Der
schwelende Geruch des abklingenden Gewitters lag noch in der feuchten
Luft. Die ersten Wolken brachen auf und ließen die wieder
erstarkten Strahlen der Sonne auf die Felder brennen. Trotzdem; es
hatte geregnet. Es hatte endlich
geregnet!
Die Felder waren in den letzten Monaten zu verkrusteten, vor
Trockenheit aufspringenden Platten geworden und strich man über
die harte Erde, glaubte man Beton zu berühren. Die Bauern saßen
tagsüber an den Fenstern ihrer Häuser, schauten über
ihr verdorbenes Land und einige von ihnen weinten sogar in einem
unbeobachteten Moment. Ihre Frauen standen in der Küche am Herd
und wagten nicht sie anzusprechen, denn die Männer waren nicht
nur verbittert über die `Große Trockenheit´, wie man
es hier allgemein nannte, - nein, viele der Männer waren zornig
und ein falsches Wort konnte genügen, um sie rasend zu machen.
Die Hitze staute sich in den Häusern und hing in den Räumen
wie ein bleiernes Pendel, das sich drehte und drehte und drehte ...
Als dann besagtes Gewitter über das Land brach, völlig
unvermittelt, der Himmel von einer Sekunde auf die Andere finster
wurde - freute sich niemand über den Regen, der sich wie blaue
Seidenfäden vom Himmel auf die Erde herunter schlängelte.
Ein unentschlossener Regen, nicht gleichmäßig und monoton
wie Regen für gewöhnlich ist. Er kam in unregelmäßigen
kurzen Sequenzen, ein heftiger Schwall folgte einem Tröpfeln,
dann wieder ein Sturzbach aus Wasser, der auf die heiße,
durstige Erde der Felder aufschlug und verdampfte. Es regnete bis
spät in die Nacht des folgenden Tages hinein und der Donner des
Gewitters verstummte nur langsam.
»Sieh, es regnet«
sagten die Frauen zu ihren Männern um sie aufzumuntern, doch
diese fühlten sich von den Mächten des Himmels verhöhnt.
Ob es jetzt regnete oder nicht - es war den Männern gleich. Die
Ernte war ohnehin verloren, das Getreide stand matt und verloren da
und wenn die Halme und die Ähren Schatten warfen, sah es aus als
wären sie Skelette irgendwelcher merkwürdigen Tiere.
Die
Kinder, spielten zu Sommerbeginn in den Feldern, das Getreide war
noch gut bei Wuchs und niemand konnte absehen, welch zerstörerischer
Hitze bald schon wüten sollte. So jagten sich die Kinder in
kurzen Hosen über die Felder und die Kleinsten versteckten sich
vor den etwas älteren Kindern. Dann aber, als das Getreide von
der Sonne langsam schwarz und leblos wurde, und sich die Schatten der
Pflanzen veränderten
trauten
sich die Kinder nicht mehr auf die Felder und in der Nacht träumten
sie unruhig.
In der nächsten Woche regnete es wieder,
Tag und Nacht und der Regen fiel auf die rot-weißen Bänder
der Polizeiabsperrung, die inmitten eines Weizenfeldes im Wind
flatterten. Hier in den Feldern hatte man den Jungen gefunden. Vier
Tage später wusste man mit Gewissheit, dass es sich um Ben
Wilgers handelte, 13 Jahre, ein beliebter Junge; sportlich und
fröhlich mit feinen Sommersprossen und einem hübschen
Lächeln. Sein bester Freund, Richard Hewitt, fand ihn in den
Feldern, ohne dass er den Leichnam als seinen Freund Ben erkannte.
Fasziniert stand Richard vor dem toten Körper und musterte das
rohe Fleisch, die feinen Linien der Äderchen und die offen
liegenden Muskeln. Richard wusste zwar, dass es eine Leiche war, aber
er wusste auch, dass mit dieser Leiche irgendetwas nicht stimmte,
dass etwas anders
war,
als mit normalen Leichen die er schon im Fernsehen gesehen hatte.
Doch Richard konnte nicht begreifen, was genau
nicht stimmte,
vielmehr; seine Seele schützte sich vor dieser Erkenntnis. Denn
dem gekrümmten Körper, der da vor ihm lag, dem Körper
seines besten Freundes, war die Haut abgezogen worden. Die
ausgetrockneten Augen starrten in den Himmel. Das rote Fleisch
bildete einen interessanten Kontrast zu dem Braun der Erde. Später
dann, als man Richard sagte, dass es die Leiche seines Freundes Ben
Williger war, fragte er, warum Ben denn so sonderbar ausgesehen
hätte. Die Polizisten antworteten ihm nicht, weil sie nicht
wussten, wie man einem Jungen erklärt, dass sein bester Freund
nicht nur ermordet, sondern auch gehäutet worden war.
In der
folgenden Nacht übergab sich Richard in seinem eigenen Bett und
als seine Mutter ihn am nächsten Morgen weckte, verprügelte
sie ihn für diese, wie sie sagte, `Sauerei´, die er da in
seinem Zimmer angerichtet hatte.
Seine Mutter sprach nie mit
ihrem Sohn über das, was er auf dem Feld gesehen hatte,
stattdessen saß sie vor dem Kamin und schaute jeden Tag
stundenlang in die Asche. Richard fragte sie, was sie denn verbrannt
hätte, woher dieser komische Gestank kam der plötzlich alle
Räume erfüllte.
Daraufhin nahm sie die kleine
Kaminschaufel und rammte sie ihm in die Magenkuhle, sagte ihrem sich
krümmenden Sohn, dass der Gestank aus seinem Zimmer käme,
von seiner Kotze und dass er gefälligst den Boden wischen solle,
wenn er nicht eine heftige Tracht Prügel riskieren wolle. Dass
er den Boden schon acht Mal gewischt hatte und dass es nicht der
Geruch war, der jetzt in den Zimmern hing, wagte Richard ihr nicht zu
sagen.
In der Schule sprachen die Kinder von »Benny ohne
Haut« und dass sein toter, gammliger Körper an heißen
Sommertagen durch die Felder irrte und verzweifelt nach seiner Haut
suchte. Die Erwachsenen hingegen hatten ihre eigene Geschichten. Sie
erzählten, dass dort wo Ben Wilgers gefunden worden war, kein
Blut am Boden war, was bedeutete, dass er woanders getötet
wurde.
Ja, vielleicht sogar im Haus nebenan? Dann erzählten
die Erwachsenen noch etwas, um den Kindern im Dorf Angst zu machen
und damit sie die Felder nicht mehr betraten: Sie erzählten mit
bedeckter Stimme, dass einzige Blut, das man fand, war an den
ausgetrockneten Blättern der Pflanzen. Die Kinder sagten
daraufhin lachend, das Blut sei halt hoch gespritzt, als die Haut von
Bens Leib gerissen wurde ... und die Erwachsenen fragten sie dann,
warum dann aber am Boden kein Blut zu finden war? Und schließlich
erzählten sie den Kindern, dass das Blut sogar in den Wurzeln
der Pflanzen gewesen sei, tief unter der Erde, dass die Pflanzen das
Blut des Jungen getrunken haben, die schwarzen, verdorrten, leblosen
Pflanzen mit den seltsamen Schatten. Die Schatten, die sich
veränderten.
Obwohl inzwischen zwei Jahre vergangen
waren, stellte Richard seiner Mutter immer wieder dieselben Fragen.
Er fragt sie, was er da damals in den Feldern gesehen hatte, was mit
seinem Freund passiert sei, warum Bens Leiche so geglänzt hatte
in der Sonne und warum sie so rot und braun aussah. Seine Mutter
antwortete ihm nicht. Sie lächelte ihn nur an, ein spitzes
Lächeln, und ihre Lippen kräuselten sich. Jedesmal, wenn
Richard seine Mutter nach Ben fragte, lächelte sie nur dieses
süße Lächeln und manchmal verdrehte sie die Augen,
dass man das Weiße sah und es schien, als würden ihre
Augäpfel ein wenig zurückfallen. Dann schlug sie ihn wieder
und gab ihm nichts zu trinken. Trotz der Schläge fragte Richard
sie mit stoischer Begierde immer und immer wieder nach Ben, er flehte
um Antwort, wollte verstehen. Doch sie lächelte nur, als
erinnere sie sich an etwas ganz und gar Wundervolles
...
und dann holte sie meist wieder den Stock und prügelte auf ihren
Sohn ein, schickte ihn anschließend auf sein Zimmer, er solle
sich auf sein Bett legen ... und kam dann, nachdem sie sich gewaschen
und parfümiert hatte, zu ihm ins Zimmer.
Die anderen
Kinder auf dem Schulhof mieden Richard. Ihre Eltern hatten es ihnen
so befohlen - ein unnötiger Befehl, denn keines der Kinder wagte
sich auch nur in die Nähe des Leichenfinders,
wie sie ihn nannten. Alle, bis auf Richard wussten, was mit Ben
Wilgers passiert war. Dass er gehäutet wurde. Richard rannten
ihnen auf dem Schulhof hinterher, folgte ihnen, wenn sie ihm
auswichen und stellte immer die eine Frage. Warum Ben so rot glänzte,
als er ihn fand, warum er so komisch aussah?
Und schließlich
schrien sie es ihm ins Gesicht:
»Weil seine Haut fehlte, Du
Idiot! Man hat sie ihm vorm Leib gerissen!«
Die Kinder
lachten ... »vom Leib gerissen, vom Leib gerissen« ...
Sie sagten ihm, dass was da rot geglänzt hatte, Bens rohes
Fleisch war, so wie man es beim Fleischer vom Schwein oder Rind
kaufen kann, das dort am Schlachterhaken hängt.
»Am
Schlachterhaken, am Schlachterhaken, rot wie Blut, ro-hot wie
Blu-uuhut ...«, ihr Sing-Sang schallte über den Schulhof
und die Lehrerin rief sie zur Ordnung. Als die Pause vorbei war,
strömten alle Kinder in die Klasse, nur Richard blieb draußen
zurück, lehnte sich gegen eine Mauer und weinte.
Richard
hasste die Kinder, all seine Liebe galt seiner Mutter. Sie war doch
schließlich gut zu ihm und alles was sie tat, war richtig und
vernünftig - sogar die Dinge, die in der Nacht auf seinem Zimmer
geschahen. Seine Mutter hatte ihm vor Jahren - als er noch ein
kleines Kind war - gesagt, es sei der letzte Wunsch seines Vaters
gewesen, dass er ihr stets gehorchen und sie lieben müsse.
»Du
musst mich lieben, Richard! Du musst immer da sein! Hast Du das
verstanden?«, fragte sie ihn und er nickte, woraufhin sie ihn
beherrschend ansah, in der irrigen Gewissheit, dass es niemals
jemanden geben würde, mit dem sie um die Zuneigung ihres Sohnes
würde konkurrieren müssen.
In dem Jahr, bevor Ben
Wilgers ermordet wurde - seine Mutter hatte es sich nach dem Tod
ihres Mannes zur Angewohnheit gemacht in den Feldern spazieren zu
gehen - veränderte sich ihr Charakter und als Richard zwölf
Jahre alt wurde, schlug sie ihn zum ersten Mal.
Wenn Richard nach
der Schule auf seinem Heimweg einen Umweg machte oder wenn seine
Mutter sah, dass er in Begleitung eines anderen Kindes die Straße
hoch kam, schlug sie ihn besonders hart. Als Richard dann Ben Wilgers
kennenlernte, ein Junge, dessen Eltern aus einem Nachbardorf
rübergezogen waren, tobte seine Mutter vor Wut. Als sie merkte,
dass Richard sich auch noch mit dem fremden Jungen anfreundete,
schlug sie ihn so hart, dass sie ihren Sohn die nächsten zehn
Tage nicht in die Schule schickte, da sie fürchtete, das Blut
aus den Wunden seines Rückens könnte durch sein T-Shirt
sickern. Aber letztlich konnte sie doch nichts gegen die Freundschaft
zwischen ihrem Sohn und dem fremden Jungen tun. Richard hatte
beschlossen sich mit Ben Wilgers anzufreunden und als sie sah, wie
die beiden zusammen den Weg zum Haus hochrannten, sich gegenseitig
einen Fußball zuspielten und sich laut und herzlich voneinander
verabschiedeten - ohja, da spürte sie einen Stich und sperrte
ihren Sohn fünf Tage lang in den Keller und gab ihm jeden Tag
nur ein Glas Wasser, bis er völlig entkräftet und dem Tode
nahe um Verzeihung bat und sie ihn daraufhin liebevoll wieder
aufpeppelte.
Sie war sicher, dass ihr Sohn nach dieser Bestrafung nie wieder auf
die Idee käme, auch nur ein kurzes Wort mit dem verdorbenen
Wilgers-Balg zu sprechen.
Doch sie irrte. Als Richard eines Tages
von der Schule nicht nach Haus kam und sie ihn schließlich nach
kurzer Suche - sie war eine halbe Stunde umhergefahren - zusammen mit
Ben Wilgers im Dorf beim Eismann sah, schlug sie im Zorn mit der
Faust die Fahrerscheibe ihres Wagens ein. Sie riss die Wagentür
auf, trat durch die Scherben und zerrte ihren Sohn an den Armen ins
Auto. Richard schrie, nicht aber weil sie ihn so heftig gepackt
hatte, sondern weil er gesehen hatte, mit welch bösem
Blick
sie seinen Freund Ben ansah.
Richard war noch ein Kind, er konnte
den Blick seiner Mutter nicht richtig deuten. Für ihn war es ein
einfach nur ein böser
Blick.
Jeder Erwachsene hätte gewusst; diese Frau hasste den fremden
Jungen, diesen Ben Wilgers so sehr, dass sie ihn am liebsten würde
töten wollen. Qualvoll töten. Langsam.
Zehn
Jahre später - Richard war inzwischen 23 Jahre alt, hatte den
Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen, lebte in einer kleinen Wohnung
hinter der Dorfkirche. Eines Tages rief sie ihn an, bat darum ihn zu
sehen, flehte um ein Gespräch. Er wollte sie weder in seiner,
noch in ihrer Wohnung treffen und so schlug er das Café der
Dorfbäckerei vor. Dort, an einem kleinen Tisch der vor der
Scheibe des Schaufensters stand, an der jetzt der Regen herunterlief,
erzählte seine Mutter ihm ganz unvermittelt, ein süßes
Stück Kuchen kauend, dass die Haut von Ben Wilgers ganz weich
gewesen war.
Richard legte die Gabel auf den Teller, seine Hände
zitterten, sein Nacken war starr.
»Ja, weich, seine Haut
war so anschmiegsam weich. Und sie hat geduftet, so schön hat
die Haut geduftet. Sie glitt durch meine Finger, Blut macht
geschmeidig, wusstest Du das?” Sie nahm einen weiteren Bissen
Kuchen.
Richard lehnte sich zurück, damit er ihren Atem
nicht spüren konnte. Die Kellnerin kam und zündete die
Kerze an, die auf ihrem Tisch stand. Als sie das Streichholz zündete,
wusste Richard plötzlich, was seine Mutter meinte - und was sie
getan hatte.
Die Kellnerin entfernte sich und seine Mutter sprach
weiter. Richard wusste schon in diesem Moment, dass er das, was sie
ihm nun erzählen würde, sein ganzes Leben nicht vergessen
könnte. Sie sagte, dass es ein verwundernswertes
Geräusch
gemacht hatte, als sie den ersten Schnitt tat und anfing an Bens Haut
zu ziehen. Ein Geräusch, als würde man ein nasses Stück
Leder zerreißen. Richard starrte sie an und die Schokolade des
Kuchens trocknete an seiner tauben Zunge.
»Und weißt
Du was mein Junge«, sagte sie, »er kommt an mein Bett, er
kommt auch an Dein Bett, er beobachtet uns. Er steht da und sieht zu
wenn wir schlafen. Er kommt mit seinem Gesicht, mit seinem rohen
Fleisch ganz dicht an unser Gesicht. Er bewundert unsere makellose
Haut.«
Sie lachte, das Weiße in ihren Augen wurde
sichtbar. Dann winkte sie ab, schüttelte den Kopf, zwinkerte ihn
an, sodass Fremde hätten denken können, sie würde mit
dem, was sie sagte, einen Scherz machen. Aber das hatte sie nicht.
Richard wusste das. Es war kein Scherz. Seine Mutter schloss die
Augen und als sie sie dann wieder öffnete, war das Lachen
verschwunden, in ihren Augen stand Leere und Verlorenheit, die
Pupillen ihrer Augen direkt in die Augen ihres Sohnes gerichtet.
Sie
beugte sich vor, streckte ihre Hand aus und strich durch das Haar
ihres Sohnes.
»Ben kommt an Dein Bett«, sagte sie,
»denk daran, wenn Du wieder in Deiner hässlichen, kleinen
Wohnung bist. Er kommt zu Dir.«
Dann stand sie auf, nahm
ihre Handtasche und verließ das Café. Richard sah seine
Mutter nie wieder. Sie verschwand einfach. Er hätte sie nicht
angezeigt, er hätte der Polizei nichts erzählt. Es war
schließlich der letzte Wunsch seines Vaters.
»Du
sollst mich lieben, Du musst mich lieben!«, hatte sie doch
immer gesagt. Er hatte es getan, immer und ohne Fragen zu stellen,
sogar in der Nacht und die Nacht war immer das Schlimmste. In der
Nacht hatte es weh getan, sie zu lieben, am Tag war es nur eine
lästige Pflicht, die er aber gerne erfüllte, um seines
Vaters Willen. Er erinnerte sich nicht mehr an seinen Vater, er war
Bauer, hatte die Felder bestellt, den Weizen geerntet, starb an einem
Schlaganfall, mitten auf dem Feld, während der Arbeit im
Spätsommer. Damals war Richard sieben Jahre alt.
Kurz nachdem
sein Vater gestorben war, kam seine Tante, die er noch nie gesehen
hatte, ins Haus. Man sagte ihm, dass es seiner Mutter nicht gut ginge
und sich daher seine Tante eine Weile um ihn kümmern würde.
Sie war eine lustige Frau, sie konnte Klavier spielen und brachte
ihren Hund mit, sodass Richard fast vergaß, aus welchem Anlass
seine Tante überhaupt hier war. Er wollte nicht, dass sie ging,
aber sie erklärte ihm, sie dürfe nur so lange bleiben, bis
sich seine Mutter wieder erholt habe.
Und in der Tat; seiner
Mutter ging es nach dem Tod ihres Mannes wirklich schlecht. Sie saß
am Tisch in der großen Küche, das Licht auch dann
ausgeschaltet, wenn es draußen schon dunkel war. Immerzu
murmelte sie etwas von den Feldern ... die Felder seien Schuld, die
großen Felder in denen es auch am Tage dunkel sei. Sie
nuschelte Unverständliches aber manchmal sprach sie ganz
deutlich. Dann verstand man, was sie sagte und die Leute, die sie
besuchten erschraken, darüber. Sie sagte, die Felder hätten
ihren Mann genommen.
Was sie den meinte mit `genommen´?
»Gegriffen!«,
antwortete sie.
Wochen vergingen, Richards Mutter saß
da und schlief manchmal am Tisch ein. Selbst zur Beerdigung ihres
Mannes ging sie nicht. Immer und wieder sagte sie nur diesen einen
Satz: „Die Felder haben meinen Mann genommen».
Nach ein
paar Monaten ging es ihr besser, sie schickte ihre Schwester fort und
kümmerte sich wieder um ihren Sohn. Einnehmend, intensiv, mit
ihrer ganzen, grauenvollen Leidenschaft.
Sie verkaufte den Hof und
mietete eine große Wohnung im Dorf. Geld war für sie
unerheblich, trotzdem lebten sie bescheiden und wenn Richard um Geld
für einen Schulausflug bat oder für eine Fahrt in das
Schwimmbad in der 20 Kilometer entfernten Stadt, verweigerte sie ihm
das Geld.
»Ausflüge sind unnütz, Du sollst bei
mir bleiben« oder »Du brauchst kein Schwimmbad, wir haben
doch eine Badewanne«. Richard dachte es sei wegen des Geldes,
dass die Ausflüge zu teuer seien.
Die Wohnung hinter
der Kirche in der Richard jetzt lebte hatte keine Badewanne. Obwohl
er in seiner Wohnung immer alleine war, zog er sich nie ganz aus. Er
ertrug seine eigene Nacktheit nicht, benutzte nie die Dusche, und
wusch sich meist nur mit einem Handtuch und einem Waschlappen, wie
auch jetzt, nachdem er aus der Dorfbäckerei zurückkam. Es
war ein Fehler gewesen, sich nach so langer Zeit, nach all den
Jahren, wieder mit seiner Mutter zu treffen.
Richard saß
auf einem Stuhl in seiner Wohnung und weinte über das, was seine
Mutter ihm soeben gestanden hatte. Er war sicher, es sollte kein
Geständnis sein. Auf keinen Fall. Es ging nicht darum, dass sie
es bereute. Nein. Sie hatte es ihm erzählt, um ihn zu bestrafen,
weil er aus ihrer Wohnung gezogen war und sie nun nun alleine leben
musste. Sie sagte es, um ihm weh zu tun.
Als er vor Jahren auszog
hatte er zu ihr gesagt, dass er all das, was sie mit ihm getan habe,
vergessen wolle. „Ich will Dich endlich vergessen,
Mutter!«
Vergessen ... vergessen? Das ging nun seit diesem
Nachmittag nicht mehr. Dafür war es jetzt zu spät. Jetzt
saß sie ihm in seinen Gedanken für alle Ewigkeit
gegenüber, in diesem verdammten Café und das was sie ihm
dort gesagt hatte, loderte in seinem Gedächtnis, in seiner Seele
und brannte sich ein. Selbst der Klang ihrer Stimme blieb präsent,
sogar in der Nacht. Sie hatte leise gesprochen, sie hatte geflüstert
... oh,
sie war so weich, die Haut war so weich und sich glitt durch meine
Hände ... und weißt Du was mein Junge, er kommt an Dein
Bett ... mit seinem rohen Fleisch ganz dich an unser Gesicht...
Er
konnte ihre Stimme nicht vergessen, ihr Flüstern und wenn er
nachts in seinem Bett lag, ließ er das Licht brennen. Sein
bester Freund, Ben Wilgers war nun seit 15 Jahre tot, ermordet
als
13-jähriger Junge, gehäutet und aufs Feld gelegt.
Sein toter Körper wie ein kleiner Vogel, der sterbend vom Himmel
fiel, um in der gleißenden Sommersonne zu vertrocknen und zu
skelettieren.
Er
kommt an Dein Bett ... mit seinem rohen Fleisch ganz dich an unser
Gesicht.
Ben
Wilgers. Aus dem besten Freund wurde für Richard in den nächsten
Wochen eine albtraumhafte Gestalt, ein schrecklich entstelltes Wesen,
das in der Nacht kommt, und dessen rohes Fleisch rot und bräunlich
im Licht des Mondes glänzt, die Augen gelblich verfärbt, in
die Höhlen eingesunken, ein schmerzentstellter Blick, den Mund
aufgerissen, ein brüllender, panischer Schrei der noch in seiner
Kehle steckte, unfähig ihn zu herauszulassen ... und an der
rechten Schulter hing noch ein Stück Haut, jung, sonnengebräunt,
mit lustigen Sommersprossen eines einst hübschen Jungen.
Richard
erinnerte sich an diesen Fetzen Haut an der Schulter der Leiche,
zurück an den Tag als er sie fand. An diesem Stück Haut,
erkannte er als erstes, dass das, was da vor ihm lag ein Mensch war.
Unterbewußt wusste er vielleicht schon im ersten Moment, dass
es sein Freund Ben war, schließlich waren die Sommersprossen
unverwechselbar.
Richard wünschte sich seit jenem Tag zwar,
dass Ben nicht ermordet worden wäre - viel mehr als das wünschte
er sich jedoch, dass nicht er ihn gefunden hätte, sondern
irgendjemand anderes.
Richards Kindheit war zwar vergangen, doch
sie wollte nie wirklich enden. Jetzt kam Ben in der Nacht an sein
Bett, ganz dicht und sein Atem roch nach diesem heißen Sommer
von damals, nach dem Sommer, indem es die »Große
Trockenheit« gab, wie die Leute es nannten und davon sogar
heute immer noch sprachen. Sie sprachen nicht über diesen
Sommer, weil er so heiß war, sondern weil damals »das mit
dem Jungen im Feld« geschehen war, der Junge der auch jetzt in
heißen Nächten noch durch die Felder irren soll, um seine
Haut zu suchen.
Jedes Mal, wenn Ben Wilgers sich
in der Nacht über das Bett seines Freundes beugte und dabei
seine toten, eingesunkenen Augen auf dem Bettlaken ruhten, unter dem
sich sein Freund Richard vor der Nacht, seinen Phantasien und dem was
da draußen sein mochte, versteckte, hätte er am liebsten
das Laken gefasst, es weggerissen und geschrien »sieh mich an,
sieh mich gefälligst an! Wir waren Freunde! Und jetzt versteckst
Du Dich vor mir.«
Aber das tat Ben nicht. Er konnte es
nicht. Er wollte seinem Freund keine Angst machen. Er wusste, dass er
sich endlich verabschieden musste, dass er nicht zurückkehren
durfte an diesen Ort, in dieses Dorf, auf diese Felder. Er hatte der
Frau verziehen. Sie war eine einsame Frau und als sie ihn damals
gefesselt und geknebelt hatte, sah er in ihre Augen, in ihre
Einsamkeit.
Als sie das Messer ansetzte, sagte sie, es würde
jetzt weh tun, aber er solle keine Angst haben, sie würde ihn
nicht umbringen. Sie werde nur machen, dass ihr Sohn Richard sich vor
ihm fürchtete. Richard habe nämlich Angst vor hässlichen
Dingen, und wenn sie mit ihm fertig sei, würde er das
Hässlichste im ganzen Dorf sein. Und dann würde sich ihr
Sohn nie wieder mit ihm abgeben, nie wieder mit ihm Fußball
spielen, nie wieder mit ihm umherlaufen. Richard würde angeekelt
sein beim Anblick seines Freunde.
Sie setzte das Messer an seinen
Arm, der Schnitt tat weh aber Ben konnte es aushalten und als sie
anfing an seiner Haut zu ziehen kitzelte es sogar. Als Ben sah und
begriff was sie tat und plötzlich dieser reißende Schmerz
durch seinen Arm fuhr, verlor er das Bewusstsein.
Irgendwann
wachte Ben wieder auf, lag am Boden des Raums, ihm war kalt. Im Raum
war es dunkel, es roch bitter. Ben tastete umher, orientierungslos,
fasste in eine sonderbar matschige Masse, die neben ihm auf dem Boden
lag. Ben stand auf und jeder Schritt fühlte sich merkwürdig
an, glitschig, als sei er in ein Fass Motorenöl gefallen, und es
gab keinerlei Reibung, wenn er sich bewegte. Er wusste, dass etwas
nicht stimmte, er hatte Schmerzen, konnte den Schmerz aber nicht
lokalisieren. Und es war so kalt, so entsetzlich kalt. Irgendwie fand
er die Tür, stand dann in einem Flur, tastete wieder umher, fand
eine andere Tür, bis er schließlich im Freien auf einer
Veranda stand. Ben rannte los, rannte so schnell er konnte, obwohl es
ihm vorkam, als torkelte er nur. Er blickte über die Schulter
und erkannte das Haus seines Freundes Richard - seine Mutter stand in
der Verandatür, sie winkte ihm zu, sie lachte, er hörte sie
rufen: »Jetzt bist Du das Hässlichste im ganzen Dorf!«
Ben
überlegte ... das Hässlichste im ganzen Dorf? Dann
erinnerte er sich, was vorhin geschehen war, an das Messer ... er
rannte weiter, immer weiter, hinein in die Felder, wo er merkte, dass
er humpelte. Nein, nein! Er durfte nicht humpeln, morgen hatten sie
in der Schule Sport und er würde doch so gerne als Verteidiger
spielen ... aber wenn er humpelte, musste er vielleicht ins Tor und
im Tor stehen war langweilig. Er rannte weiter, überall dieser
diffuse Schmerz, írgendetwas Rotes lief in seine Augen, er
konnte nicht mehr viel erkennen, alles war rötlich verfärbt,
das Mittagslicht brannte auf seine Netzhaut und aus dem Rot wurde im
durchscheinenden Licht der Sonne ein Rosa. Er rannte weiter, die
vertrockneten Ähren der Felder streiften seine Haut ... er
rannte und rannte. Irgendwann blieb er erschöpft stehen und
wischte sich das Blut aus den Augen - ohne zu realisieren, dass es
Blut war. Der Schmerz wurde quälender und schließlich sah
er auf seine Arme, sackte bei diesem Anblick in sich zusammen, ihm
schwindelte, sah seine Beine, seine Knie, sah an seiner nackten Brust
runter, sah auf seine nackten Schultern. Ja, da war ja noch Haut! An
seiner Schulter war noch Haut! Er freute sich so sehr über
diesen Fetzen Haut, dass er darüber hinweg verdrängte, dass
es die einzige Stelle seines Körpers war, an der überhaupt
noch Haut war.
Er dachte sich, dass wenn auf seiner Schulter noch
Haut war, das Ganze schon nicht so schlimm sein könne. Er wollte
lachen, aber das ging nicht und behutsam glitt er mit seiner Zunge
tastend über die Lippen, aber statt seiner Lippen waren da nur
die offen liegenden Zahnhälse. Seine Lippen waren nicht da und
als Ben das begriff, wollte er aufbrüllen, seine gehäuteten
Hände gruben sich, in die steinharte, ausgedorrte Erde des
Feldes. Seine Augen starrten in den Himmel, ein kleiner Vogel flog
vorbei, piepste ihm lustig zu als wolle er ihn aufmuntern. Als Ben
den Vogel sah, lächelte er und schloss die Augen, fiel auf den
harten Boden, wobei seine Handgelenke, die in der harten Erde
steckten, umknickten und die zarten Knochen splitterten, dieses
Knacken das Letzte war, was er hörte und der Tod - der
irgendwann am frühen Abend eintrat - eine Gnade für den
Jungen war.
»Du brauchst keine Angst haben«, sagte
Ben, als er in der Nacht vor dem Bett seines schlafenden Freundes
stand, der zusammengekauert unter der Bettdecke lag und und in seinen
Träumen unsägliche Dinge durchlebte. Dann verließ Ben
das Zimmer, denn es war noch nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu
zeigen.
Als es am Morgen langsam hell in dem kleinen Zimmer wurde
und die Glocken der benachbarten Kirche zur Frühmesse läuteten,
zog Richard langsam die Bettdecke zurück. Zögerlich schlug
er die Augen auf, der Moment vor dem ihm immer am meisten fürchtete;
zu sehen was dann vor ihm wäre. Furcht in ein gehäutetes
Gesicht zu sehen, in gelbe, aufgequollene Augen, eitrig und tot - um
dann schließlich die Haut mit den Sommersprossen auf der
Schulter von Ben Wilgers zu erblicken. Richard spürte förmlich
den Atem seines ermordeten Freundes, ein Freund der ihm zum Gespenst,
zur Bestie wurde. Das diesige Licht des frühen Morgens, die
fahlenen Sonnenstrahlen die durch die Maschen der Gardine fielen
erhellten den Raum, und feiner Staub flog ziellos und träge
umher. Ein leerer Raum, kein Gespenst, keine Bestie, kein kleiner
Junge.
Die Jahre vergingen und Richard erfuhr, dass seine
Mutter gestorben war. Außer ihm selbst nahm niemand im Dorf von
ihrem Tod Kenntnis, als hätte sie nie dort gelebt. Seine Tante
schrieb eine Karte mit einem Trauergruß und erinnerte ihn an
die vergnüglichen Wochen, die sie vor vielen Jahren zusammen
verbrachten. Richard warf die Karte fort und antwortete seiner Tante,
sie bräuchte nicht herzukommen, es gäbe ohnehin keine
Beerdigung und dass er seine Mutter verbrennen lassen wolle, der
Bestatter schon Anweisung hätte, alles vorzubereiten.
Einige
Tage später stand Richard allein in einem der engen,
holzvertäfelten Verabschiedungsräume
und
beobachtete durch eine Glasscheibe, wie der Sarg seiner Mutter Zeit
vergeudend langsam in den Ofen gefahren wurde. Die Scheibe war getönt
und hatte verschlungene Rillen, die alles verzerrten. Schließlich
sollte niemand der Angehörigen Details von dem erkennen, was
hinter der Scheibe passierte. Richard lauschte dem mechanischen
Geräusch der Transportbänder und spürte Erleichterung,
als endlich die ersten Flammen den Sarg umhüllten. Ja, zuerst
würde das Holz brennen, dann ihre Kleidung, ihr Haar,
schließlich ihre Innereien und zuletzt würden ihre Knochen
in den Flammen zerbröseln. Nicht bliebe von ihr übrig,
nichts außer ihrer Worte, ihrem Flüstern ...
und weißt Du was mein Junge, er kommt an Dein Bett ... an Dein
Bett ...
Dann
- aber wahrscheinlich bildete er sich das nur ein - roch es in dem
kleinen Raum des Krematoriums genauso, wie damals in der Wohnung, an
dem Tag, als er fragte, was das denn für ein komischer Geruch
sei und seine Mutter ihn für diese Frage grausam verprügelt
hatte. Richard atmete tief ein und sog die Luft in dem
Verabschiedungsraum auf. Es war keine Einbildung. Es war wieder
dieser speziellen Geruch aus seiner Kindheit, ein Geruch, den er nie
identifizieren konnte, modrig, rauchig, süß, dieser
Geruch, der sich nie wieder vollständig aus der Wohnung seiner
Mutter verflüchtigt hatte und ihm deshalb über Jahre
gegenwärtig war. Auf einmal verstand Richard, woher diese Geruch
damals kam und er begriff entsetzt, was seine Mutter in dem Ofen
verbrannt hatte. Aber es war egal, sie war tot, sie verbrannte direkt
vor seinen Augen. Er würde ihre Asche auf den Feldern zwischen
dem Weizen verstreuen, auf dass der Wind sie davon trüge, weit
weg von ihm, fort aus seinem Dorf.
Gedankenverloren starrte
Richard durch die getönte Glasscheibe und plötzlich -
diesen Moment würde er nie wieder vergessen - sein Atmen setzte
aus, er fuhr zusammen, schrie auf, laut, fürchterlich laut aber
nur ganz kurz, dass man meinen könnte, das Transportband, das
den Sarg in die Flammen fuhr, hätte so entsetzlich gequietscht.
Dann sah Richard genauer hin, sah die Spiegelung in der Glasscheibe,
sah wie sich das Gesicht was sich da reflektierte mit den hellen
Flammen des Ofens hinter der Scheibe vermischte, und durch das
Flackern noch lebendiger wurde, pochend und lodernd. Er atmete nicht,
bewegte sich nicht, wie ein reißender Krampf der durch seinen
ganzen Körper fuhr, und ihn zu jeglicher Bewegung unfähig
machte. Er starrte auf die Spiegelung in der Scheibe und erkannte an
der Schulter, an dem Fetzen Haut der daran hing, wer sich mit ihm in
dem engen Raum befand. Ben Wilgers neigte den Kopf und gaffte ihn an.
Langsam drehte Richard sich um und sah dem entstellten Jungen in die
Augen. Ja, die Augen waren tatsächlich gelb, wie seine Mutter es
gesagt hatte. Gelb, eingefallen, tief in ihren Höhlen, glanzlos.
Ben Wilgers kam näher, Richard trat zurück und presste sich
an die getönte Scheibe, spürte die Hitze des Ofens durch
das Glas.
Der gehäutete Junge sagte etwas, aber Richard
konnte es nicht verstehen. Die Kreatur, die da vor ihm stand, war
anatomisch gar nicht mehr in der Lage verständlich zu sprechen.
Sie hatte keine Lippen mehr, die Zahnhälse lagen offen und die
Backen waren bis zu dem Kiefer abgerissen.
Trotzdem; immer und
immer wiederholte Ben Wilgers, seine Worte.
In seiner monotonen,
matschigen Stimme lag Konzentration, Anstrengung und
Verzweiflung.
»Ich versteh es nicht, ich kann Dich nicht
verstehen!«, sagte Richard und presste sich voller Ekel mit dem
Rücken an die Scheibe. Ben versuchte es weiter, obwohl es
sinnlos war. Aus dem Loch in seinem Kopf, wo einst der Mund war, kam
nichts, was auch nur annähernd verständlich war.
Richard
hielt es nicht aus.
»Ben, bitte, es tut mir Leid! Ich
versteh nicht was Du sagst. Bitte geh. Bitte geh jetzt!«
Doch
Ben versuchte immer noch mit größter Mühe, inzwischen
verzweifelt und angestrengt zu sprechen, warf seinen Kopf vor und
zurück, als würde dies bei seinem Bemühen zu sprechen
helfen.
»Ben, bitte geh! Verschwinde! Ich ertrag Dich
nicht.« Richard presste sich so fest gegen die Scheibe hinter
seinem Rücken, dass er befürchtete sie würde brechen.
Vielleicht, überlegte er, wäre es sogar gut, wenn sie
zerspringen würde, dann könnte er in das Feuer des Ofens
springen und alles wäre endlich vorbei.
Ben kam noch einen
Schritt näher und gluckste immerwieder dieselben,
unverständlichen Worte wiederholend. Das Knacken das hinter der
Scheibe dumpf aus den Flammen drang wurde lauter, plötzlich gab
es ein morsches Geräusch, anscheinend war der Sarg
zusammengefallen.
Richards panisches Kreischen füllte den
Raum, als der gehäutete Junge die Hand nach ihm ausstreckte,
fast schon zärtlich. Richard verstand nicht, dass es nur ein
Abschiedsgruß sein sollte.
Ben Wilgers wollte ihn berühren,
ihm die Hand geben, schreckte dann aber - als er sah, wie sehr sich
Richard vor ihm ängstigte - zurück.
Eine Träne
lief über das rohe Fleisch seiner hautlosen Wange und Ben
erinnerte sich an das, was Richards Mutter ihm von der Veranda aus
hinterher geschrien hatte, nachdem er aus dem Haus gerannt war:
»Jetzt bist Du das Hässlichste im ganzen Dorf!«
Ben
sah Richard in die Augen, drehte sich um und ging, während
dieser sich vor Ekel die Hände vor die Augen presste, dann mit
dem Rücken an der Scheibe herunter glitt und zusammengekauert am
Boden verharrte. Nach einer Weile, die Flammen des Ofens waren
inzwischen erloschen, betrat der Bestatter den engen Raum, half
Richard hoch, tröstete ihn mit seinen Bestatterweisheiten in dem
Glauben, der junge Mann traure um seine tote Mutter.
Die Zeit
verging, es wurde Sommer und Winter und wieder Sommer ... doch nie
gab es einen derart heißen Sommer wie damals, als die Große
Trockenheit war, der Sommer als man den ermordeten Jungen im Feld
fand. Die Sommer waren jetzt zwar immer noch sonnig und heiß,
aber nie so schwelend, als dass es der Ernte schaden könnte.
Einige Bauern gaben die Getreidezucht auf. Sie fürchteten sich
vor den Feldern. Sie konnten den toten Jungen nicht vergessen. In
ihnen spukte immer noch das Gerede von einst, die Vorstellung, dass
die Pflanzen das Blut bis zu den Wurzeln aufgesogen hatten, man
jedoch auf dem Boden selbst keinen einzigen Tropfen fand. Sie malten
sich aus, wie der Leichnam des Jungens umherlief, und nach seiner
Haut suchte. Einige der Älteren unter ihnen - vielleicht waren
manche schon dem Altersschwachsinn anheim gefallen - glaubten sogar,
den gehäuteten Jungen gesehen zu haben ... immer dann, wenn es
an heißen Tagen anfing Dunkel zu werden. Die Alten erzählten
im Dorf, wie nah der Junge an ihre Häuser und ihre Fenster kam
und manchmal sogar hinein sah. Niemand glaubte ihnen. Sie wurden
verspottet und belächelt. Trotzdem machte ihr Reden den Leuten
Angst und wie es mit Gespenstergeschichten für gewöhnlich
ist, haften sie in den Köpfen der Menschen, wie Kletten die sich
in einem dichten Wollmantel verfangen. Versucht man die Kletten zu
ziehen, bleiben ihre feinen Widerhaken immer im Stoff stecken.
Niemand verbrachte mehr Zeit in den Feldern als unbedingt nötig.
Die Eltern verboten ihren Kindern zwischen dem Weizen zu spielen.
Weil in den Feldern etwas existierte, das ganz und gar -
unausprechlich - war. Die Bauern fuhren um zu säen oder zu
ernten nie mehr alleine auf ihren Traktoren hinaus, weil - und das
war ihre Ausrede - es halt geselliger
sei,
wenn man zu zweit auf dem Bock saß.
Ein älterer
Mann jedoch, den einige von ihnen nur vom sehen kannten und dessen
Mutter zu ihren Lebzeiten von allen Leuten im Dorf gemieden wurde,
ging an manchen Tagen in den Feldern zwischen den Weizen spazieren,
als handle es sich um einen schönen Wald oder eine blumige
Sommerwiese.
»Der Alte - er hat den Jungen damals gefunden.
Ja ja, den gehäuteten Jungen! Ja, doch! Er hat sich nie davon
erholt, hat den Verstand verloren, geisteskrank, ja, ja.«
Die
Leute zerissen sich das Maul und gingen dem alten Mann, diesem
Sonderling
aus
dem Weg.
Nach Jahren, als sie erfuhren, dass er sich ein Messer in
die Brust gerammt hatte, in seiner völlig verkommenen Wohnung
hinter der Kirche, bedauerten sie scheinheilig ihn nie kennengelernt
zu haben und die, die ihn auf dem Schulhof als sie noch Kinder waren
gepeinigt hatten, schämten sich.
Er wurde neben dem Grab
seines Vater beerdigt, der - so erzählten die Älteren im
Dorf - auch auf den Feldern bei der Arbeit gestorben war. Niemand kam
zu seiner Beerdigung. Stille lag über dem Friedhof und die
Grabsteine warfen im Licht der Dämmerung Schatten, während
zwei Arbeiter den Sarg in das ausgehobene Grab abseilten.
Nur aus
der Ferne sah jemand zu. Ein einziger Gast. Ein kleiner Junge mit
einem entrückten Lächeln auf seinem Gesicht, die Arme steif
herunterhängend, die Hände verkrüppelt abstehend, die
Augenlider geschlossen und mit Sommersprossen auf der kindlich,
weichen Haut seiner rechten Schulter, die langsam verblassten.