Irgendwo in Carrickfergus
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Wirf einen kalten Blick
auf das Leben. Auf den Tod.
Und dann, Reiter,
zieh weiter.
--- William Butler Yeats ---
Carrickfergus, Nordirland, nicht weit von Larne entfernt. An
der Küste zu Belfast Lough, wo die Reichen ihre Boote haben, kann man bis
nach England sehen. Hier schrieb Jonathan Swift 1695 seinen Roman "A
Tale of a Tub".
Eine abgenutzte, dennoch stabile, dem Wetter trotzende Bank ruhte einsam und
allein auf den Klippen über dem Meer. Eine alte Frau saß auf ihr;
sie hatte die Hände in den Schoß gefaltet und starrte aufs Meer hinaus.
Sie konnte Englands Küste sehen. Sie haßte England. Ihre Lippen verzogen
sich zu einem Grinsen und der Wind zerzauste ihr das weiße Haar. Sie sah
aus wie tot, aber sie war voller Leben.
Ein Mann näherte sich ihr. Er lächelte und setzte sich mit einem "Guten
Tag" neben sie auf die alte Bank.
Sie sah mich an. Ganz flüchtig aus den Augenwinkel sah sie mich an. Ich
bekam eine Gänsehaut, als ich es bemerkte.
"Ist ziemlich windig heute", sagte ich. Sie lächelte: "Ja,
das stimmt."
"Vielleicht kommt wieder ein Sturm auf", sagte ich.
"Ja, vielleicht."
Dann schwiegen wir. Und schließlich seufzte ich. Ich
mußte – wie jedes Jahr - an früher denken; an den 3. September, der
noch gar nicht so lange her zu sein scheint... An früher, als ich noch
jung war. Früher, als ich noch nicht richtig erwachsen war, noch nichts
gesehen und nicht viel erlebt hatte... An früher, als die Welt anders roch,
anders dachte, anders lachte, anders war. Ich mußte lächeln. Ich
mußte weiter sprechen, weil die Freude, die Erinnerungen an damals, mir
den Hals zuschnürten.
Sie wollten raus.
Sie wollten ins Meer geschleudert werden – oder in den Kopf eines anderen Menschen.
Erinnerungen. Damals.
Und weil ich nicht wieder gehen wollte, weil dieser Ort, an dem wir beide saßen,
mir heilig war, sagte ich: "Heute vor zwanzig Jahren habe ich den Gipfel
der Liebe meines Lebens erlebt."
Sie runzelte die Stirn und sah mich an. Ich wurde rot.
"Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen davon. Es will aus mir heraus.
Gott, Vergangenes will immer irgendwann mal raus. Nicht wahr?"
Sie lächelte und starrte aufs Meer hinaus. Wir konnten Englands Küste
sehen. Wir konnten Schiffe sehen, die von hier aus nur kleine Punkte waren.
Schiffe, die sich jetzt beeilten, ans Ufer zu kommen – wahrscheinlich aus Angst,
der Sturm könnte sie überraschen. Es würde zwar nur ein warmer,
milder Sturm werden - aber immerhin. Ich hatte meine Regensachen zu Hause gelassen
– wollte ja nur kurz hierher kommen – und bereute es jetzt. In Irland ist der
Regen gnadenlos; er durchdringt jeden Spalt der Kleidung, jede noch so kleine
Öffnung. Irgend jemand sollte mal ausrechnen, wie viele Menschen hier schon
an Lungenentzündung gestorben sind, weil der Regen ihr Immunsystem kaputt
gemacht hat.
"Erzählen Sie, was Sie wollen."
"Sind Sie auch wegen einer Erinnerung hier?" fragte ich sie aus meiner
Euphorie heraus. Ich beachtete ihre stille Ablehnung erst gar nicht.
"Ich bin immer um diese Uhrzeit hier und schau‘ mir das Meer an. Mein Mann
ist in See gestochen, wissen Sie. Er ist da raus gefahren und ich warte hier
immer auf ihn. Das Mittagessen wird kalt – er kommt nie pünktlich nach
Hause. Und jetzt mag ich nicht mehr warten. Die Kinder sind schon längst
aus dem Haus. Große Bengel sind sie geworden. Furchtbar große Bengel."
Sie sah mich an. "Und wissen Sie was, junger Mann? Wenn sie erwachsen sind,
kommen sie nie mehr wieder zurück. Dann fahren sie alle mit der Fähre
nach England oder nach Amerika und kommen so schnell nicht wieder. Die Menschen
heutzutage streben nach Karriere und Reichtum, nicht nach Familie. Vor allem
nicht hier in Irland. In diesem armen Irland – das ärmste Land in ganz
Europa. Auch meine Söhne streben danach, mehr zu sein. Sie streben ständig
danach. In ihren Briefen, in ihren Telefonaten... Überall und immerzu.
Einer hat jetzt frisch eine Stelle als Finanzbuchhalter bekommen. Ist nicht
das Beste, Mami, aber immerhin ein Anfang – hier ist alles so ganz anders als
bei dir zu Hause in Carrickfergus – schreibt er. Nicht das Beste, Mami.
Warum will er immer das Beste? Ich habe ihn so sicher nicht erzogen. Aber die
Engländer... Die Engländer haben schon vor langer Zeit ihre Samen
hier im Norden gesät. Und jetzt ernten wir die schlechten Früchte.
Das wird noch unser Verderben sein, sag ich Ihnen, mein Freund. Ist mir egal,
ob Sie Katholik oder Protestant sind. Ist mir auch egal, ob Sie mich verstehen
oder nicht – schließlich bin ich nur eine alte, dumme Frau." Sie
machte eine Pause und fuhr dann fort: "Und mein anderer Sohn hat schon
Frau und Kind. Natürlich da draußen und nicht hier. Alles ist da
draußen und nicht hier."
Ich hörte ihr zu. Sie wurde langsam für meine Euphorie gefährlich.
Das Heute war wichtig, nicht das Damals. Und mein Heute war mir sowieso wichtiger
als ihres. Ich wollte ihr etwas erzählen und jetzt erzählte sie. Na
gut, so war das Leben.
"Ich hoffe nur, sie gehen mir da draußen in England nicht unter.
Wissen Sie, mal sind sie in den USA und mal in England – ich weiß nie,
wo genau sie sich aufhalten. Die Poststempel veraltern ja. Und je länger
sie weg sind, je mehr sie zwischen den Kontinenten umher pendeln, desto schneller
vergessen sie ihre Heimat. Desto schneller vergessen sie Irland und die Stadt,
in der sie aufgewachsen sind." Sie senkte traurig den Blick.
"Ich weiß, was Sie meinen", sagte ich um irgendwas zu sagen.
Sie lächelte müde und zog ein Taschentuch aus ihrer alten, dunkelbraunen
Stoffhose. Sie spuckte Schleim ins Taschentuch und
steckte es wieder weg.
"Warten Sie auf die Flut?" fragte ich sie.
"Ich warte auf die Vergangenheit", antwortete sie ohne mich anzusehen.
"Dann warten wir gemeinsam", erwiderte ich sofort und als sie mich
jetzt ansah, lächelte sie mit strahlenden Augen.
Wenig später erklärte sie mir, daß das ganz kleine, weiße
Fischerboot da draußen, das man sogar von hier aus sehen könne, das
Boot ihres Mannes sei. Das zwischen den ganzen Luxusjachten. Das ganz Kleine
da.
"Wie immer ist es das letzte Boot. Er schläft beim Angeln immer ein",
sagte sie und schüttelte den Kopf. "Er nimmt irgendein Buch mit und
schläft dann einfach ein. Ich habe ihm schon Hundertmal gesagt, daß
das gefährlich ist – vor allem, wenn Sturm droht, aber er hört mir
nicht zu. Ich wette, das wird noch mal sein Untergang sein. Hoffentlich muß
ich’s nicht mehr erleben."
Ihre Augen leuchteten, als sie mir einen Blick zuwarf. "Aber ich bin unfreundlich;
Sie wollten mir eine Geschichte aus Ihrem Leben erzählen."
Ich zögerte einen Moment, weil ich das Boot auf dem Meer suchte. Ich konnte
es nicht finden, ich konnte nur die großen Segelboote und Luxusjachten
sehen – aber ich war zu feige, ihr das zu sagen.
"Hallo?"
"Ähm, ja?"
"Sie wollten mir eine Geschichte aus Ihrem Leben erzählen. Über
die Liebe Ihres Lebens."
Plötzlich erschien es mir lächerlich. Nicht das Vergangene, nein,
das würde ewig für mich heilig bleiben, aber mein Vorhaben, der alten
Dame etwas davon zu erzählen. DAS erschien mir plötzlich zutiefst
lächerlich.
Sie hat dir aus ihrem Leben erzählt, also erzähl du ihr aus deinem,
dachte ich. Holte tief Luft und erzählte ihr von meiner ersten Liebe.
"Hier haben wir uns immer getroffen", sagte ich, "immer hier,
immer hier auf der Bank. Ich will nicht wissen, wie alt die schon ist. Hier
haben wir zusammen über alles geredet und hier haben wir... na ja, Sie
wissen schon – was man so macht, wenn man jung ist."
"Gütiger Himmel!" sagte sie und lachte. Ich lachte mit ihr.
"Na ja, jedenfalls fast. Gott, was hab ich sie geliebt – mit ihren Grübchen,
mit ihren strahlenden, blauen Augen und ihren roten, lockigen, langen Haaren.
Eine Zeitlang trug sie sie kurz, aber das gefiel mir nicht so... Obwohl sie
damit frech aussah; fast wie ein verschmitzter Junge. Sie mußte oft ihrem
Onkel auf dem Feld helfen. Ernten und so. Zuckerrüben haben sie angebaut
– viele, ganz viele Zuckerrüben in allen Größen. Ich bin immer
mitgegangen, um in ihrer Nähe zu sein. Ich bin mitgegangen, um einen Korb
voll Rüben zu tragen, den sie mir gegeben hat. Sie war alles für mich.
Der Glanz ihrer Augen, die Sommersprossen in ihrem Gesicht... Gott, was habe
ich es geliebt! Was habe ich sie geliebt! Und heute vor zwanzig
Jahren... Heute vor zwanzig Jahren..."
"Was war heute vor zwanzig Jahren?" fragte mich die alte, nette Dame
und fing schon mal zu kichern an. Sie konnte es sich denken. Verdorbenes Frauenstück,
dachte ich amüsiert. Sie konnte es sich doch denken.
"Na ja, heute vor zwanzig Jahren fing unsere Liebesgeschichte eigentlich
erst an. Wir haben unser Blut miteinander vermischt, wir haben hier oben miteinander
geschlafen, wir haben den Wind gespürt, haben die Gänsehaut gespürt,
die er aus dem Osten mitgebracht hat... Wir haben Kerzen aufgestellt, angezündet
und sie vom Wind ausblasen lassen. Wir haben die Boote auf dem Meer gezählt.
Wir haben uns... wir haben uns geschworen, uns nie wieder zu trennen."
Ich schwieg und biß mir auf die Lippen. Plötzlich waren meine Erinnerungen
gar nicht mehr so euphorisch wie vor einem Augenblick. Die alte Frau legte mir
ihren knochigen Arm um die Schultern und drückte mich kurz aber heftig
an ihre Seite.
"Machen Sie sich nichts draus. Die erste Liebe ist immer etwas Besonderes
– aber leider dauert sie nicht ewig. Das ist der Fluch der Zeit. Früher
war das nicht so. Früher gab es die Mitgift, die beide Elternteile bekommen
haben, wenn ihre Söhne und Töchter heirateten. Sie wissen schon, wie
das damals war; die Eltern profitierten davon, wenn ihre Jünglinge unter
die Haube kamen. Liebe spielte dabei nur die zweite Geige – wenn sie überhaupt
eine spielte. Ich hatte Glück. Ja, damals hatte ich wirklich Glück,
weil ich genau den Versager von einem Mann liebte, der mir versprochen wurde.
Heute gibt es das nicht mehr. Junge Liebende sind nicht mehr aneinander gebunden
– waren es wahrscheinlich auch nie. Und die erste Liebe ist die besondere Liebe,
die intensivste, die meistens auch nicht lange hält, wenn man das bekommt,
was man will."
"Wie meinen Sie das?" fragte ich sie. Ihre grauen Augen starrten gedankenverloren
durch mich hindurch.
"Nun, Sie haben Ihr Mädchen gehabt – also war Ihre Liebe intensiv.
Heute vor zwanzig Jahren, Sie wissen schon. Aber jetzt haben Sie sie nicht mehr,
nicht wahr? Also war auch Ihre Liebe nicht von Bestand."
Ich sah zu Boden. Am Liebsten hätte ich jetzt einen Stein ins Meer gekickt.
Am Liebsten wäre ich jetzt wo ganz woanders gewesen.
"Ich glaube, Sie haben recht. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht. Sie
sagte damals, sie würde mich nie vergessen. Ich bin umgezogen, müssen
Sie wissen."
"Umgezogen?" Die Pupillen ihrer Augen wurden größer. "Doch
nicht etwa nach England!"
Ich lächelte. "Nein, nicht nach England."
"In die USA?" fragte sie vorsichtig. Jetzt mußte ich lachen.
Sie lachte mit mir.
"Nein, ich bin nach Sligo in den Westen gezogen. Der Abschied
war schrecklich." Ich machte eine Pause, als ich mich an das kleine Mädchen
erinnerte, das sie gewesen war. Als ich alles Revue passieren ließ. "Natürlich
versprachen wir, einander zu schreiben. Aber nach ein paar Briefen merkten wir
schon, daß es so nicht weitergehen konnte. Wir schrieben uns immer seltener.
Unsere Briefe wurden oberflächlich und platt – und ebbten schließlich
ganz ab. Ja, und jetzt bin ich hier, sozusagen auf Dauerbesuch bei meiner Mutter.
Sie ist krank."
"Das tut mir leid", sagte sie und legte ihre alte, knochige Hand auf
meine. Ich zuckte zusammen. Sie war furchtbar kalt. So kalt wie das Grau ihrer
Augen.
"Es ist nicht weiter schlimm. Ich bin Krankenpfleger und weiß ein
bißchen, wie ich ihr helfen kann. Sie ist bettlägerig. Sie braucht
Pflege bis in den Tod. Ich werde diesen letzten Weg mit ihr gehen... Nur heute...
Heute wollte ich ein bißchen hier sein. Alte Erinnerungen an den 3. September
vor zwanzig Jahren auffrischen... Sie wissen schon... Ein Onkel von mir paßt
auf sie auf."
"Das ist sicher sehr schwer für Sie", sagte sie und zog ihre
Hand wieder zurück, bettete sie in ihren Schoß und starrte wieder
aufs Meer hinaus. Der Wind wurde kühler.
"Danke, daß ich Ihnen davon erzählen durfte. Jetzt ist meine
Euphorie fast ganz weg. Dabei hätte ich heute morgen die ganze Welt umarmen
können!" sagte ich breit grinsend und sie lachte ihr krächzendes
Altweiberlachen.
"Nichts zu danken. Aber jetzt muß ich gehen – kann nicht mehr lange
dauern, bis mein Mann den Anlegesteg erreicht hat. Und von dort aus ist es nicht
mehr weit zu uns nach Hause. Ich bin alt geworden, meine Augen und meine Füße
haben in den letzten Jahren stark nachgelassen. Ich muß mich beeilen,
wenn ich vor ihm zu Hause sein will. Sie verstehen schon. Sehen Sie das Boot
da draußen? Das, das den Anlegesteg fast erreicht hat. Sehen Sie es? Es
ist sein ganzer Stolz! Sein ganzer, verfluchter Stolz! Und es wird noch sein
Untergang sein, das sage ich Ihnen! Es wird ihn noch umbringen! Sehen Sie?"
Ich sagte ja und sah kein Boot.
"Ich muß langsam nach Hause. Das Mittagessen aufwärmen. Sie
wissen ja, wie das ist. Wissen Sie doch, oder?"
Ich sagte ja und wußte kein bißchen, wie das ist.
"Gut. Dann wünsche ich Ihnen noch schöne Erinnerungen. Seien
Sie nicht traurig wegen Ihrem Mädchen! Ich bin sicher, sie denkt jetzt
da, wo sie ist – wo auch immer das sein mag – so an Sie wie Sie an sie denken...
Verstehen Sie, was ich meine? Sie verstehen mich schon."
Sie zwinkerte mir zu und ging langsam und mit schlürfenden Schritten davon.
Ich sah ihr nach, bis ich sie nicht mehr sehen konnte – und starrte dann wieder
aufs Meer hinaus.
Da war kein Boot. Vielleicht hatte es nie so ein Boot gegeben.
Plötzlich zog der Sturm auf. Der Himmel wurde grün, es wurde Schlag
auf Schlag furchtbar kalt und das Meer peitschte gegen die Klippen.
Zeit, nach Hause zu gehen.