Das Grab
Copyright 2006 by Andreas Schnabel
Morsches Holz knackte unter seinen Schuhen, als er den Waldweg entlang ging.
Der Weg war schmal, nicht breiter als das zwei Leute nebeneinander laufen konnten.
Es war ein schöner Herbsttag. Die Blätter hatten bereits eine bunte Farbe angenommen und es blies ein kühler Wind. Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die dunklen, grauen Wolken, die den Himmel bedeckten.
Die Tiere des Waldes spürten, dass der Winter nahte. Eichhörnchen sprangen durch die Äste und suchten nach Nüssen, die sie in ihr Versteck bringen konnten. Man hörte das Klopfen eines Spechtes, der wahrscheinlich einen besonders großen Wurm aufgespürt hatte und die Zugvögel sammelten sich für ihren langen Flug nach Süden. Doch das alles interessierte ihn nicht. Leute, die ihn sehen, würden sagen, dass eine dunkle Wolke über seinen Kopf schwebte. Er schien schon lange nicht mehr richtig geschlafen zu haben, denn er besaß tiefe Augenringe und sein Gesicht wirkte eingefallen.
Er lief mit gesenktem Kopf durch den Wald und bemerkte dabei weder die Schönheit des Tages noch die der Natur.
Er dachte viel mehr an eine Zeit, die für ihn die Glücklichere war. Eine Zeit, die er sich so sehr herbei sehnte, dass es wehtat. Die Einsamkeit und die Trauer über das, was er verloren hatte, hielt sein Herz in einer eisernen Umklammerung. Es gab nichts, was ihn aufmunterte, nichts, was sein einsames Herz berühren konnte.
Langsam ging er weiter. Er folgte dem Waldweg, den er schon so oft gegangen war, bis er eine Lichtung erreichte. Es war eine große Lichtung, die wie ein Meer aus grün in einer Ebene endete, und in der Mitte der Lichtung war ein kleines Waldstück, das wie eine Insel hervorstach. Die Luft war frisch und roch fast süßlich nach Laub und Tannennadeln. Doch Wahrnehmen tat er auch dies nicht.
Nach einer Weile kam er an einem großen Torbogen an und als er hindurch ging und einen Ort der letzten Ruhe betrat, wurde das Gefühl des Verlustes immer stärker. Er war hin und her gerissen von den verschiedensten Gefühlen. Er wurde unruhig und seine Beine fühlten sich wackelig an. Sein Herz schien ein riesiger Eisklumpen zu sein. Er konnte kaum atmen.
Langsam schritt er die Reihen der Gräber ab. Das Einzige was zu hören war, war das Rascheln der Blätter, die durch die Herbstbriese bewegt wurden. Der Kies unter seinen Schuhen knirschte. Zu seiner Linken stand ein Engel aus Stein, der über einen Wanderer gebeugt war und zu schlafen schien. Er wollte nicht weiter gehen. Er wusste, dass es schwer war, aber irgendetwas zog ihn weiter. Er strich sich mit einer Hand durch sein Haar und bog in eine Reihe von Gräbern ein. Er sah sie an und las die Namen. Er war neidisch auf die, die es hinter sich hatten. Sie hatte keine Schmerzen mehr, keine Gefühle. Dann blieb er vor einem Grab stehen. Er sah es nicht direkt an, denn er wusste, wenn er
dies tat, würde er zugrunde gehen. Seine Kehle schnürte sich zu. Ein flaues Gefühl begann sich in seinem Magen auszubreiten. Er fing an schneller zu atmen und die Standhaftigkeit, die er bis eben noch besaß, schwand mit jeder Sekunde.
Als er sich umsah, bemerkte er, dass er alleine auf dem Friedhof war. Es war niemand da, außer ein paar Vögel.
Er schaute nach oben, atmete tief durch und hoffte, dass er sich dadurch etwas besser fühlen würde, aber es half nichts. Er senkte seinen Kopf und sah das Grab einmal an. Es war ein schlichtes Grabmal aus Marmor mit einem verzierten Kreuz auf der linken Seite. Er las den Schriftzug, den er schon so oft gelesen hatte.
Sein Herz schien unter der Last zu zerspringen, die Welt um ihn herum verschwamm. Es war, als würde er alles durch einen Nebel sehen. Dann blickte er weiter. Er sah das Bild einer hübschen jungen Frau, das auf der rechten Seite des Grabmals angebracht war. Er sah ihr langes dunkelbraunes Haar mit der langen Strähne, die ihr immer frech im Gesicht hing. Er sah ihre rehbraunen Augen, in die er sich immer verloren hatte, sah ihre Wangen und ihre Nase, die viel zu klein zu sein schien. Und er sah ihre Lippen, die er so oft geküsst hatte.
Der Boden unter ihm schien nachzugeben. Er kniete direkt vor dem Grabmal nieder und berührte das Bild.
Er strich die Konturen des Gesichtes ab und schloss die Augen. In der Ferne konnte er fast ihr schönes lachen hören, ihr Haar riechen, das Parfüm was sie immer benutzte oder die Wärme ihrer Haut spüren.
Er öffnete die Augen und legte eine einzelne rote Rose vor den Grabstein. Seine Kehle schien sich vollkommen zugeschnürt zu haben und sein Herz pochte wie wild. Sein Magen war in Aufruhr. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Langsam stand er auf, drehte sich um und ging. Er wollte nicht wieder kommen, aber er wusste, dass er diesen Ort bald wieder sehen würde, auch wenn es ihn die letzte Kraft kostete…….
Ende