©2003 by Nathschlaeger, Peter
"Wie lange noch?"
"Etwa 2 Stunden."
Die beiden Männer standen in der Mitte eines gemütlichen Wohnzimmers und sahen sich lächelnd an. Der Ältere der Beiden trug ausgewaschene Jeans und ein ungebügeltes, weißes T-Shirt. Er war etwa 45 Jahre alt. Vielleicht auch älter: er war schwer zu schätzen. Seine grauen Haare waren kurz geschoren und sein Gesicht hatte edle Züge. Man konnte ihn nicht unbedingt als schön bezeichnen. Auf jeden Fall war er eindrucksvoll und strahlte selbst in dieser legeren Kleidung gediegene Würde aus.
Der jüngere Mann, der ihn gefragt hatte, wie viel Zeit noch bleiben würde, wirkte etwas nervöser und war auch sonst in vielem das krasse Gegenteil zu der markanten Erscheinung des Älteren. Der jüngere war etwa 23 Jahre alt und sah... nun, poppig aus. Er hatte seine langen, schwarzen Haare zu einem harten Zopf geflochten und an den Schläfen kurz geschoren. Er trug eine Lederhose, die an den richtigen Stellen spannte und ein schwarzes Trägerleibchen. Er war sexy und er sah aus wie jemand, der das von sich wusste und damit kokettierte.
Aber nicht jetzt. Und nicht diesem Mann gegenüber.
Im Hintergrund spielte leise Klaviermusik; irgendwas von Debussy. Draußen schien die Sonne hell und klar; es war ein wunderschöner Septembertag.
Der jüngere strich mit seiner linken Hand über seinen rechten Oberarm und schien sich selbst umklammern zu wollen. Eine Träne glitzerte in seinem rechten Auge. Er zwinkerte sie weg und der Grauhaarige machte einen Schritt auf ihn zu.
"Komm her Rene. Komm her..."
Er umarmte den Jungen und küsste ihn auf die Stirn.
Im Aschenbecher verglühte eine Zigarette.
So blieben sie eine Weile stehen. Dann packte sie die Strömung der Musik und sie begannen, sich langsam im Kreis zu drehen. Sie streichelten sich den Rücken und küssten sich auf die Wangen, auf die Stirn und auf den Mund.
Etwas später standen sie gemeinsam am offenen Fenster und rauchten. Die Straße, auf die sie aus dem ersten Stock hinunter sahen, war menschenleer. In der Ferne konnte man das Rasseln eines schweren Panzers hören aber auch dieses Geräusch verblasste im Licht des alternden Tages. Wind frischte auf und trieb das erste Laub über die Straße. Eine Blechdose kollerte von der Fahrbahn in den Rinnstein und verfing sich bei einem Gullydeckel.
Es war vollkommen still. Nein, nicht vollkommen sondern anders still. Man hörte den Wind und dieses ewige neue Rauschen in der Ferne. Das Rauschen einer fernen Autobahn oder so... Das Geräusch des Panzers war längst von der Stadt verschluckt worden und die westliche Sonne spiegelte sich grell in den Scheiben des gegenüberliegenden Hauses.
Noch etwas später begann es kühl zu werden. Und zwar schlagartig. Rene legte einen Arm um den Mann und schmiegte sich an ihn.
"Es ist so anders. Weißt du. Ich hab ja so viele Filme gesehen, die Katastrophenfilme. Aber kein Film bereitet dich wirklich vor. Ich dachte, es wäre überall Panik und Massenflucht..."
"Und Krawall, Plünderung und Chaos.
Ich weiß. Ging mir auch so. Als sie die Verordnung im Fernsehen bekannt gaben, dachte ich mir: Jetzt wird’s wirklich Scheiße. Das hätten sie nicht sagen sollen. Aber du siehst ja; jeder hält sich dran."
"Hm hm. Aber wir nicht. Wir haben ja das Fenster offen."
Rene lachte bitter auf und stieß sich vom Fensterbrett ab und schlenderte zum Wohnzimmertisch. Er nahm die Schachtel Zigaretten vom Tisch und deutete dem Älteren.
"Hm?"
Der Mann winkte ab und Rene steckte sich eine in den Mund und zündete sie sich mit der Lässigkeit des jungen Kettenrauchers an.
Sie standen wieder eine Weile am Fenster und sahen hinaus, obwohl sie wussten, dass es nichts zu sehen geben würde. Die Straßenbahn fuhr nicht mehr, kein Auto rauschte vorbei, niemand schlenderte in der frühen Abendsonne von irgendwoher nach irgendwohin. Die Leute waren so wie sie zu Hause und warteten.
"He Robert. Scheiß auf die Verordnung. Lass uns spazieren gehen. Was meinst du?"
Rene knuffte Robert in die Hüfte und sprang erfüllt von verzweifelter Heiterkeit vom Fenster zurück.
Robert schabte mit der flachen Hand über seine unrasierten Wangen und nickte dann.
"Klar. Scheiß drauf."
Etwas später schlenderten sie engumschlungen die Straße Richtung Zentrum und wichen spielerisch den langen Schatten der Bäume aus, die die Fahrbahn säumten. Rene fröstelte hin und wieder aber er schien es zu genießen. Er grinste Robert an und fragte: " Du kennst doch mein kleines Buch mit den Haikus? Hast du es schon jemals gelesen? Zumindest das Vorwort?"
Robert schüttelte den Kopf.
"Der Autor des Vorwortes wies darauf hin, dass die Stimmungen, die die Haikus rüberbringen, zum Großteil mit der typischen, japanischen Verbundenheit zu den Elementen wurzeln..."
"... und in den vier Jahreszeiten. Ein japanischer Geschäftsmann sagte mir das mal, als wir in einer Bar saßen und Saki tranken. Der Japaner nimmt die Witterung viel verinnerlichter wahr als wir Europäer. Er fühlt sich den Elementen fast... hm, verpflichtet."
Rene nickte: "Ich denke, ich verstehe das jetzt. Ich meine, Vorworte, ja?, die sind ja immer so akademisch, aber der Typ hatte recht. Ich meine, mir ist kalt, aber es macht nichts. Es ist OK so. Ich spüre, dass ich lebe. Wie noch nie zuvor."
Er kuschelte sich enger an seinen Freund und das war es. Mehr gab es im Moment nicht zu sagen.
Ein paar Kilometer weiter die Straße lang stockte ihnen fast gleichzeitig der Atem. Robert streckte seine Hand aus und deutete auf einen Mann, der sein Auto wusch.
"Meine Güte. Was für ein Irrer.", spuckte Rene fast verächtlich aus, aber Robert schüttelte den Kopf.
Sie gingen weiter auf den Mann zu und als sie ungefähr auf seiner Höhe waren, hörte der ihre Schritte und schreckte hoch.
Robert machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. Der Mann wich mit einem entsetzten quieken zurück und hob das Rehleder, mit dem er den Wagen poliert hatte, wie eine Waffe.
"Hören sie... es ist mir egal, dass sie draußen sind, aber stören sie mich nicht. Sie sehen doch, dass ich zu tun habe. Ich muss das Auto da auf Vordermann bringen, ehe es zu spät ist, verstehen sie, ja? Egal ob sie es verstehen, ich muss jetzt das Auto reinigen, ja... also..."
Er wandte sich abrupt ab und rieb konzentriert über das Blech.
"Lass uns weitergehen, ja?"
Rene nickte und sie gingen weiter stadteinwärts.. Der Wind wuchs sich inzwischen zu einem Sturm aus und rüttelte wild an den herbstlich gefärbten Bäumen.
"Wieso entdeckt man eine Katastrophe immer erst, wenn es zu spät ist? Warum konnte das keiner absehen?"
Sie gingen eine Weile schweigend weiter und schwiegen. Dann so schien es, erinnerte sich Robert an etwas, dass lange vergangen war.
"Als ich etwa in deinem Alter war, machte ich Urlaub in Spanien. Damals war da noch viel los... Discos, Strand und Schwule... da war was los. Na und ich hatte mich da wie blöd in einen Einheimischen verliebt. Im Hinterkopf wusste ich natürlich, dass dieses Glück von geborgter Zeit lebte und vielleicht nur existierte, weil sie limitiert war und das Ablaufdatum feststand. Aber deinem Herz ist es scheißegal, was die Uhr sagt. Es befolgt seine eigenen Regeln. Na jedenfalls war ich da in Spanien und verliebt und mein Herz wollte in Tränen regelrecht untergehen, einen Tag vor dem Heimflug. Ich ging alleine am Strand spazieren und die Sonne kam gerade hoch, da blieb ich stehen und sah zurück. Weißt du, ich meine, ich wusste, aus welcher Richtung ich gekommen war. Aber das Einzige, was auf die Existenz meines Weges hinwies, waren meine Fußspuren in der Brandung. Ich wusste genau, woher ich gekommen war, wie ich zum Strand runterlief um den Kopf klar zu kriegen... Aber als ich da stand und zurücksah, merkte ich, dass die Brandung meine Fußabdrücke aus dem Sand wusch. Und ich war traurig weil ich wusste, dass mich dieselbe Brandung aus dem Herz des jungen Spaniers waschen würde. Ein paar Momente, ein paar Fußspuren und der Rest ist verloren in der Zeit."
Rene sah seinen Lebensgefährten aufrichtig interessiert von der Seite an und hakte sich wieder bei ihm ein.
"Und so ist es auch mit großem Unglück. Wenn man es rechtzeitig abstoppen würde, könnte man eingreifen und es ändern. Man schaut zurück und denkt sich: Himmelnochmal! Da hätte doch wer eingreifen können. Zu diesem Moment oder zu diesem... oder spätestens da hätte es klar sein müssen, was passiert, wenn man sich nicht was überlegt. Aber am Anfang geschieht alles ganz geheim und verborgen und niemand nimmt etwas wahr. Dann dringt etwas an die Öffentlichkeit und alle ignorieren es. Alle schweigen. Dann nimmt man es doch wahr, weil die Zeichen schon deutlich in den Himmel geschrieben stehen und alle leugnen es. Es kann uns nicht treffen. Wir sind doch so aufgeklärt und modern und für alles präpariert. Und eines Tages kann man es nicht mehr leugnen, weil es lächerlich wäre, weil man sieht..."
"... wie sich die Nägel durch die Wolken bohren..."
"Peter Gabriel. The Flood, ja?"
Rene nickte.
"Und man schaut zurück und das einzige was man sieht ist die Brandung, die deine Spuren auslöscht... Ein trauriger Gedanke. Aber auch irgendwie so romantisch wie... wie ein wilder Garten im Herbst."
"Ja." Robert lächelte. Er sah seinen Freund zärtlich an und freute sich. Obwohl sie sich erst seit 4 Jahren kannten und liebten, spürte er, wie sie verwachsen waren und wie viel der damals wilde Junge von ihm übernommen hatte. Wie Rene seine Werte verinnerlicht hatte, das hatte schon was... tolles.
Der schillernde Junge aus der Disco war eigentlich nur als One Night Stand gedacht. Aber jetzt war aus dem Burschen der Mann geworden, mit dem er im Herbst seines Lebens an der Brandung entlangging, die bald nicht nur noch ihre Schritte ablecken würde, sondern sie völlig aus der Zeit löschen.
"Wie lange noch?"
Robert schaute auf die Uhr. "Sieben Minuten."
"Werden wir es sehen?" fragte Rene, aber er meinte: Wird es wehtun?
Robert schüttelte ganz langsam den Kopf: "Nein. Wir werden es nicht einmal merken, wenn es passiert..."
"... ich hab keine Angst mehr, glaub ich. Es ist halt so. Na gut, ich denke ich bin zu jung dafür und so, aber es ist okay so. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte, als scheiß doch der Hund drauf. Man soll gehen, wenn es am schönsten ist."
Robert nickte und sah wieder Tränen in diesen jungen wilden Augen.
"Ich will dich umarmen. Wir haben uns noch nie hier auf dieser Straße umarmt. Also nimm mich in die Arme."
Rene umarmte seinen Freund und drückte ihn fest an sich. Der Wind riss an ihrer Kleidung und zerrte an ein paar von Renes Haarsträhnen. Sie küssten sich leidenschaftlich und Robert sah durch halb geschlossene Augen, dass sich eine massive Wolkenfront aus dem Westen heranschob. Langsam und in einer ewigen Drehung lösten sie sich voneinander und hielten sich nur noch an den Händen, dann an den Fingerspitzen und zuletzt nur noch mit den Augen.
"Hier?"
Rene grinste trotzig und etwas traurig und schüttelte den Kopf. Er deutete auf den nahen Park, zu den Bäumen.
Robert nickte und sie schlenderten, als ob sie alle Zeit in der Welt hätten, über die Straße. Zwei Männer, die zum Einkaufen gehen? Arbeitskollegen, die auf ein Bier gehen und eine nette Bar suchen? Was weiß man?
Dann und völlig unvermittelt begann der Himmel zu kreischen. Das Geräusch eines gigantischen Schneidbrenners. Ein wütendes Geheul aus den Sternen.
Die Luft schien sich zu kräuseln und in Wellen an ihnen emporzulecken. Renes Haare fingen Feuer, seine Haut kräuselte sich und sein Lycratop verschmolz mit der Haut.
Rene zuckte zusammen und kreischte gegen den gigantischen Lärm.
Robert zog Rene zu sich und sagte ohne die Stimme zu heben:
"Nimm meine Hand, mein Freund!"
Und im letzten Wort explodierte weißes, ewiges Licht und richtete über alles Leben.
Und dann war da nur noch Schweigen. Und keine Spuren im Sand.