Stephen King
Der Sturm des Jahrhunderts
Rezension von Michael Matzer für buchwurm.info
Katastrophen mit und ohne Horror
Dieses Buch umfasst das erste veröffentlichte Originaldrehbuch von Stephen King. Der Film soll inzwischen auch gedreht worden sein. Formal beachtet King alle Bedingungen des TV-Genres, und er legt eine Beherrschung etlicher wirkungsvoller Tricks an den Tag.
Handlung
Deutschen Lesern ist die kleine Insel Little Tall Island vor der Küste Maines bereits bekannt – aus King Roman "Dolores Claiborne". Und obwohl Dolores in diesem Buch nicht auftaucht, hilft doch die Erinnerung bei der Orientierung, mit welchen Menschen und welcher Umgebung man es nun zu tun hat. Der Drehbuchautor King stößt den Leser des öfteren mit der Nase darauf, dass es sich um eine sehr kleine Gemeinschaft von Menschen handelt, ein tägliche "Seifenoper, bei der man alle Figuren kennt". Dies ist nicht die einzige zynische Bemerkung, die sich King nicht verkneifen kann.
Der Vorhang zum ersten Akt des Dramas hebt sich, als ein unbekannter Fremder namens Andre Linoge (engl. "lineage" = Stammbaum, Abkunft) die alte Dame Martha Clarendon ohne ersichtlichen Grund mit seinem Gehstock zu Tode prügelt. Der Knauf des Stocks hat die Form eines grinsenden Wolfskopfes. Und genauso sieht Linoge auch aus – selbst noch dann, als er bereits im Inselgefängnis von Sheriff Michael Anderson sitzt. Linoges Forderung: "Gebt mir, was ich will, und ich verschwinde." Mit seinen Bemerkungen über die Menschen verrät er hellseherische Kräfte und lässt Beziehungen in Trümmer gehen. Und mit seinen telepathischen Kräften treibt er einen nach dem anderen in den Selbstmord.
Wegen des außerordentlich heftigen Schneesturms, der die kleine Insel umfangen hält, haben sich die Bewohner in den Schutzraum unter dem Rathaus geflüchtet. Es kommt zu tragischen Vorfällen, und weitere Menschen sterben. Die meisten der Todesfälle scheinen unter fremdem Einfluss begangen worden zu sein – der Leser ahnt bereits, unter wessen Einfluss. Als Linoge aus dem Gefängnis entkommt, macht er sich an die Kinder – acht an der Zahl – heran und bringt sie unter seinen telepathischen Einfluss. Er stellt die im Rathaus versammelte Gemeinde vor eine grausame Wahl: "Gebt mir, was ich will, und ich verschwinde." Alle bis auf einen sind bereit, den grausamen Handel mitzumachen, alle bis auf Mike, den Polizisten. Doch alle bezahlen später einen hohen Preis für ihre Wahl.
Fazit
In seinem Horror-Fetzer greift King tief in die Trickkiste seines angestammten Genres: Telepathie, reihenweise Mord und Selbstmord, der namenlose Fremde, der gerechte Vergeltung verlangt – das kennt man schon aus "The Fog" und aus "In einer kleinen Stadt". Die Schicksalsfrage lautet wieder einmal: Sind Menschen dazu bereit, für ihre Rettung in der Gegenwart bereit, einen Sündenbock aus ihrer Mitte zu wählen und diesen zu opfern – auch um den Preis der Zukunft?
Dieses Buch ist "The Stand" näher etwa "Dolores Claiborne". Hier werden Klischees und Zuschauererwartungen bedient. Da lob ich mir doch Romane wie "The girl who loved Tom Gordon", die zumindest auf ein gewisses Maß an Psychologie als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte setzen.
Immerhin kann man sich fragen, ob Linoge – ein Anagramm von "Legion" (vgl. das Markus-Evangelium) – für alle verbrecherischen Eroberer und Verführer steht, die die Zukunft einer Gemeinschaft geraubt haben. Ich denke da an die Länder, die die Nazis erobert hatten.
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Mit freundlicher Genehmigung des Autors