Ein Tag wie jeder andere
Es war kühl hier oben, auf dem Dach des sechsstöckigen
Hochhauses, in dem Dennis mit seiner Familie lebte. Ein leichter Wind ging.
Dunkle Wolken verdeckten die abendliche Sonne. Es roch nach Regen. Dennis stand
am Geländer und betrachte den leeren Hinterhof unter ihm. Nur ein paar Mülltonnen,
sonst Nichts. Obwohl er eine dicke Jacke trug, fror er. Seine Hände umklammerten
fest das Geländer. Es war Donnerstag, der 5. November. Ein Tag wie jeder andere.
So beschissen wie jeder andere, und so sinnlos wie jeder andere zuvor. Nur mit
einem Unterschied. Einem gewaltigen. Es würde
Er würde ihr weh tun. Sie tief verletzen. Aber es ging nicht anders. Er konnte nicht mehr.
Dies würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Endgültig. Unwiderruflich.
Aus seiner Hosentasche holte er eine Packung Lucky Strike heraus, und ein Feuerzeug. Er rauchte seit drei Jahren. Erst eine Kippe am Tag, mittlerweile waren es fast zwei Schachteln. Er hatte einmal versucht aufzuhören, aber es machte nicht viel Sinn. Schon damals, vor einem knappen Jahr, wusste er, das er bald sterben würde. Er würde dem Krebs zuvorkommen. Er holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Dann steckte er die Schachtel wieder zurück in die Hosentasche. Er schaute sich die Kippe eine Zeitlang an.Es würde seine letzte sein. Seine Gedanken schweiften ab.
2
Dieser
Tag hatte begonnen wie jeder andere. Morgens um sechs Uhr war er mühsam aufgestanden.
Er hatte die Nacht davor schlecht geschlafen. Er hatte geduscht und sich seine
besten Klamotten angezogen. Er machte sich seine Haare ( was ihm heute sinnlos
vorkam) und packte seinen Schulranzen.
Als
nächstes machte er seine Stereoanlage an. Harter Gitarrensound dröhnte aus den
Boxen. Es war Master of Puppets von Metallica. Eins seiner Lieblingslieder.
Er hatte die CD zu seinem Geburtstag, von seiner Mutter, bekommen. Es war nicht
all zu lange her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Beim Gedanken daran
traten Tränen in seine Augen. Es war vielleicht nicht das teuerste Geschenk,
das er je bekommen hatte, aber es war das schönste, und das, was ihm am meisten
gefreut hatte. Er erinnerte sich wie glücklich er an jenem Tag war. Damals hatte
er das Gefühl gehabt, es würde sich alles zum Guten wenden. Er würde es schaffen,
sich verändern. Damals.
Dennis
fing an zu weinen. Warme Tränen flossen an seinen Wangen herunter und sammelten
sich an seinem Kinn. Er steckte sich noch eine Kippe an und verlies dann die
Wohnung. Bis zur Bushaltestelle brauchte er eine knappe Viertelstunde. Er lies
sich Zeit. Sonst brauchte er nur zehn Minuten. Aber was spielte es für eine
Rolle, ob er den Bus verpasste, oder nicht. Im Grunde genommen war es scheißegal.
Dennis war aber noch rechtseitig da. Der Bus kam später als sonst. Viele kleine
Gruppen standen an der
Ein
paar kleinere Kinder, und Jugendliche ungefähr in seinem Alter. Sie beachteten
ihn nicht. Das hatten sie noch nie getan. Dennis blieb allein für sich.
Er
war froh, wenn man ihn in Ruhe lies. Das war an diesem Morgen zum Glück der
Fall. Manchmal machten ihn welche an, oder nahmen ihm sogar sein Geld weg. Heute
schienen sie noch nicht einmal zu bemerken, dass er anwesend war.
Die
Schule war ein weiterer Ort der Erniedrigung für Dennis. Er hasste die Schule
seit dem ersten Tag. Er ging auf eine Realschule ganz in der Nähe seines Hauses.
Mit dem Bus war er in zwanzig Minuten da. Als er die Tür zu seinem Klassenzimmer
öffnete, begrüßte ihn Tom, einer seiner Klassenkammeraden.
>>
Na, Schwuchtel. Wie geht’s? << Rief er. Ein paar Mädchen, die in der Nähe
standen, fingen an zu kichern.
>>
Lass mich in Frieden, << sagte
Dennis und versuchte so gelassen wie möglich zu klingen. Tom ging auf ihn zu.
Er war mindestens einen Kopf größer als Dennis und hatte ein verdammt breites
Kreuz. Er packte Dennis am Kragen seiner Jacke und drückte ihn gegen die Wand.
>>
Willst du mir sagen was ich zu machen habe, kleiner Scheißer. Willst du das?
<< Fragte er und drückte noch fester zu. Dennis brachte kein Wort heraus.
Seine Knie zitterten.
Es
klingelte und der Lehrer kam ins Klassenzimmer.Tom lies ihn los.
Der
Lehrer, Herr Müller, war ein alter, gebrochener Mann, der auf seine Pension
wartete, und der die letzten zwei Jahre seiner Karriere keinen Ärger mehr bekommen
wollte. Er tat so, als hätte er nichts gesehen. Dennis atmete tief durch und
ging dann zu seinem Platz in der letzten Reihe. Sofort wurde es still.
>>
Guten Morgen, << sagte Herr Müller und öffnete seinen Aktenkoffer.
Von
draußen hämmerte der Regen gegen die Fensterscheiben.
Der
Unterricht war langweilig, und zu schwer für Dennis. Er kam nicht mit.
Genau
genommen war er noch nie mitgekommen, aber damals hatte er sich wenigstens bemüht.
Zum Glück hatten sie heute nur fünf Stunden.
In
der letzten Stunde hatten sie Englisch. Das langweiligste Fach von allen.
Zehn
Minuten, bevor es klingeln würde und er dieses verfluchte Gebäude nicht mehr
betreten musste, meldete er sich und fragte, ob er auf die Toilette gehen dürfe.
Frau Ronnstein willigte ein. Dennis schritt mitten durch den Klassenraum, vorbei
an kicherten Mädchen, die nach seiner Meinung alle als heroinsüchtige Nutten
enden würden, und hasserfüllten Blicken von Vollidioten. Einer versuchte ihm sogar das Bein zustellen.
Aber
lässig stieg Dennis drüber. Heute nicht, dachte er und verlies die Klasse.
Der Flur war nur schwach beleuchtet und verlassen. Es passte zu Dennis Stimmung.
Langsam schlenderte er weiter. Die Toiletten waren in der untersten Etage. Überall
lagen ausgetretene Zigarettenstummeln auf dem Boden. An den Wänden waren Graffitis.
Es stank fürchterlich nach pisse. Hier war Dennis oft zusammengeschlagen worden.
Meist waren sie mit zu viert oder zu fünft auf ihn zugekommen. Zwei hatten seine
Arme festgehalten, einer passte auf, dass sie nicht gesehen wurden und einer
schlug auf ihn ein. Manchmal, weil sie Geld wollten, oder aber einfach nur so
zum Spaß, wenn sie sich abreagieren wollten, wenn sie schlechte Noten geschrieben
hatten. Scheiße, wie er dieser Wichser hasste! Es waren meist Ältere und er
hatte keine Chance sich irgendwie zu wehren. Wäre er zu einem Lehrer gegangen,
wäre alles nur noch schlimmer geworden, vielleicht hätten sie ihn sogar umgebracht.
Außerdem machten die Lehrer nichts. Sie hatten selber Angst. Es kam fast jede
Woche vor, dass ein Lehrer geschlagen oder mit einer Waffe bedroht wurde. Dennis
versuchte an was anderes zu denken und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte
noch nie in der Schule geraucht.
Aber
heute würde es keine Rolle spielen, ob er erwischt wurde oder nicht.
Plötzlich
sah er Lisa vor seinem geistigen Auge. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen.
Es war seine erste große Liebe gewesen. Sie hatte langes, braunes Haar gehabt
und noch längere Beine. Aber sie war letzten Sommer weggezogen. Raus aus Berlin.
Irgendwo aufs Land. Sie war so was wie eine Freundin für Dennis gewesen. Sie
hatte gesagt sie würde ihm schreiben, aber das hatte sie nicht getan. Monate
hatte Dennis sehnsüchtig auf einen Brief von ihr gewartet, und jeden Tag wurde
er enttäuscht. Fahr zur Hölle, dachte er und spürte das Hass in ihm aufstieg.
Das Gefühl des Verlusts, das er verspürt hatte, war längst verschwunden. Jetzt
hatte er nur noch Wut auf sie. Mehr nicht, nur erbitterte Wut. Dennis zog an
seiner Zigarette. Er musste zurück in die Klasse. Es würde bald klingeln. Also
warf er die Kippe weg und beeilte sich.
Gerade
als er angekommen war und er die Tür öffnete läutete es. Er packte schnell seine
Sachen zusammen und folgte dann den anderen Schülern aus dem Gebäude. So ging
sein letzter Schultag zu Ende. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, es
nieselte nur noch
Ein
bisschen. Um zwei Uhr kam Dennis nach Hause.
Es
war still. Verdächtig still. Der Fernseher ( der normal immer lief) war nicht
eingeschaltet. Im Flur blieb er bei einem Bild stehen. Es stach jedem Besucher
Sofort
ins Auge. Es war größer als die anderen Gemälde und war alles andere
Als
farbenfroh. Es entsprach normalerweise nicht dem Stil seiner Mutter.
Dennis
fiel auf, dass er zwar unzählige Male an diesem Bild vorbeigegangen
War,
es aber noch nie richtig betrachtet hatte. Es hatte keine Aussage für ihn gehabt.
Das war in diesem Moment schlagartig anders. Das Bild zeigte eine Reihe von
Männern, allesamt in Mänteln und mit Hut ( was Dennis darauf schließen lies,
das es aus den 20. oder 30. Jahren stammte ), die alle in einer Reihe standen.
Ihre Gesichter sah man nicht, weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrten.
Alle bis auf zwei Männern. Der eine schaute zur Seite, und ein Mann hatte sich
komplett umgedreht. Mit einem fragenden Gesicht blickte er Dennis jetzt an.
Der Hintergrund des Gemäldes war dunkel, wie auch die Kleidung der Männer. Der
erste Gedanke, der Dennis durch den Kopf ging lautete Konzentrationslager.
Und
die Männer erinnerten ihn an die Juden.
Diese
Männer werden, wie die Juden damals, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt. Und
alle lassen sich ohne Widerstand dorthin führen. Manche wissen noch nicht einmal
was sie erwarten wird. Wenn sie es wissen, wird es zu spät sein. Nur die beiden Männer erkannten
die Gefahr, aber zum umkehren war es bereits zu spät. Genauso erging es ihm,
Dennis. Er sah die Gefahr in dieser Welt, die von Medien und falschen Idealen
gelenkt wurde. Er hatte so lange wie möglich versucht gegen diesen Strom von
Korruption, Lügen und Angst anzuschwimmen, doch er hatte genauso wenig Erfolg
damit gehabt, wie der Mann auf dem Bild, der ihn mit traurigen, verängstigten
Augen anschaute ( Dennis fand mehr, dass er ihn regelrecht anflehte).
Er
ging in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen. Im Schrank fand er noch
eine Tütensuppe. Im war jetzt nach etwas Warmen. Er setzte Wasser auf und deckte
den Tisch. Um sich die Zeit zu vertreiben las er in der Zeitung. Ein kleines
Mädchen wurde seit drei Tagen vermisst, eine Rentnerin wurde von einem Kampfhund
angegriffen. Nichts neues also. Das Selbe wie jeden Tag. In seinen Augen sammelten
sich Tränen. Seine Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an. Mit Mühe
unterdrückte er seine Gefühle. Wie so oft.
Als
die Suppe endlich fertig war, hatte er sich wieder beruhigt. Er hatte Hunger
und die Suppe schmeckte relativ gut. Der Begriff Henkersmahlzeit kam
ihm in den Sinn. Na und, was soll’s, dachte er sich.
Nachdem
er fertig gegessen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Noch ein letztes Mal wollte
er sich mit der Droge Fernsehen befassen. Im wurde bewusst, wie viel Zeit er
mit ihr verschwendet hatte. Beschissenes Geschwafel von Talkshowmoderatoren
und gestellte Interviews. Jetzt, wo er darüber nachdachte, mussten es mindestens
drei bis vier Stunden am Tag gewesen sein.
An
manchen auch mehr. Als er den Fernseher einschaltete wurde er nicht enttäuscht.
Wieder eine dieser elenden Talkshows, in denen Verrückte zu noch verrückteren
Zuschauern sprachen. Einer von diesen Zuschauern war Dennis, aber er war aufgewacht.
Er hatte erkannt was es für ein Schwachsinn war. Für einen kurzen Moment war
er dafür dankbar. Er verbrachte die nächste halbe Stunde auf Coach. Dann wollte
er noch einmal die wenigen Freuden des Lebens genießen. Er ging schnellen Schrittes
in die Vorratskammer. Der Raum war dunkel und kühl. Würste hingen von der Decke
runter. Es roch nach Fäulnis. Überall waren Spinnweben. Leichter Ekel überkam
ihn. In der Vorratskammer bewarten sie auch die Getränke auf. Hinter dem Mineralwasserkasten,
in der hintersten Ecke, fand Dennis wo nach er suchte. Bier. Er nahm sich zwei
Flaschen und ging damit in sein Zimmer. Seine Mutter würde ausflippen, wenn
sie bemerken würde, dass er sich Bier klaute und es auch noch in der Wohnung
trank.
Er
setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte seine Mutter aus seinen Gedanken
zu verdrängen. Er steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten tiefen Zug
musste er husten. Aber das Nikotin beruhigte ihn. Er bemerkte, dass seine Hände
etwas zitterten.
Jetzt brauchte er noch etwas harte Musik. Also machte seine Anlage an. Die Boxen begannen zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch fand er einen Collageblock. Er riss eine, noch unbeschriebene, Seite heraus. Es sollte ein Abschiedsbrief werden. Das Schreiben fiel ihm leicht. Er bedankte sich bei seinen Eltern, weil sie versucht hatten, ihm das Bestmögliche zu bieten. Dies waren die letzten Worte, die er niederschrieb.
Irgendwann am Nachmittag rief seine Mutter an, und sagte ihm, dass sie erst später nach Hause kommen würde, weil sie erst noch einkaufen musste.
Von
seinem Vater hörte er nichts mehr. Wahrscheinlich würde er in einer stinkenden
Kneipe abhängen und mit den Leuten, die er seine Freunde nannte, Poker spielen.
Irgendwann nachts, würde er dann nach Hause kommen, stockbesoffen und stinkend.
3
Es
war an der Zeit. Jetzt würde in nichts mehr aufhalten. Erlösung. Seine Hände
klammerten sich noch fester um das Geländer. In wenigen Augenblicken würde sein
Körper zermatscht auf der Straße liegen.
Vielleicht
würde ihn irgend ein Penner noch in dieser Nacht finden, wahrscheinlicher war
aber, das man ihn erst Morgenfrüh fand. Ein Kind aus der Nachbarschaft würde
die grausige Enddeckung machen. Dennis Augen funkelten, als er daran dachte.
Es befriedigte ihn. Aber erst mal musste er es tun. Er musste auf das Geländer
steigen und springen.
Was
kommt nach dem Tod? Dieser Gedanke schoss ihn plötzlich durch den Kopf. Gab es einen Gott?
Einen Himmel und eine Hölle, und wenn ja, würde er in Gottes Reich kommen? Dennis
war zwar katholisch, war aber selten in die Kirche gegangen. Meist nur an Weihnachten
und Ostern. Scheiß drauf, sagte er sich. Er stieg auf das Geländer. Wieder
musste er an das Bild mit den Männern denken, Es gab ihm den nötigen Impuls.
Hitze
durchflutete seinen Körper. Er hatte ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Der Wind
fuhr ihm durchs Haar. Er atmete tief ein und aus. Mit der Hoffnung auf ein besseres
Leben nach dem Tod, sprang er.
Er
schrie nicht. In der Luft breitete er die Arme aus. Er sah aus, wie ein Engel
der vom Himmel fiel. Noch bevor er auf dem harten Asphalt aufschlug, war er
bewusstlos.
ENDE