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Anschlusszug 45

© 2004 Konz

 

Es ist kalt an diesem 12. Dezember. Sehr kalt. Vor wenigen Stunden hat es das erste Mal geschneit. Und auch jetzt um 21:36 Uhr, am Leipziger Hauptbahnhof, fallen Schneeflocken. Die Menschen wuseln auf den Bahnsteigen hin und her. Ich stehe hier und warte auf meinen Anschlusszug um 21:50 Uhr, der wahrscheinlich wie so oft verspätet eintreffen wird. Die Umgebung wird von künstlichem Licht erwärmt. Die Reklame sowie die andere Beleuchtung zaubern gemeinsam ein orangenes Schimmern auf den Schnee und tauchen die Umgebung in ein düsteres, trügerisches Licht. Ich verweile an einer Reklametafel und schaue mich um. Einige Meter entfernt steht jemand direkt an der Kante des Bahnsteiges und starrt nach unten auf die Gleise. Es ist ein Mädchen. Oder schon eine Frau? Sie dreht mir den Rücken zu, ihr Gesicht bleibt mir verborgen und so kann ich unmöglich sagen, wie alt sie sein mag.

Sie scheint kleiner als ich zu sein, hat blondes Haar, indem sich bereits die ersten Eiskristalle sammeln.

Sie trägt eine weinrote Daunenjacke. Der Stoff schimmert leicht in dieser kalten, beinahe sterilen Umgebung des tristen Bahnhofes, die nur durch die weiße Pracht des Schnees etwas aufgehellt wird.

Ihre Arme hängen teilnahmslos an ihrem Körper herab.

Diese Jacke. Irgendwo habe ich sie schon einmal gesehen. Natürlich. Und nun weckt diese Jacke schmerzliche Erinnerungen in mir. . .

Claudia hat auch so eine Jacke. Claudia war meine erste Beziehung. Vor einer Woche sah ich sie das letzte Mal. Da haben wir uns getrennt. Ich beginne zu schluchzen. Es fällt schwer, Tränen zu unterdrücken. Fast ein Jahr waren wir zusammen gewesen. Kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr begann alles. Da ging ich noch zur Schule und fuhr jeden Morgen mit dem Bus. Irgendwann kam der Tag, von dem an Claudia täglich mitfuhr. Ich verliebte mich. Aber nicht, weil sie so klein war. Und auch nicht, weil etwas an ihr so vollkommen anders war. Sie hatte blaßblaue Augen und ein schmales Gesicht mit kantigen Wangenknochen. Des Weiteren war ihre Nase groß. Aber in diesem Gesicht störte sie nicht.

Da war etwas anderes an ihr, in das ich mich sofort verliebt habe. Ihr Haar. Wenn sie sich morgens in den Bus setzte und ich das Glück hatte, sie beobachten zu dürfen, dann fiel mir immer auf, wie ihre rotbraunen Haare im Licht der Innenbeleuchtung des Busses goldig glänzten. Nach einigen Wochen rang ich mich dazu durch, sie anzusprechen. Fortan saßen wir jeden Morgen im Bus nebeneinander, auch wenn es oft schwierig war, immer einen Platz für sie frei zu halten. Und immer bewunderte ich, wenn möglich, das Leuchten ihres Haares.

Bis zur letzten Woche hatten wir eine störungsfreie, harmonische Beziehung. Wir hatten nie Streit und wenn es Probleme oder Meinungsverschiedenheiten gab, klärten wir diese immer friedlich. Dann kam jedoch der vergangene Samstag, als ein Bekannter von uns seinen Geburtstag feierte. Ich hatte mit Claudia zusammen eigentlich fest zugesagt, doch als ich an diesem Samstag erwachte, ging es mir gar nicht gut. Zuerst war da nur Schüttelfrost. Später kamen noch Fieber und Migräne hinzu. Ich musste an diesen Tag wohl oder übel das Bett hüten. Gegen Mittag rief ich Claudia an und sagte ihr, dass ich nicht mit zur Party kommen könne. Dies hatte zur Folge, dass auch sie ohne meine Begleitung nicht hingehen wollte. Am Telefon brauchte ich beinahe zwei Stunden um sie umzustimmen. Sie ging dann doch allein. Am nächsten Morgen waren unzählige Anrufe auf meinem Handy, alle von Claudia. Ich rief sie an, doch ich konnte sie nicht erreichen. Also machte ich mich trotz meiner Krankheit auf den Weg zu ihr. Zu Hause traf ich sie auch an, weinend, stotternd, völlig verzweifelt. Schließlich beichtete sie mir, was geschehen war. Auf der Party hatte sich ein ihr unbekannter Junge auffällig für sie interessiert. Sie konnte seinen Annäherungsversuchen lange die Stirn bieten, aber irgendwann nach Mitternacht und einigem an Alkohol war es passiert. Sie hatte mit ihm geschlafen. Sonst nicht meine Art, reagierte ich über und schlug sie. Nach diesem Treffen war Schluss. Wir sprachen nicht mehr miteinander.

Auch wenn weder sie noch ich jemals davon gesprochen hatten, dass die Beziehung zu Ende sei, wussten wir es von diesem Moment an doch Beide. Und auch unseren Freunden wurde es schnell klar.

Vorwürfe fraßen sich in mein Gewissen, hinterher schob ich alles auf mein Unwohlsein, obwohl ich wusste, das dies keine Lösung war. Ich war schuld. Meine Vernunft hatte ausgesetzt und ich hatte sie geschlagen. Wäre das nicht passiert, hätten wir vernünftig reden können. Doch dazu kam es nie und es wird auch nicht mehr dazu kommen, fürchte ich. Es ist zu viel Zeit verstrichen.

Noch reichlich zehn Minuten bis mein Zug endlich eintrifft. Ich trauerte in Gedanken Claudia nach. Alles bewegt sich hier im Bahnhof, außer dem Mädchen da vorne. Auch ich stehe still. Mein Blick fällt wieder auf sie. Ich reibe meine Hände aneinander und greife in meine Jackentasche. Eine Zigarette kann ich mir noch gönnen, bevor ich weiterfahre. Das Feuerzeug streikt, doch dann kann ich ihm eine halbwegs brauchbare Flamme abringen. Meine gerötete Nasenspitze juckt. Doch das ist nebensächlich. Ich beobachte weiterhin die regungslose Person. Ich weiß nicht warum, aber es zieht mich zu ihr hin.

Eine Durchsage reißt mich aus der Starre: "Meine Damen und Herren, der ICE 45 nach Berlin, planmäßige Ankunftszeit 21:33 Uhr, wird in Kürze eintreffen am Bahnsteig A, Gleis 1." Bahnsteig A. Da befinde ich mich. Und Gleis 1 wird noch immer von dem Mädchen in der roten Jacke inspiziert.

Ich schaue auf die Uhr. 21:42 Uhr. Wieder aufblickend muss ich feststellen, dass die rote Jacke sich etwas entfernt hat. Ungefähr 25 Meter. Ich gehe einige Schritte, mit dem Ziel, dieses Mädchen zu fragen, was mit ihr los sei. Natürlich geht es mich nichts an, aber es ist schon merkwürdig, wie sie da steht, den Kopf auf die Schienen gerichtet, völlig versteinert und ohne jegliche Emotion. Noch immer bleibt mir ihr Gesicht verborgen, das blonde Haar fällt ihr über die Schultern. Uns trennen noch immer gute 30 Meter. Warum verspüre ich plötzlich den Drang, schneller zu laufen? Ich nehme es in Angriff, doch es klappt nicht. Meine Beine wollen mir nicht gehorchen und so bleibe ich stehen.

Ich beginne, mich für dieses Mädchen zu interessieren. Wer ist sie? Was tut sie hier?

Die Jacke. Genau. Dieses Weinrot. Genau so eine Jacke hat Claudia auch. Aber das Mädchen da vorne kann unmöglich Claudia sein, denn die hat ja keine blonden Haare. Ich kenne das Mädchen an den Gleisen gar nicht und doch möchte ich ihr helfen. Sie wirkt so verlassen. Etwas stimmt nicht mit ihr. Sollte ich wirklich meinem Gefühl folgen und weiter auf sie zugehen? Wahrscheinlich ist das nur ein unterbewusster Versuch, Claudia zu vergessen.

Die Unbekannte besitzt die gleiche Jacke wie meine Ex - Freundin und das ist Anlass für mich, ihr nahe zu kommen. Weil mein Gehirn es so will und mich steuert.

Ich schaffe es, weiter auf sie zuzugehen. Da höre ich Geräusche eines sich nähernden Zuges. Selbstverständlich. Der ICE auf Gleis 1. Ich sehe ihn anfahren, im Gegensatz zu der jungen Frau. Sie bleibt weiterhin da stehen und scheint nicht zu merken, dass er kommt. Der Zug nähert sich.

Sie beginnt zu schwanken, beugt sich leicht nach vorn. Was hat sie vor? Nur noch wenige Meter trennen das Mädchen und den Zug. Ich renne weiter auf sie zu, nun erkenne ich, dass sie sich vor den heranrasenden ICE werfen will. Doch nichts passiert, die Kleine verweilt, noch immer mit gesenktem Kopf, direkt an der grauen Betonkante.

Ich bin viel zu weit weg von ihr, als das Unvermeidbare geschieht.

Sie gleitet nach vorn, ihr Körper bildet eine Stange. Wie ein Turm, der ohne zu zerbrechen zur Seite stürzt, fällt sie nach vorn. Obwohl der Zugführer bremst, ist alles zu spät. Sie wird vom Zug erfasst und mitgerissen. Doch noch etwas anderes geschieht. Etwas, was meine Augen nicht einordnen können, da es zu bizarr erscheint. Zuerst höre ich es nur. Reißendes Fleisch. Und Knochen, die splittern. Ein widerliches Knacken beendet vorerst die Geräuschkulisse und nun sehe ich es. Es ist ihr Kopf.

Der Kopf des Mädchens wurde vom Rest des Körpers abgerissen. Mir ist übel. Mit aller Macht versuche ich, Erbrochenes, das sich in meiner Mundhöhle staut, zurückzuhalten.

Ein wilde, im Wind wehende Ansammlung von Haaren fliegt vom Zug weg, an dessen Front ein kopfloser Körper klebt. In mehreren kurzen Impulsen schießen Blutfontänen aus den zerfetzten Hautfransen an der Stelle, die einmal ihr Hals war. Das Quietschen der Bremsen des Zuges erfüllt den Bahnhof.

Der Kopf landet unglücklicherweise direkt vor mir. Nun geben die Haare endlich das Gesicht frei, welches ich so gern sehen wollte. Jetzt kann ich es nicht mehr zurückhalten und übergebe mich. Der Zug kommt zum Stillstand. Ein schmatzendes Geräusch, als sich der Körper vom Zug löst. Den Kopf zur Seite drehend, wird mir bewusst, wer da eben vom Zug getötet wurde. Doch um es wirklich zu glauben, muss ich noch einmal hinsehen. Nun sehe ich endlich ihr Antlitz. Ich blicke in das Gesicht des Mädchens. Und nun bleiben die Tränen nicht zurück.

Claudia. Mit weit aufgerissenen Augen und einem Mund, aus welchem Blut fließt. Es war ihre Jacke, natürlich. Nur eines ist anders. Als ich sie das letzte Mal sah, hatte ihr Haar noch diese rötliche, im Licht golden glänzende Farbe. Vor einer Woche. Wieder stoße ich auf und mein Mund füllt sich mit einer warmen, flüssigen Substanz.

Andere Menschen versammeln sich um mich, einige übergeben sich ebenfalls. Tränen rinnen meine Wangen herab. Blut quillt unterhalb ihres Kinns hervor.

Ich übergebe mich nochmals. Sie hat ihre Haare gefärbt. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Ich hocke mich hin, rechts von mir die Lache meines unverdauten Mageninhaltes, links Claudias Kopf. Ich streiche durch das blonde Haar, welches einmal rotbraun war. Eine weitere Pfütze bildet sich auf dem Bahnsteig. Tränen und Rotz von mir vermischt mit Blut. Claudias Blut. Sie ist tot. Claudia ist tot. Sie wollte sterben, das steht fest. All das, was eben passierte, spricht dafür.

Sie hat den Freitod gewählt, weil unsere Liebe in die Brüche ging. Sie gab sich selbst die Schuld dafür und nahm an, völlig zurecht zu handeln, indem sie sich vor den Zug warf.

Doch wir hätten über alles sprechen können, wäre mir nicht die Hand ausgerutscht. Wie immer hätten wir auch dafür eine Lösung gefunden, und wenn es eine Trennung in Frieden gewesen wäre. Doch so war es nicht. Sie war tot und ich war dafür verantwortlich.

Noch immer ihr Haar in den Händen haltend, stützte ich mich auf die Knie. Ich heulte und schrie alles, was mir durch den Kopf ging, laut heraus. Menschen um mich herum wandten sich ab, andere, vermutlich Bahnhofsangestellte, kamen hinzu.

Mit Claudias Kopf in den Händen fiel ich auf die Seite. Blut tropfte auf meine Jacke.

Sie hatte sich umgebracht, weil sie im Ende unserer Liebe keinen Sinn sah und so auch die Lust am Leben verloren hatte. Sie hatte es für sich selbst getan, davon überzeugt, die gerechte Strafe für ihre Untreue zu empfangen. Doch dem war nicht so. Sie ließ mich zurück. Weinend, kreischend und fluchend wand ich mich auf kaltem Beton. Die Menschen mussten mich für verrückt halten. Aber das war mir egal. Ich hatte einen Fehler gemacht und der wurde nun doppelt bestraft. Ich hatte nicht nur die Liebe zu Claudia verspielt. Das war nicht genug. Mir wurde auch noch der Mensch Claudia entrissen.

Wenig später vernahm ich das Martinshorn eines Krankenwagens ganz in der Nähe. Für wen war er bestimmt? Claudia war tot, für sie kam er zu spät. Nein, die Rettungskräfte wollten mich mitnehmen. Doch das wurde schwierig. Fünf Männer wurden allein benötigt, um mir Claudias abgetrennten Kopf zu entreißen.

Jetzt sitze ich hier in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses. Keiner glaubt das, was ich erzähle, die ganze Nacht lang. Würden Sie jemandem glauben, der diese Geschichte stundenlang laut kreischend zum Besten gibt? Alle hören mir zu, aber keiner nimmt mich ernst. Ich hoffe, ich habe wenigstens Sie überzeugt.

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