© 2005 by Livia
Er wusste niemals, ob der Begriff nun genau auf ihn zutraf. Eigentlich stammte dieser auch von einem ehemals guten Freund, der ihn immer so nannte. Du bist ein Pechvogel, hatte der immer zu ihm gesagt, du hast nur Pech im Leben. Nun, dachte er, ich habe eigentlich nicht wirklich Pech, vielmehr jene die mich umgeben. Und das sind heuer nicht mehr sehr viele. Traurig blinzelte der kleine Mann in die Finsternis, die ihn hier umgab. Hunger und Durst quälten ihn nur am Rande, viel schwerer wog die Erinnerung.
Die Erinnerung an sein Leben. Er wusste nicht mehr genau, wann alles begonnen hatte, aber schon in der Kindheit umgab ihn wohl diese besondere Aura des Unglücks. Er dachte an die Schulbusse, die regelmäßig ausfielen, sobald er nur einen Fuß in sie setzte. Und wenn sie nicht sofort ausfielen, verloren die Fahrer fast ebenso regelmäßig die Kontrolle über jene, und setzten diese an Leitplanken, an Bäume oder krachten einfach irgendwelche Böschungen hin-unter. Regelmäßig Verunglückten sie so auf dem Weg zur Schule, und mehr als einmal ver-letzten sich dabei Kinder wie Fahrer. Doch wenn er mal Zuhause bleiben musste, weil ihn das Fieber schüttelte, geschah nichts. Dann kamen alle heil und gesund an, und so hatte er schon als Kind recht schnell einen gewissen Ruf weg. Seine Eltern ärgerten sich sehr darüber, und auch wenn sie selbst im Haushalt mehr als nur kleine Unfälle hatten, maßen sie diesen doch keine große Bedeutung bei. Er war ihr Junge und sie liebten ihn sehr. Sie ließen ihn auch fast ebenso regelmäßig die Schule wechseln, wie er dort für Unfälle sorgte. Das änderte aber nichts an seiner Realität und ihm dämmerte im Alter von nur neun Jahren, das er wirklich das Unglück anzog. Auslöser war der tödliche Unfall seiner Eltern. Autounfall, hieß es. Auf dem Heimweg von einer Party. Von der Strasse abgekommen, und in ihrem Auto, das auf dem Dach liegend in einem kleinen Bach gefunden wurde, ertrunken. Sie waren die Ersten, die in seinem Leben starben. Die er geliebt, aber dann für immer an sein Unglück verloren hatte. Er saß hier in der stillen Finsternis, erinnerte sich und sah noch einmal ihre lieben Gesichter vor sich. Ja, dachte er jetzt, es war schon immer gefährlich gewesen, ihn zu lieben. Doch oft reichte es schon aus, ihn nur zu mögen, damit jemand sich von seinem Leben verabschieden konnte. Aber ihn lieben? Das bedeutete einfach den sicheren Tod.
Nach dem überraschenden Tode seiner Eltern kam er erst einmal zu einer verwandten Tante. Doch diese hielt es dann nicht lange mit ihm aus, und nachdem sie sich beim Hausputz ihre Hüfte gebrochen hatte und für unbestimmte Zeit im Krankenhaus bleiben musste, kam er in ein Waisenhaus. Doch auch hier wurde es nicht besser. Laufend verunglückten Betreuer oder andere Kinder in seiner Nähe und er begann sich daraufhin mehr und mehr von der Welt zu-rück zu ziehen. Auch hier wurde schnell über ihn geredet und zum Ende seines Aufenthalts hatte er wieder einen gewissen Ruf weg. Als er volljährig diesen Ort endlich verlassen konnte, freute er sich sehr. Hatten ihn die anderen Jugendlichen doch häufig gequält und gepeinigt. Als Außenseiter war er ihrer Willkür ausgeliefert, und er hatte im Heim viel Einstecken müs-sen. Da waren seine vielen unfreiwilligen Klobesuche noch die angenehmsten Erinnerungen an diese Zeit. Er war ein junger, stiller und unscheinbarer Mann geworden. Er bezog eine kleine Wohnung, die für die nächsten Jahre sein Zuhause werden sollte, und beendete seine Ausbildung als Buchhalter. Etwas wohlgesonnener blickte er nun in die Zukunft. Doch auch die nächsten Jahre gestalteten sich schwierig. So gingen seine Firmen regelmäßig Pleite, ver-unglückten seine Vorgesetzten oder Kunden, und wie ein böser Fluch verfolgte ihn sein Ruf.
Schließlich fand er eine Anstellung in einer Bibliothek, und hier sollte er bleiben und einsam im Archiv arbeiten. Hier konnte er niemandem mehr Schaden, so dachte er zumindest und die nun folgenden Jahre vergingen für ihn ruhig und in Frieden. Mit fast dreißig Jahren lernte er dann Klara kennen und schließlich lieben. Seine kleine, stille und unscheinbare Klara. So sanft und so gütig. So liebevoll und so warm war sie gewesen, das sich heut noch sein Herz vor Schmerz zusammen zog, wenn er nur an sie dachte. Klara, die in einem Sommer seine Kollegin, im Herbst schon seine Freundin, und im Winter seine Frau war. Seine Klara, die sich immer ihre dünne Brille wieder auf das kleine Näschen zurecht schob. Seine Klara, die immer ihr langes, dunkles Haar im Dutt trug. Deren Röcke und Kleider immer bis über die Knie reichten. Klara, die ihm, zumindest vorübergehend, einmal Frieden brachte. Die Jahre mit ihr waren für den kleinen Mann die Schönsten seines Lebens, und er begann langsam zu vergessen. Als dann noch ihr gemeinsamer Sohn geboren wurde, schien das Glück, das nun endlich auch ihn einmal zu treffen schien, vollkommen. Doch sein Fluch machte nur eine kur-ze Pause, und nach einigen Jahren schlug er noch viel grausamer und härter zu, das er entgül-tig daran zerbrechen sollte. Es war wieder ein Sommer, als sein Unglück ihm Frau wie Kind nahm. Ein grausamer und dunkler Sommer. Er hatte zuviel Arbeit, um mit ihnen beiden ihren wohlverdienten Urlaub nehmen zu können, und so reisten sie allein unter die Sonne des Sü-dens.
In Särgen kamen sie wieder heim.
Sein kleiner Junge sei wohl zu weit auf s Meer hinaus geschwommen, hieß es. Und seine ge-liebte Klara sei ihm dann wohl gefolgt, zumindest wurde es ihm so berichtet. Beide waren einfach ertrunken, unter südlichem Himmel und so weit fort von ihm. Tagelang blieben sie erst verschwunden. Ein Fischtrawler holte dann vor der Küste seine Schleppnetze ein, und zog beide, von Fischen arg verstümmelt aber immer noch in enger Umarmung, aus den Tiefen des Meeres. Er verging vor Kummer um Klara, wie um sein Kind gleichermaßen. Voller Schmerz zog er sich nach den Trauerfeierlichkeiten wieder von der Welt zurück.
Fortan mied er die Menschen, wo es nur ging. Blickte grimmig und voller Widerwillen jeden an, der ihm für sein Gefühl zu nahe kam. Er wurde ein Eigenbrödler. Ein Eremit im Leben und langsam nur verließ ihn der große Schmerz um seine verlorene Familie. So gingen die Jahre und sein Haar wurde schütterer und zeigte graue Strähnen. Seine Augen sahen jetzt schlechter und ein leichter Bauchansatz machte sich bemerkbar. Er wurde langsam zu dem, der er heute war. Er sah Menschen in seinem Leben kommen und gehen. Einige wurden zu Freunden, andere zu Feinden, aber alle verschwanden nach und nach wieder.
Nun saß er hier einsam in der Dunkelheit, in der Stille.
Gerd war der Grund, warum er hier saß. Ein grober großer dabei aber freundlicher Mann in seinem Alter, mit dem er des Abends öfters mal einen über den Durst getrunken hatte. Gerd, der ihn seid langer Zeit wieder einmal innerlich berührte. Sie lernten sich in einer Kneipe kennen, und entwickelten nach und nach so eine Art derbe Männerfreundschaft, die aber nicht über die Grenzen der Kneipe hinaus ging. Gerd, seid langer Zeit für ihn wieder mal ein Freund. Gerd, der in der nahegelegenen Maschinenfabrik arbeitete. Der erst tagelang nicht erschien, und, wie er später in Erfahrung brachte, von einer seiner Maschinen erfasst und bis zur Unkenntlichkeit zermalmt wurde. Gerd, der ihn immer einen Pechvogel genannt und da-bei lachend und kräftig auf seine Schultern geklopft hatte. Auch Gerd war nun fort, von ihm nur durch eine vorsichtige Freundschaft getötet, und er hatte es satt.
Ja, er hatte es so satt. Er wollte nicht mehr für die Unglücke oder Tode all jener verantwort-lich sein die er mochte, oder gar liebte. Nein, er hatte es satt. Und darum saß er hier. Hier in der stillen Finsternis, die ihn äußerlich, jetzt aber auch innerlich umgab. Er hatte die Hoff-nung, das er ihnen allen dort begegnen würde, wohin es ihn nach seinem Tode auch treiben würde. Das dort seine Eltern, wie auch Klara und ihr gemeinsamer Sohn auf ihn warteten. Und auch der gute Gerd dort neben ihnen stünde. Hoffte, das er dort seinen Fluch für immer von sich Abstreifen könnte, und endlich, endlich den Frieden fände, nach dem er sich jetzt schon so lange sehnte.
Der Weg dahin lag für ihn noch voller Qual, das wusste er, aber dann wäre es vorbei, denn, verdammt, was sollte eine Leiche noch für Unglück bringen?
Aus der örtlichen Presse:
>>Kanalarbeiter findet Tod<<
Gestern mittag fand der Kanalarbeiter K.H. bei Räumungsarbeiten vor den Augen seiner Kollegen den Tod. K.H. stolperte auf seinem Kontrollgang über eine Leiche, die auf dem Steg über einem Ablauf saß. Herr H. fiel daraufhin ins Abwasser, das der darunter liegende Kanal führte. Durch die Regenfälle der vergangenen Tage führen die Kanäle Hochwasser, und so wurde es Herrn H. unmöglich, sich zu retten. Auch seine Kollegen, die ihm sofort zur Hilfe eilten, konnten nur zusehen, wie Herr H. von den Fluten fort getragen wurde. Herr K.H. starb durch Ertrinken und seine Leiche wurde erst am Nachmittag geborgen. Die Leiche des unbe-kannten Toten wurde, zum Zwecke der Obduktion, ins örtliche Leichenschauhaus überführt.
>>Mysteriöser Tod eines Leichenbeschauers<<
Letzte Nacht fand der Leichenbeschauer Dr. M.J. unter mysteriösen Umständen den Tod. Dr. J. war gerade mit der Obduktion der Leiche beschäftigt, die schon für den Tod des Kanalar-beiters K.H. verantwortlich war, wir hatten davon berichtet. Die Ermittler gehen davon aus, das Dr. J. noch einige Instrumente zur Sektio des Leichnams holen wollte, als diesem eine schwere Metallklappe, die zum Schließen der Schubfächer dient, den Schädel brach. Aus bis-her noch unbekannten Gründen löste sich das Scharnier, das diese Klappe geschlossen halten sollte. Er verstarb noch am Unfallort.
>>Unbekannter hat einen Namen<<
Der Leichnam des Unbekannten hat nun einen Namen. Herr P. war Mitte Fünfzig, Witwer und von Beruf Buchhalter. Sein Leben war von vielen Schicksalsschlägen gezeichnet, und sein Tod eindeutig Selbstmord.
>>Das Grauen geht weiter<<
Gestern vormittag sollte Herr P. beigesetzt werden. Wir haben über ihn Berichtet. Schon zwei Menschen fanden durch dessen Überreste den Tod ........... jetzt fordert der Leichnam von Herrn P. zwei weitere Opfer. Herr A.S. wurde vorgestern von einem umstürzenden Bagger erdrückt, der gerade dabei war, die Gruft für Herrn P.s Beisetzung auf dem Westfriedhof aus-zuheben. Dem Baggerfahrer ist das Ganze ein Rätsel. Doch damit nicht genug. Herr B., einer der Leichenträger, verlor kurz vor der Beisetzung das Gleichgewicht und stürzte in die fast zwei Meter tiefe Grube. Genickbruch. Die Beisetzung von Herrn P. wurde vorerst verscho-ben. .........