Mein Leben
© 2005 Marco Dinges
Mein ganzes Leben war nie von Glück geprägt. Ich hatte immer schon in allem, was ich machte, Pech. Ich wuchs auf in einer Familie mit drei Brüdern, die allesamt älter und stärker waren als ich. So zog ich nicht selten den Kürzeren. Und dazu kam noch, dass meine Eltern nicht gerade die Reichsten waren.
Wir hatten eine kleine Wohnung am Rande von Castle Rock in einem klassischen Plattenbau, in dem 50 Familien lebten.
Über meine Intelligenz konnte ich mich nie beschweren und das war auch das einzige, auf das ich mich stützen konnte. Damit hielt ich mich immer ein wenig über Wasser.
Na ja, ich hatte sogar relativ viele und gute Freunde, jedoch hielt sich das leider immer nur im männlichen Bereich. Ein Mädchen konnte ich nie für mich gewinnen.
Als ich älter wurde, musste ich mich entscheiden, was ich später einmal machen wollte. Und so schlug ich einen Weg ein, der zu der damaligen Zeit noch völlig unvorstellbar gewesen war. Ich fing an, Psychologie zu studieren. Die erste Zeit fühlte ich mich richtig gut dabei und die Tatsache, dass ich von meinem Elternhaus unabhängig war, spornte mich noch weiter an.
Ich hatte nie Glück in meinem Leben. Bei Wettkämpfen verlor ich so gut wie immer und auch auf allen anderen Gebieten meines Lebens schien mich jemand nicht zu mögen. Und so war es auch schwer verwunderlich für mich, als auf einmal Clarice in mein Leben trat. Ganz unverhofft. Ich war beinahe jeden Abend in Clubs und Bars, mit Freunden einen draufmachen. Doch nie fand ich ein passendes Mädchen für mich. Clarice traf ich komischerweise in der Universität, wo ich doch dachte, ich hätte jedes Mädchen schon mal unter die Lupe genommen. Sie war schüchtern und da ich es auch war, dachte ich mir, könnte ich ja nichts falsch machen, also sprach ich sie einfach an.
Wir kamen ins Gespräch und gingen ein paar mal abends miteinander aus. Ich konnte mein Glück nicht fassen, denn sie war eine absolute Traumfrau. Sie war perfekt. Zum ersten mal in meinem Leben dachte ich wirklich, mir hätte jemand mal ein wenig Glück genehmigt.
Dank Clarice kam ich über den frühen Tod meiner Eltern hinweg. Sie starben kurz vor unserer Hochzeit durch einen grausamen Autounfall auf einem Highway in Richtung New York, der sogar in allen Nachrichten ausgestrahlt wurde. Die Polizei nannte diesen Unfall eher eine Hinrichtung als ein zufälliger Unfall mit Todesfolge...
Clarice war für mich da. Sie konnte mich trösten und ich konnte ihr alles erzählen. Ich verlor den Kontakt zu meiner Heimat und stellte ihn erst wieder her, als ich von Mathews Tod hörte. Mein Bruder, der in den höchsten Bankierkreisen fungierte wurde in seinem Penthouse in New York von Einbrechern überrascht und mit einem Fleischermesser, welches aus seiner eigenen Küche stammte, erstochen. 16 Stiche stellte die Polizei in seinem leblosen Körper fest. Das war ein Tag nachdem ich Clarice einen Hochzeitsantrag machte.
Wir feierten die ganze Nacht unsere Verlobung und ich war überglücklich. Als wir am nächsten Morgen mit reichlich Restalkohol aufwachten, stand ein Officer vor der Haustür und sagte, er müsse dringend mit mir reden...
Ich war immer ein gläubiger Mensch gewesen. Das wurde mir in meiner katholischen Erziehung so beigebracht. Ich besuchte mindestens einmal im Monat die Kirche und betete jeden Abend zu Gott. Und so kommt es, dass er nicht nur Leben nimmt, sondern auch Leben schenkt. Clarice wurde schwanger, es sollte ein Mädchen werden. Und irgendwie machte mich das unheimlich stolz, denn es sollte das erste gebürtige Mädchen in der Familie Burkham werden.
Leider erlebte auch Peter, mein zweiter Bruder, nicht mehr die Geburt meiner Tochter. Er starb zwar nicht an seinem Krebsleiden, was er sich wohl offensichtlich durch seine Kettenraucherei selbst zugefügt hatte, nein, danach hätte er noch Jahre leben können. Er starb, weil ein betrunkener Bauer aus Indianapolis die Kontrolle über seinen Ford verlor und meinen Bruder spät abends auf offener Straße von hinten umfuhr. Ihm wurden alle Knochen im Leib gebrochen. Ein Polizeisprecher sagte, er hätte nicht leiden müssen, denn er konnte den Ford gar nicht hören, geschweige denn sehen. Unglücklicherweise wurde bei diesem höchst tragischen Ereignis auch Peters Frau Elisabeth und sein 3 Jahre altes Kind Kyle totgefahren. Sie starben jedoch an inneren Blutung im Krankenhaus und nicht direkt an der Unfallstelle. Sie mussten mehr leiden als mein Bruder...
Als Ann zur Welt kam, beschlossen Clarice und ich, sie katholisch taufen zu lassen und damit eine ähnliche Erziehung einzugehen, wie ich sie erfuhr.
So lenkte sich mein Leben in eine geregelte Bahn. Ich war Vater von einer großartigen Tochter und der Ehemann einer wundervollen Frau. Meine Familie hatte ich zwar größtenteils verloren, aber der Tod gehört nun mal zum Leben.
Und das musste ich auch wieder erfahren, als Ben, mein jüngster Bruder, umkam. Seine Frau Francise schnitt ihm im Schlaf die Kehle durch und zerstückelte ihn dann in der Nacht mit einer Axt. Sie packte seine Körperteile in eine Plastiktüte und fuhr damit in einen nahe gelegenen Wald. Dort vergrub sie meinen Bruder sorgfältig. Danach fuhr sie zurück nach Castle Rock, machte eine Vermisstenanzeige bei der städtischen Polizei und kassierte erst mal eine wahnsinnige Versicherungssumme. Dummerweise wurde der Fall dann doch noch aufgeklärt, als drei Monate später ein Jäger durch den Wald striff und sich wunderte, an was für großen Brocken Fleisch seine Hunde da wohl fraßen.
Ich hatte den Kontakt zu meinem Bruder stets versucht zu pflegen, immerhin war er der letzte, den ich noch hatte von meinen direkten Verwandten. Doch als mir Clarice gestand, dass sie erneut schwanger war, gab auch ich meine Bemühungen auf und versuchte mich ganz meiner kleinen selbstgegründeten Familie zu widmen.
Das Glück schien mir irgendwie hold zu sein in diesen Tagen. Ich konnte es nicht fassen, noch einmal Vater zu werden. Mittlerweile hatten wir ein schickes Haus, nicht weit von Bangor entfernt, gekauft. Ich finanzierte es von meinem recht großzügigen Einkommen als Psychologe an der Maine-West-University. Irgendwann hatten wir sogar genügend Geld, uns einen Traum zu erfüllen, nämlich eine Penthouse-Wohnung in einem hundertachtzig Meter hohen Wolkenkratzer direkt in Manhattan.
Unser Landhaus besitzen wir mittlerweile nicht mehr, denn letzten Sommer gab es einen verheerenden Brand im Umland, der sofort auf unser Anwesen übergriff und das gesamte Haus vernichtete. Während das damals geschah, wartete ich in unserem Appartement auf Clarice. Sie war noch einmal zurückgefahren. Offenbar hatte sie etwas vergessen. Ich sah Clarice das letzte Mal, als sie mir aus dem Fahrstuhl, der aus unserem Penthouse hinausführt, einen Handkuss zuwarf und rief, sie sei gleich wieder zurück.
An Hand einiger Zähne konnten die Gerichtsmediziner sie identifizieren. Oder besser gesagt, identifizieren musste ich sie selbst. Es war keine leichte Aufgabe für mich. Sie war mein ganzes Leben gewesen und nun wurde auch sie mir genommen. Noch schlimmer als der Verlust eines Menschen war jedoch der Verlust von zwei Menschen. Clarice war schwanger gewesen und erwartete schon innerhalb eines Monats unsere zweite Tochter. Natürlich gab es keine Chance...
Ich weiß nicht, warum ich diesen Brief schreibe, vielleicht um das alles, was passiert ist, noch einmal mir selbst vor Augen zu führen. Vielleicht um alles vor mir zu rechtfertigen. Nun sitze ich hier auf der Terrasse unseres, meines, Penthouses. Ich höre die Autos unter mir auf der Main Street. Es ist acht Uhr abends. Der Verkehr wird dichter. Ich habe mich gerade hier herausgesetzt und angefangen, diesen Brief zu schreiben, denn ich denke, es wird Zeit.
Ich stand eben noch im Wohnzimmer und hörte den Fahrstuhl hochkommen.
Seit Clarice tot ist, habe ich ein Kindermädchen engagiert, welches Ann zur Schule bringen soll und auch bei Freundinnen ein wenig nach dem Rechten schaut. Sie ist ein liebes Ding, ich mag sie sehr. Ein wenig erinnert sie mich an Clarice. Vielleicht habe ich sie auch deshalb eingestellt. Um acht Uhr wollte Ann wieder zu Hause sein. Sie ist ein tüchtiges neunjähriges Mädchen geworden. Sie meinte vorhin noch zu mir, wenn sie wiederkäme, würde sie für mich zu Abend kochen.
Beide haben eben hier im Penthouse geklingelt. Dann ging der Aufzug nach oben. Der Aufzug war die letzten drei Wochen defekt gewesen und ich musste immer über das Treppenhaus in meine Wohnung. Ein schwerer weg nach oben. Der Hausmeister meinte, das Seil des Aufzuges wäre beinahe gerissen. Aber jetzt sei alles wieder in Ordnung. Als ich vor einer Minute die Tür des Aufzuges öffnete und die großen Augen und das freudige Strahlen Anns erwartete, die Wärme, die sie meinem Herzen schenkt, erblickte ich einen leeren Schacht. Ich hatte Geräusche gehört. Ein großes abgerissenes Tau hing in dem Schacht. Ich konnte Schreie hören...
Die Luft ist kühler, wenn die Sonne verschwunden ist. Es ist noch nicht ganz dunkel. Hinter den hohen Bürogebäuden sieht man noch den Schein der untergehenden Sonne. Von unten dringen die gedämpften Geräusche von Autos und Menschen an mein Ohr. Die Stadt lebt.
Viele Menschen tummeln sich dort unten herum. Viele Paare, Männer mit Familien. Erfolgreiche Geschäftsleute. Menschen, die ein erfülltes Leben führen konnten. Sie alle gehen dort unten vorbei. Ich sitze hier oben und schreibe noch geschwind diese Worte nieder. Lasse mir noch einmal alles durch den Kopf gehen. Das beste an diesem Tag war der hervorragende Whiskey. Vielleicht mache ich ihn noch leer.
Mein Leben hatte nicht viel zu tun mit Glück. Wenn man einen Menschen verabschiedet, dann wünscht man ihm alles Gute und gibt ihm viel Glück mit auf seinem Weg.
Ich sitze hier oben auf der Terrasse meiner Wohnung. Doch schon bald werde ich auch dort unten sein. Unter den Leuten, die heraufschauen und weitergehen.
Der Whiskey ist leer. Was die Menschen dort unten wohl sagen werden, wenn noch etwas viel größeres als die Whiskeyflasche aus hundertachtzig Metern auf die Main Street fällt? Es ist Rush Hour...
Viel Glück !
Kevin Burkham