nun in Wut. "Ich werde ihn auch ohne eure Hilfe finden !" Dennis wandte seinen Blick von Tobias auf mich und zuckte mit den Schultern. "Ich für meinen Teil werde jetzt von hier verschwinden. Tobias wird den Dittmann ja schon finden und wenn er das Treffen überleben sollte, kann er uns ja die Wahrheit erzählen. Sollte er das Treffen jedoch nicht überleben, und seine verweste Leiche wird dann eines Tages gefunden, kennen wir dann trotzdem die Wahrheit." Dennis drehte sich ruhig um und bewegte sich langsam in Richtung Friedhofstor. Ich wußte zunächst nicht was ich tun sollte. Einerseits mußte ich Dennis zustimmen. Ich war von Anfang an dagegen hierher zu kommen und es war schwachsinnig auf dem Friedhof nach Dittmann zu suchen, ja es war schwachsinnig ihn überhaupt zu suchen. Doch andererseits empfand ich ein gewisses Verantwortungsgefühl gegenüber Tobias. Was wäre wenn er tatsächlich auf Dittmann treffen würde und dieser ihn ermorden würde, wie er es mit all den anderen getan hat. Ich würde mir nie verzeihen können, Tobias alleine auf dem Friedhof gelassen zu haben.

Dennis hatte sich schon einige Meter von Tobias und mir entfernt und Tobias machte es mir nun noch schwieriger eine Entscheidung zu treffen. Er setzte sich in die Gegenrichtung in Bewegung. Doch schließlich siegte doch mein Verstand und ich vertraute darauf, daß Tobias Dittmann nie finden würde. Ich blickte ihm noch kurz nach, sah ihn in der Dunkelheit verschwinden und joggte dann Dennis hinterher.

Ich holte Dennis ein und wortlos gingen wir nebeneinander her. Wir wußten beide, daß unsere Entscheidung richtig gewesen war. Ich empfand dabei eine gewisse Befriedigung, weil ich von Anfang an gegen Tobias Plan gewesen war und mich nur von ihm und Dennis dazu überreden lassen hatte mitzukommen. Nun hatte Dennis endlich eingesehen wie stumpfsinnig Tobias Idee gewesen war. Hätte er doch nur gleich auf mich gehört. Wir hatten das verrostete Gittertor gerade erreicht und wollten dazu ansetzen, drüber zu steigen, als ein hektischer Schrei die Stille unterbrach und mich aus meinen Gedanken riß.

"Wartet !"

Ich wandte meinen Kopf nach rückwärts und sah Tobias aus der Dunkelheit erscheinend auf uns zulaufen. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, daß er nun auch vernünftig geworden war, dreht mich jedoch wieder um und wollte mich daran machen, über das Tor zu klettern.

"Nun wartet doch !" Tobias hatte das Tor erreicht und war völlig aus der Puste. Er stützte sich mit den Händen auf seine Knie und schnappte hastig nach Luft. Ich hielt noch einen Moment inne. "Hast wohl Angst bekommen !" sagte Dennis, auf dessen Gesicht ein breites Grinsen erschien und der eine Stange des rostigen Gittertors bereits ergriffen hatte. Doch Tobias schüttelte den Kopf und einen Moment später mußte ich feststellen, daß Dennis und ich uns geirrt hatten. Tobias war nicht hinter uns hergelaufen, um mit uns den Friedhof zu verlassen.

"Ihr dürft noch nicht gehen !" sagte er nun leise noch immer nach Luft schnappend.

"Ich habe etwas gesehen, das ich euch unbedingt zeigen muß."

Ich fühlte mich nun völlig irritiert. Ich wußte nicht ob es nur einer von Tobias Tricks war oder ob er tatsächlich etwas gesehen hatte. Doch ich muß zugeben, daß er mein Interesse wieder geweckt hatte.

"Und was hast du gesehen ?" fragte Dennis, der noch immer das Gitter fest umklammerte.

"Dittmanns Versteck !" schoß Tobias triumphierend heraus. Dennis und ich schauten uns ungläubig mit großen Augen an und blickten dann wieder fragend auf Tobias.

"Kommt mit. Ich zeig es euch !" Tobias wollte sich gerade umdrehen und losgehen als Dennis ihn dazu brachte stehen zu bleiben. "Warte ! Ich geh nirgendwo hin, wenn du nicht ein wenig genauer wirst."

"Schon gut, schon gut. Ich werde euch genau erzählen, was ich gesehen habe."

 

27

Was war das ? Zu so später Stunde noch Besuch ? Ich spähte durch die Fensteröffnung und versuchte einen genaueren Blick der Gestalt zu erhaschen, die um das Haus schlich. Doch es war zu dunkel und diese Gestalt tauchte immer nur kurz zwischen den Büschen und Sträuchern hervor. Ich war mir fast sicher, daß es sich um den Feind handelte. Ich war noch nicht lange hier in meinem neuen Quartier und schon hatte der Feind mich wieder ausfindig gemacht. Sein Spionagenetz mußte wirklich hervorragend organisiert sein. Ich würde wohl wieder fliehen müssen. Doch wohin sollte ich gehen ? Bisher hatte ich viel Glück gehabt und immer schnell ein neues Hauptquartier gefunden. Doch wie lange würde dieses Glück noch anhalten ? Außerdem gab es noch ein weiteres Problem. Wie sollte ich meine noch verwundeten neuen Kameraden mitnehmen. Sie sahen noch sehr mitgenommen aus und ich konnte ihnen unmöglich eine solche Anstrengung zumuten. Huber Sepp würde es vielleicht schaffen. Er war im Gegensatz zu Frank Adler noch einigermaßen beisammen, doch würde es für ihn auch sehr schwierig werden, wenn nicht sogar zu schwierig. Doch ich konnte meine neuen Kameraden nicht den Feind überlassen. Wenn ich mich nur einige Zeit um sie kümmern könnte, würde es ihnen sicherlich schnell besser gehen. Sie waren wichtige Verbündete gegen den übermächtigen Feind. Während ich mir Gedanken machte, hatte ich die Gestalt, die um den Stützpunkt schlich aus den Augen verloren. War er fort ? Oder befand er sich vielleicht sogar bereits im Haus ? Holte er Verstärkung ? Oder hatte er nichts auffälliges gesehen ? Oder hatte ich mich vielleicht doch geirrt und es handelte sich gar nicht um den Feind ?

All meine Spekulationen halfen nichts. Ich mußte vorbereitet sein. Ich nahm den Spaten, den ich an die Wand gelehnt hatte und schlich mich dann langsam zur Tür.

"Wartet hier und bewegt euch nicht von der Stelle !" flüsterte ich meinen Kameraden zu. "Ich bin sofort wieder da."

Vorsichtig griff ich nach dem Türgriff und drückte ihn langsam herunter. Ich wagte kaum zu atmen und spitzte meine Ohren. Den Spaten führte ich mit der anderen Hand – ich hatte noch zwei – weit hinter meinem Körper zurück. Ich öffnete die Tür einen Spalt und blickte in die Schwärze der Nacht. Im Gegensatz zum Zimmer waren der Flur und das Treppenhaus nicht vom Mondlicht erhellt. Ich suchte vergeblich nach dem Licht einer Taschenlampe. Anschließend bewegte ich mich vorsichtig aus dem Zimmer und schloß die Tür leise hinter mir. Ich befand mich nun in vollkommener Dunkelheit und mußte mich nun wie häufig nur auf meinen Instinkt verlassen. Langsam tastete ich mich vorwärts. Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich sehr beunruhigte. Ich meinte mich daran erinnern zu können, daß ich irgendwo und irgendwie davon gehört hatte, daß es nun Geräte gab mit denen man im Dunkeln sehen konnte. Was wäre wenn der Feind diese besäße? Vielleicht stände er bereits neben mir ? Vielleicht vor mir ? Ich griff den Spaten nun feste mit beiden Händen und bemerkte wie kalter Angstschweiß mein Gesicht herunter lief. Ich begann wild mit dem Spaten um mich zu schlagen – in der Hoffnung dem Feind böse Verluste zuzufügen. Ich würde mich und meine Kameraden niemals kampflos aufgeben.

28

Tobias führte uns zu dem Gebäude, von dem er uns erzählt hatte. Hier vermutete er den Zombie. Was wir in der Dunkelheit von dem Gebäude erkennen konnten, verriet uns, daß es wohl schon seit längerer Zeit unbewohnt sein mußte.

Das Haus sah zerfallen aus. Die wenigen Fensterscheiben, die noch vorhanden waren, waren zerbrochen; meist sah man jedoch nur noch die leeren Fensterrahmen. Deren vermutlich weiße Farbe – in der Dunkelheit konnte man nur erkennen, daß es sich um einen hellen Farbton handelte - war größtenteils abgebröckelt.

Langsam näherten wir uns dem etwa hüfthohen Gartententor, das zur Hälfte offen stand. Dahinter führte ein schmaler Weg durch den kniehoch von Unkraut überwucherten Garten. Ich schloß, daß sich während der letzten Jahre höchstens einmal Penner und Landstreicher in dem Gebäude aufgehalten hatten.

Doch all dies änderte nichts an der Möglichkeit, daß Dittmann sich jetzt hier aufhalten könnte. Nein, das alles machte es nur noch wahrscheinlicher.

Ich vermutete, daß vor geraumer Zeit der Friedhofswärter dieses Haus bewohnt hatte und daß es seit seinem Auszug leer stand – zumindest offiziell.

Tobias deutete auf ein Fenster, daß von einem großen Gestrüppbusch fast vollständig verdeckt war. Nahezu lautlos pirschten wir uns langsam voran durch das kniehohe Gras. Tobias ging voraus, Dennis und ich folgten ihm.

"Wer will zuerst hinein?" flüsterte Tobias, als wir das Fenster erreichten. Wir schauten uns kurz gegenseitig an, als Dennis auch schon zu einem Sprung ansetzte, sich mit beiden Händen von der Fensterbank abdrückte und sich über diese hinein in das Haus schwang.

"Paßt ja auf die Scherben auf! Es genügt wenn einer sich schneidet", flüsterte Dennis vom Innern des Hauses und sah dabei auf seine rechte Hand.

"Scheiße!" zischte er. "Hat jemand von euch ein Taschentuch dabei? Der Schnitt scheint ziemlich tief zu sein."

Ich schüttelte meinen Kopf und auch Tobias zuckte nur mit den Schultern. Ich wollte meinem Bruder gerade einen Vorschlag machen, doch ein heftiges Gepolter aus dem Inneren des Hauses ließ mich innehalten.

"Dennis!", flüsterte ich aufgeregt. Ich konnte ihn nicht sehen; er hatte sich wohl einige Schritte vom Fenster weg bewegt. Einen Augenblick später vernahm ich erneut das Poltern aus dem Haus und kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse.

Ich hörte Tobias neben mir leise fluchen. Offensichtlich bekam er es mit der Angst zu tun. Ich selbst war völlig erstarrt und konnte nur aus den Augenwinkeln erkennen, wie Tobias hastig in den Büschen verschwand.

Er war es gewesen, der unsere Angst und unseren Zweifel mit seinen mutig klingenden Reden hinweggefegt hatte. Er war es, der uns hierher geführt hatte, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Und nun war er es, der als erster die Nerven verlor und die Flucht ergriff.

Mein Instinkt riet mir, ihm zu folgen, und ich wäre auch sofort davongelaufen, wenn ich nicht vom Schrecken wie gelähmt gewesen wäre. Dittmann befand sich in diesem Haus – daran gab es für mich keinen Zweifel mehr. Ich befand mich in unmittelbarer Nähe dieses Monstrums, dieses gefühllosen Zombies, der mehrere Menschen kaltblütig niedergemetzelt hatte. Hatte er uns gehört? Kam er näher?

Ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen war, bis ich einigermaßen meine Fassung wiedergewonnen hatte. Als ich durch das Fenster ins Haus hinein sah, konnte ich meinen Bruder nicht ausmachen. Ich vermutete, daß er sich versteckt hatte. Während ich so regungslos dastand und überlegte, was ich tun sollte, spürte ich die ersten feinen Regentropfen auf meinem Gesicht und der Regen wurde langsam stärker.

Sollte ich es Tobias gleichtun und davon rennen? Sollte ich Dennis im Stich lassen? Oder sollte ich die Höhle des Löwen betreten? Vielleicht irrte ich mich sogar ,und das Gepolter hatte nur eine einsamer Obdachloser verursacht, der die Nacht hier verbringen wollte.

In meinen Gedanken sah ich Bilder von unschuldigen Opfern, die in diesem Gebäude hilflos auf ihre Hinrichtung warteten. Dittmann würde näherkommen, begleitet von dem ständigen POCK und dem Knarren der Bodenbrettern, das seinen Opfern ihren baldigen Tod ankündigte.

Ich versuchte diese Gedanken beiseite zu wischen und atmete tief durch. Der Regen war stärker geworden und ich wollte durch das Fenster hinein klettern, doch ich konnte nicht. Meine Angst war stärker als mein Verstand. Meine Beine automatisierten sich und begannen zu rennen. Ich verschwendete keine weiteren Gedanken mehr, sondern rannte, wohin meine Beine mich trugen, meinen Bruder zurücklassend im Unterschlupf eines Menschenmetzgers.

Es regnete nun in Strömen und in der Ferne begann es zu donnern. Ich lief immer noch, ohne zu wissen wohin. Als es erneut donnerte, wurde mir schlagartig bewußt, wie töricht es gewesen war, so in Panik auszubrechen. Schließlich hatte ich nichts außer ein wenig Gepolter gehört. Mir wurde klar, daß eigentlich nicht das Gepolter, sondern vielmehr Tobias Verhalten, diese panische Reaktion ausgelöst hatte. Wäre er doch nur ruhig geblieben; ich bezweifelte, daß es dann zu dieser Situation gekommen wäre.

Ich bemerkte, daß ich wieder Herr über meine Beine war und befahl ihnen zu stoppen. Meine Angst hatte ich unter Kontrolle bekommen, und so entschloß ich mich, zum alten Haus zurückzukehren, um Dennis zu suchen.

Es dauerte eine Weile, bis ich die Orientierung wiedergefunden hatte. Im leichten Laufschritt eilte ich durch den strömenden Regen, und nach kurzer Zeit erreichte ich das Haus von der Rückseite her. Hier war das Gestrüpp noch höher. Ich hielt einen Moment inne und lauschte in die Stille hinein. Bis auf das Plätschern des Regens war es vollkommen still. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch den Dschungel bis zur Hauswand.

Leicht gebückt bewegte ich mich zu einem der zerschmetterten Fenster. Daneben richtete ich mich mit dem Rücken zur Hauswand auf und warf dann einen vorsichtigen Blick ins Innere des Hauses.

Der Raum mußte wohl einmal die Küche gewesen sein. An der linken Wand befand sich ein zerbeulter rostbrauner Kühlschrank. Ein dreibeiniger Stuhl lag umgeworfen in der Mitte des Raumes. Direkt gegenüber des Fensters führte eine Tür aus dem Raum hinaus.

Schnell aber leise kletterte ich ins Trockene. Nun konnte ich erkennen, daß sich direkt vor mir auf dem Fußboden jede Menge Glasscherben befanden. Ich überlegte, ob ich einen Blick in den Kühlschrank werfen sollte, ließ es aber bleiben und setzte mich in Richtung Tür in Bewegung. Bei meinem ersten Schritt knarrte der Boden unter meinen Füßen. Ich blieb abrupt stehen und hielt einen Moment inne. Ich spitzte meine Ohren, vernahm jedoch nichts. Einen Augenblick dachte ich darüber nach, meine Schuhe auszuziehen, um mich lautlos fortzubewegen, doch in Anbetracht der herumliegenden Glasscherben behielt ich sie lieber an. Bei meinen nächsten Schritten stellte ich erleichtert fest, daß es nicht mehr knarrte.

Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und spähte in einen Flur. Mein Blick glitt langsam den Fußboden entlang. Zunächst konnte ich in der Dunkelheit überhaupt nichts erkennen. Nur das Mondlicht, daß das Zimmer, in dem ich mich befand ein wenig erhellte, ermöglichte mir, etwas zu sehen, nach dem ich die Tür etwas weiter geöffnet hatte. Erneut ließ ich meinen Blick über den Boden schweifen. Ich erkannte allerlei Gerümpel. Leere Pappkartons, einen Besenstiel, eine kaputte Gießkanne und anderen Müll. Den Besenstiel konnte man vielleicht noch gebrauchen. Ich öffnete die Tür nun ganz und schritt vorsichtig in den Flur. Ich drehte mich nach links und erblickte die Eingangstür, eine weitere Tür, sowie eine schmale Betontreppe, die nach oben führte. Ich sah hinauf, konnte jedoch nichts erkennen. Oben war es stockfinster. Ich bückte mich schnell und nahm den Besenstiel an mich, der mir ein wenig mehr Sicherheit verlieh. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich nicht einfach nach Dennis rufen sollte. Doch dazu war meine Unsicherheit zu groß. Wenn der Zombie das hören würde, könnte er aus der Dunkelheit hinter mir auftauchen und mir den Schädel spalten. Mit kleinen leisen Schritten pirschte ich mich zu der anderen Tür voran, die in den Raum führen mußte, in den Dennis eingestiegen war. Ich griff nach der Türklinke und meine Finger umschlossen diese. Doch was war das? Erschrocken zog ich meine Hand zurück. Ich hatte in eine dunkle, zähflüssige Substanz gegriffen, die an der Klinke klebte. "BLUT!" schoß es mir durch den Kopf. Was sollte es anderes sein? Zitternd ging ich einige Schritte zurück in die Küche und sah mir meine Hand im Mondschein etwas genauer an. Nun bestand kein Zweifel mehr. Es war tatsächlich Blut. Den Besenstiel hielt ich fest umklammert, als ich mich erneut zur blutbeschmierten Tür begab.

In einem Meter Abstand blieb ich stehen. Ich griff den Besenstiel noch fester. Dann drückte ich mit dem Stiel die Türklinke herunter und stieß die Tür ein Stück auf.

Ich führte den Besenstiel ein Stück zurück, um notfalls direkt zuschlagen zu können, faßte meinen Muß zusammen und versetzte der Tür einen kräftigen Tritt.

Sie flog auf und fast gleichzeitig machte ich einen hastigen Schritt in den Raum hinein, um alles überblicken zu können. Ich war auf alles vorbereitet. Hektisch schweifte mein Blick durch den Raum – über den mit Glasscherben übersäten Boden, das zerschlagene Fenster und...

Sonst befand sich überhaupt nichts in diesem Raum. Er was vollkommen leer.

Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich mit meinem Tritt gegen die Tür ein lautes Geräusch verursacht hatte, daß wohl im ganzen Haus vernommen werden konnte. Wäre Dennis noch hier, so hätte er es gehört. Er würde jedoch nicht wissen, wer es verursacht hatte und wahrscheinlich in seinem Versteck bleiben. Ich mußte mich zu erkennen geben. Ich mußte Dennis finden, bevor Dittmann mich fand.

Sollte ich jetzt rufen? Würde Dittmann dann kommen, um mich zu holen? Aber hatte er mich nicht sowieso schon gehört?

Ich mußte jetzt schnell handeln. Solange Dittmann sich oben im Haus befand hatte ich einen Vorsprung. Bis er es mit seinem Holzbein schaffen würde, die Treppe hinunterzusteigen, hätte ich noch genug Zeit von hier zu verschwinden.

Ich entschloß mich, Dennis zu rufen, doch mehr als ein heiseres Flüstern brachte ich nicht heraus. Ich versuchte es noch einmal und atmete tief ein, um ein wenig ruhiger zu werden. Mein Puls raste.

"Dennis, bist Du hier?" rief ich nun etwas lauter.

Nachdem ich den Ausruf hervorgebracht hatte, blieb ich ganz still und verharrte in meiner Position. Ich spitzte meine Ohren und tief in meinem Schädel konnte ich ein Geräusch vernehmen.

POCK! POCK! POCK!

War es nur Einbildung? Oder hatte ich diese unheilbringende Geräusch tatsächlich vernommen?

Krampfhaft umklammerte ich den Besenstiel. Ich hörte das Geräusch nicht mehr. Durch die Tür starrte ich die Treppe hinauf. Noch immer sah ich nur Dunkelheit. Kein Dittmann war zu sehen und immer noch keine Antwort von Dennis.

Sollte ich es wagen hinaufzugehen? Wäre Dennis noch hier, so hätte er meinen Ruf gehört und geantwortet, es sei denn...

Ich mochte gar nicht daran denken. Was war, wenn er nicht antworten konnte? Wenn er in der Gewalt des Metzgerzombies war? Ich grübelte darüber nach und mußte plötzlich feststellen, daß ich mich bereits ein paar Stufen nach oben bewegt hatte. Ich war hin und her gerissen zwischen Angst, Neugierde und der Sorge um Dennis Leben.

Langsam gewann die Neugierde die Oberhand. Ich wollte wissen, was hier tatsächlich vor sich ging. Ich bemerkte, wie meine Angst von mir wich. Mein Herz schlug wieder ruhiger. Ich hielt den Besenstiel nicht mehr so verkrampft.

Schritt für Schritt, Stufe für Stufe bewegte ich mich weiter nach oben. Ein vertrauter Geruch kroch in meine Nase. Es war ein seltsamer Gestank, der mit jedem Schritt stärker wurde.

Es bestand kein Zweifel. Es war der Übelkeit erregende Gestank Dittmanns. Er was tatsächlich hier.

Übelkeit stieg in mir auf, und in dem Maße wie die Übelkeit zunahm verschwand meine Sicherheit wieder. Mir wurde kalt. Angstschweiß stand auf meiner Stirn. Ich bemerkte wie der Besenstiel in meinen schwitzigen Händen zu rutschen begann.

Aber dennoch trugen mich meine Beine weiter die Treppe hinauf.

Oben angekommen spürte ich nur noch, wie es in meinem Magen brodelte und übergab mich.

Durch eine schmale Türöffnung drang ein wenig Licht in den Flur, und ich konnte die Umrisse zweier Türen erkennen. Ich ging zur Türöffnung und sah in den Raum hinein. Das Fenster war mit Brettern zugenagelt, doch die Freiräume zwischen den Brettern waren groß genug, um ein wenig Licht in den Raum fallen zu lassen. Der Boden war auch hier größtenteils mit leeren Pappkartons überdeckt.

Doch der Gestank in diesem Raum war ein anderer. Es roch nach Schimmel und Pisse, doch das war nicht der typische Gestank des Zombies. Er mußte sich also in einem der anderen Räume aufhalten. Und es war gut möglich, daß er Dennis... Nein! Ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Es war jedoch auch möglich, daß er ihn noch gefangen hielt. Ich mußte es herausfinden. Ich würde einfach die Luft anhalten, in das Zimmer stürzen und mit dem Besenstiel auf Dittmanns Bein eindreschen. So schwer konnte das doch nicht sein.

Mit diesen Gedanken versuchte ich, mir Mut zu machen, doch die Anspannung war zu groß, als das ich es einfach so tun konnte. Ich betete, daß Dittmann nicht da war.

Langsam bewegte ich mich zurück in den Flur hinüber zur ersten Tür. Ich überlegte kurz, ob es sinnvoller wäre, die Tür vorsichtig zu öffnen oder sie schlagartig aufzustoßen, um den Überraschungsmoment eventuell auszunutzen zu können.

Ich entschloß mich für letzteres und beeilte mich, damit der Gestank mich nicht vorher noch besiegte. Ruckartig stieß ich die Tür auf und sprang in den Raum hinein. Der Gestank wurde beißender. Hektisch wanderte mein Blick durch den Raum, in der Erwartung, den Zombie aus irgendeiner Ecke auftauchen zu sehen.

Mein Blick erstarrte, als ich in die linke hintere Ecke des Raumes sah. Ich hatte das Gefühl, mein Blut begänne zu kochen. Konnte das wahr sein? Ich hatte den Drang, mich zu übergeben, doch mein Magen war bereits leer. Angespannt überblickte ich noch mal den ganzen Raum, um mich zu vergewissern, daß dieses Tier wirklich nicht hier war.

Anschließend fixierte ich meinen Blick wieder auf das widerliche Bild in der Ecke. Zwei Leichname saßen dort, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ihre Haut war bereits verfault und teilweise gar nicht mehr vorhanden. Auf ihnen hatte sich ein Dutzend schwarzer Fliegen versammelt.

Dieser Wahnsinnige! Ich war mir sicher, daß dies die Leichen waren, die vom Friedhof gestohlen worden waren.

Ein lauter Schrei riß mich aus meinen Gedanken, und im ersten Moment war ich sogar dankbar dafür. Der Schrei kam von draußen. Eilig stürzte ich zum Fenster hinüber, um zu sehen, was los war. Der Regen peitschte immer noch und ich versuchte verzweifelt die Herkunft des Schreis auszumachen.

Es folgte ein weiterer Schrei und nun konnte ich den Absender in etwas größerer Entfernung erkennen. Tobias! Von der Statur her konnte es nur Tobias sein. Er stand mit dem Rücken an einen Baum gedrängt. Vor ihm stand eine dunkle Gestalt, deren lange schwarze Haare im Sturm hin und her wogten. Der Wahnsinnige hielt etwas in der Hand, und als er es hinter seinen Kopf zurückführte, konnte ich erkennen, daß es ein Spaten war. Ich wagte nicht zu atmen.

Tobias sank im wadenhohen Gras auf die Knie und sandte einen dritten und letzten Schrei aus, der die beiden vorangegangenen in der Lautstärke weit übertraf. Verzweiflung schwang in seiner Stimme. Der Tod stand ihm gegenüber. Ohne Gnade wuchtete der Menschenmetzger den Spaten abwärts. Die scharfe Kante spaltete Tobias Schädel. Trotz des Regens und der Dunkelheit konnte ich erkennen, wie das Blut spritzte, bevor Tobias Körper leblos ins Gras sank, hinab ins Reich der Toten.

Für einen Augenblick verlor ich vollkommen die Fassung. Ich konnte kaum atmen und verharrte starr in meiner Position. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte. Wie konnte ein Mensch nur so brutal sein? Ich blickte starr durch das Fenster und sah wie Tobias Mörder seinen Kopf in meine Richtung drehte. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen hatte. Ich hatte das Gefühl, er würde mir direkt in die Augen starren.

Aber er konnte mich nicht sehen. Es war unmöglich, jemanden in der Dunkelheit auf diese Entfernung in einem unbeleuchteten Fenster zu sehen. Selbst ich konnte von meiner Position sein Gesicht nicht erkennen, nur die nassen Haare, die in seinem Gesicht klebten.

Die Gestalt zog den Spaten aus Tobias Schädel und bewegte sich dann zielstrebig auf das Haus zu. Sofort verließ ich den Raum und eilte die Treppe hinunter. Ich rannte um mein Leben. Doch in der Dunkelheit übersah ich die letzte Stufe und stürzte. Ich landete unglücklich und ein höllischer Schmerz fuhr durch mein linkes Fußgelenk. Ich zwang mich, den Schmerz zu vergessen und stand auf. Ich wollte weiter laufen, doch bei meinem ersten Schritt mit dem linken Bein ließ mich der Schmerz erneut zu Boden stürzen. Wie sollte ich nur entkommen? Nochmals versuchte ich mich aufzuraffen und schleppte mich einige Meter weit, doch es hatte keinen Zweck. Der Schmerz war zu groß. Vermutlich war der Fuß verstaucht oder gar gebrochen. So hatte ich keine Chance, rechtzeitig aus dem Haus zu entkommen. Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, war, mich zu verstecken.

Ich kroch in eine Ecke des Flurs und vergrub mich unter den zahlreichen Pappkartons. Ich wußte, daß mein Versteck nicht gut war und die Gefahr groß war entdeckt zu werden. Aber ich hatte keine Wahl. Mir blieb die Hoffnung, daß der Zombie mich in der Dunkelheit übersehen würde

Ich hielt den Atem an, als ich ein dumpfes Geräusch an der Tür vernahm. Danach blieb es für eine Weile totenstill. Doch ich wagte immer noch nicht, mich zu bewegen. Plötzlich hörte ich einen dumpfen Schlag aus dem Zimmer, in das Dennis eingestiegen war. Anschließend war es dann soweit. Das Geräusch, das ich am meisten verabscheute, drang an mein Ohr.

POCK!

Zunächst war es noch relativ leise, doch es wurde zunehmend lauter.

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür zum Flur. Das "POCK" verstummte für einen Moment. Ich blieb still und betete. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Kartons konnte ich das letzte Stück des Flurs beobachten, welches zur Treppe führte.

Das "POCK" setzte wieder ein, diesmal noch ein wenig lauter. Gebannt beobachtete ich den Flur.

POCK, POCK, POCK!

Das Geräusch hämmerte in meinem Schädel. Für diese Augenblicke vergaß ich die Schmerzen in meinem Fuß. Ein Geruch wie von schimmeliger Mettwurst drang in meine Nase.

POCK!

Er setzte sein Holzbein unmittelbar vor dem Spalt auf, durch den ich sah. Ich hatte sein Holzbein noch nie aus der Nähe gesehen, doch genauso hatte ich es mir immer vorgestellt. Es war aus hellem Holz, auf dem sich dunkle Drecksflecken befanden und verlief kegelförmig nach oben. Seine Hose bedeckte sein Holzbein erst ab unterhalb der Kniehöhle. Viel weiter reichte mein Blickfeld auch nicht. Doch ich muß zu geben, daß ich froh war, sein Gesicht nicht sehen zu müssen. Ich hätte den Anblick seine Visage nicht ertragen.

Ohne einen weiteren Atemzug zu wagen, wartete ich darauf, daß er den nächsten Schritt machte. Es vergingen einige Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen. Hatte er etwas bemerkt? Ich atmete immer noch nicht, konnte seinen schweren Atem jedoch nur allzu gut vernehmen. Vielleicht hatte ich Glück, und er legte nur eine kurze Pause ein, weil ihn die Geschehnisse und der Einstieg durch das Fenster ermüdet hatten.

Und tatsächlich, nach einigen weiteren Sekunden setzte er sein ganzes Bein nach vorne und zog sein halbes hinterher.

POCK!

Nach einigen weiteren "POCKs" , beobachtete ich wie er die Treppe erreichte und mit einem leichten Stöhnen die erste Stufe nahm. Kurz darauf verschwand auch sein Bein aus meinem Sichtbereich.

Noch einmal schreckte ich auf. "Ich bin wieder da, Kameraden!" brummte er unverständlich mit tiefer Stimme. Anschließend hörte ich die Zimmertür von oben, und danach herrschte Stille.

Ich atmete tief durch. Er hatte mich nicht gesehen. Ich lebte noch. Doch meine Lage war immer noch schlecht. Mit einem verletzten Fuß in einem Haus mit einem kaltblütigen Mörder.

Mein Galgenhumor sagte mir, daß die Chancen jetzt ausgeglichen waren, doch ich wußte, daß dies in Wirklichkeit nicht der Fall war. Wenn ich versuchen würde, hier raus zu kommen, würde ich dabei zwangsläufig eine Menge Krach verursachen. Dann würde er mich hören und das Pochen seines Holzbeins würde kontinuierlich näherkommen, in einem Haus und einer Umgebung, die er besser kannte als ich.

Während ich so dasaß vernahm ich in der Ferne den leisen Ton von Sirenen, die zunehmend lauter wurden. Sofort kam mir die Möglichkeit in den Sinn, daß Dennis entkommen war und die Polizei verständigt hatte.

Ich wartete einen Moment und mußte feststellen, daß die Sirenen noch einmal lauter wurden und dann abrupt verstummten.

Meiner Einschätzung nach konnten die Wagen am Friedhofseingang gehalten haben. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ruhig verharrte ich in meinem Versteck und sehnte mir ein Geräusch an der Haustür herbei. Ich mußte nicht lange warten, bis ich tatsächlich ein klickendes Geräusch an der Haustür vernahm. Ich würde gerettet werden, davon war ich überzeugt. Schon bald würde die Polizei diesen Wahnsinnigen festnehmen und der Alptraum hätte ein Ende – zumindest hoffte ich das.

Ich entschloß mich jedoch, zunächst in meinem Versteck zu bleiben, bis ich die Polizeibeamten sehen konnte. Ein deutliches "Klack" drang von der Haustür an mein Ohr. Nur den Bruchteil einer Sekunde später hörte ich es oben im Haus poltern. Leise machte es "POCK, POCK, POCK".

"Das sind Deine letzten POCKs, Du Arschloch!", dachte ich mir. Mit diesem Geräusch verband ich mehr als nur das Aufschlagen seines Holzbeins auf den Boden. Mit diesem Geräusch verband ich Angst und Schrecken. Sogar Dittmanns ekligen Geruch verspürte ich jedesmal in meiner Nase, wenn ich nur dieses Geräusch vernahm. Er hatte das Klacken an der Haustür vernommen und lief jetzt nervös umher – wie ein Raubtier, das in die Enge getrieben worden war.

Doch diesmal würde er nicht entkommen.

Ich sah aus meinem Versteck, wie die Lichtkegel von Taschenlampen über den Flur huschten und dann mehrere Beamte die Treppe hinauf stürmten. Von oben hörte ich Geschrei, als ich plötzlich von einer Taschenlampe geblendet wurde. Ich hielt meine Hand schützend vor meine Augen, doch das Licht wurde noch heller, als jemand die Kartons, unter denen ich mich versteckt hatte, zur Seite schob. Als die Person die Taschenlampe ein wenig in eine andere Richtung drehte, konnte ich sein Gesicht erkennen. In diesem Augenblick war ich froh, Kommissar Lassonczyks dummes Gesicht zu sehen.

"Alles in Ordnung?" fragte er leise. "Ich bin es, Kommissar Lassonczyk. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir haben den Verrückten, und Deinem Bruder geht es auch gut."

Ich war froh, daß ich Dittmann in dieser Nacht nicht mehr ins Gesicht sehen mußte. Ein Polizeibeamter fuhr mich ins Krankenhaus, wo man sich um meinen Fuß kümmerte. Zum Glück war er nur verstaucht.

Als ich wieder zu Hause ankam, erwarteten mich Dennis und meine Eltern bereits.

Dennis erzählte mir, daß er beobachtet hatte, wie Tobias und ich davongelaufen waren und anschließend durch das Fenster wieder ausgestiegen war, um selber auch den Friedhof zu verlassen. Die Polizei hatte jedoch nicht er verständigt, sondern ein Obdachloser, der Dittmann wohl erkannt hatte, als er im alten Haus des Friedhofswärters auf ihn getroffen war.

"Seltsam", dachte ich, und dann mußte ich an Tobias denken. Das Bild seiner Hinrichtung sah ich vor mir. Ich schluckte nur und sagte nichts. Noch eine Weile saßen wir am Tisch und schwiegen uns gegenseitig an.

Dennis erhob sich als erster und ging zu Bett. Wenige Minuten später stand auch ich vom Tisch auf und humpelte in mein Zimmer. Ich war todmüde, doch ich machte kaum ein Auge zu. Zu nah war die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse und der pochende Schmerz in meinem Fuß erinnerte mich immer wieder daran.

 

 

29

Gegen morgen war ich doch noch eingeschlafen und es war bereits Mittag, als ich aufwachte. Dennis schien ebenfalls noch nicht lange auf den Beinen gewesen zu sein, denn als ich die Küche betrat, räumte er gerade erst den Frühstückstisch ab. Ich verspürte keinen Hunger, und umso mehr erstaunte mich wieder einmal die Tatsache, daß meinem Bruder offensichtlich nichts den Appetit verderben konnte. Ich trank nur eine Tasse Tee, während Dennis zum Telefon griff.

Fragend sah ich ihn an.

"Ich werde Norbert anrufen", kommentierte er. "Schließlich weiß er noch nicht, was geschehen ist."

Ich verstand nicht, daß Dennis jetzt über die Geschehnisse sprechen wollte, die ich gerade versuchte zu verdrängen. Aber schließlich hatte er nicht mit ansehen müssen, was ich gesehen hatte. Und sicherlich wäre es auf die eine oder andere Art befreiend, darüber zu reden.

Leise und undeutlich konnte ich Norberts mürrische Stimme vernehmen.

"Ja?" meldete er sich. Es war sein freier Tag und ich wußte nur zu gut, daß er dann gewöhnlich bis mittags schlief. Und er haßte es geweckt zu werden.

"Hallo, Norbert! Ich bin’s, Dennis", sprach mein Bruder. "Sorry, falls ich Dich geweckt habe, aber es ist wichtig. Ich denke, Du solltest wissen, was letzte Nacht geschehen ist."

Dennis stockte. Auch am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.

Mein Bruder schluckte und fuhr fort.

"Dittmann hat Tobias ermordet", sagte er und rang dabei um Fassung. "Heute Nacht auf dem Südfriedhof. Tim hat alles mit angesehen. Er..."

Dennis stockte erneut.

"Aber es ist vorbei. Er ist kurz darauf festgenommen worden."

Ich stand jetzt neben Dennis, doch alles, was ich von Norbert vernehmen konnte, war ein nachdenkliches "Hmm".

"Tim hat es beobachtet?" fragte er nach einer Weile.

"Ja", bestätigte Dennis.

"Ihr müßt mir alles berichten", sagte Norbert in ruhigem Ton.

Als wir nur schwiegen, erhob er erneut die Stimme.

"Ich weiß, daß es für euch schwer sein muß, darüber zu reden. Aber glaubt mir, es wird euch gut tun."

Dann fügte er hinzu: "Und schließlich ist endlich das letzte Kapitel über den Zombie geschrieben. Sein Holzbein vermodert jetzt in einer Gefängniszelle."

Ich hörte wie Norbert leise lachte, doch Dennis und ich schwiegen nur.

Dennis hatte sich den Familienwagen ausgeliehen und parkte direkt vor Norberts Haustür. Mit meinem verletzten Fuß wäre es für mich unmöglich gewesen die Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Es hatte Dennis ein gutes Stück Überzeugungsarbeit gekostet, mich zu überreden mitzukommen, doch ich hatte seinem Drängen schließlich nachgegeben.

Mühsam quälte ich mich bis zu Norberts Wohnungstür. Ich blieb einen Augenblick stehen und sah auf die gegenüberliegende Tür. Hier hatte der Zombie gehaust, hier hatte er seine grauenhaften Morde vollbracht.

Norbert öffnete die Tür und riß mich damit aus meinen Gedanken.

"Kommt rein!" sagte er. Er trug ein weißes T-Shirt, das weit über seine Shorts hinab hing und seine langen Haare sahen so zerzaust aus, als wäre er gerade erst aufgestanden.

"Wollt Ihr auch einen Kaffee?" fragte er und ging in die Küche.

"Klar", antwortete Dennis.

Indes humpelte ich ohne zu antworten durch den Hausflur bis in Norberts Fernsehzimmer. Norbert wußte ohnehin, daß ich keinen Kaffee trank.

Die Tür zum Zimmer stand halb offen, und als ich sie öffnete sah ich durch einen dichten Rauchvorhang Norberts Fernsehsessel an seinem angestammten Platz. Auf dem kleinen Tisch davor stand ein Aschenbecher, in dem sich zahlreiche ausgedrückte Kippen befanden. Die Rolladen waren heruntergelassen und im Fernseher lief Werbung. Ich bemerkte, daß der Videorecorder angehalten war. Offensichtlich hatte Norbert sich gerade einen Film aus seiner Sammlung angesehen.

Ich öffnete das Fenster eine Spalt weit und ließ mich auf der Couch nieder. Wenig später betrat Dennis gefolgt von Norbert den Raum.

"Das muß ja eine aufregende Nacht gewesen sein", sagte Norbert, nachdem er sich in seinem Sessel niedergelassen hatte.

"Auf diese Art von Aufregung kann ich verzichten", sagte ich. "Zum Glück ist es jetzt vorbei."

Mein Onkel nippte an seinem Kaffee und zündete sich dann eine Zigarette an.

"Dennis hat gesagt, Du hättest gesehen wie der Zombie Tobias..."

Als er in mein Gesicht sah, stoppte Norbert.

"Sieh es doch mal so", sagte er dann, "du hast den Horror selbst erlebt. Das ist besser als jeder Film."

Über sein Gesicht huschte ein Lächeln, dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst.

"Entschuldigung", begann er. "Über so etwas macht man keine Witze."

Bei seinem Kommentar hätte ich explodieren können, aber immerhin hatte er sich sogleich entschuldigt. Ich überlegte, was ich sagen könnte, um das Thema zu wechseln, und da mir nichts besseres einfiel, fragte ich, welchen Film er sich gerade angesehen hatte.

Norbert sagte nichts, sondern griff nach der Fernbedienung und drückte die PLAY-Taste.

Ich hörte das Heulen und Summen einer Kettensäge und sah, wie sich eine vermummte Gestalt in der Dunkelheit, auf sein wehrloses Opfer zu bewegte. Während schrille Schreie einsetzten, kommentierte Norbert:

"Der Kettensägenmörder. Ich war gestern Abend noch in der Videothek."

Vorwurfsvoll sah ich Norbert an. Es dauerte eine Weile, bis er verstand.

"O.K., ich verstehe", sagte er und stoppte den Film.

"Willst Du mir nicht erzählen, wie gestern alles geschehen ist?" fragte er.

Als ich nicht antwortete begann Dennis zu berichten. Norbert lauschte gebannt. Ich war erstaunt mit welcher Ruhe Dennis von den Ereignissen berichtete.

Dennis stoppte, als er an der Stelle angekommen war, wo Tobias und ich davongelaufen waren. "Jetzt bist Du dran", sagte er und sah mich an.

Norberts Augen glänzten erwartungsvoll.

Nach einigem Zögern begann ich schließlich zu erzählen. Zunächst stockend, doch danach immer fließender.

"...ich ging zum Fenster und da sah ich da diese Gestalt, die vor Tobias stand. Er hatte einen Spaten in der Hand und dann hörte ich die Schreie.

Ich kann es nicht genauer erzählen, tut mir leid", sagte ich und beendete meinen Bericht.

Norbert nickte stumm.

Ich sah starr auf den Fernseher. Die Lokalnachrichten hatten gerade begonnen.

"Verdächtiger festgenommen", erschien als Text im Hintergrund.

"Letzte Nacht wurde nach einem Hinweis aus der Bevölkerung der gesuchte Robert Dittmann auf dem Südfriedhof festgenommen", sagte die Sprecherin.

"Dabei wurden die vermißten Leichen sowie ein weiteres Mordopfer gefunden. Zur Identität des Opfers sowie zum Tathergang wollte die Polizei bislang jedoch noch keine Auskunft geben."

Ein Bild wurde eingeblendet, daß Dittmann zeigte, wie er von zwei Beamten abgeführt wurde. Doch irgend etwas stimmte nicht. Mein Blick blieb starr auf Dittmanns Gesicht gerichtet. Dort wo einstmals lange, fettige Haare in sein Gesicht hinabhingen, war sein Schädel jetzt nahezu kahl. Nur einige kurze unregelmäßige Haarbüschel waren noch zu sehen.

Mit meinem Blick suchte ich Dennis. In seinen Augen las ich Erstaunen, aber nicht das Entsetzen, das ich verspürte. Dann sah ich, wie Norbert kräftig an seiner Zigarette zog und danach seinen Kopf langsam in meine Richtung drehte.

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