Normen Behr
Steter Tropfen Blut

Leseprobe
Steter Tropfen Blut
von Normen Behr
Teil I: Das gefangene Buch
1
Das Buch auf der Parkbank schien ein Eigenleben zu besitzen.
Das Taschenbuch, ein echter Wälzer, war entweder viel gelesen oder seit längerer Zeit den Elementen ausgesetzt gewesen: Die Seiten wölbten sich nach oben, als wollten sie sich gegen einen zu eng sitzenden Einband wehren, der Buchrücken, gekrümmt wie der einer alten Hexe im Märchen, berührte fast mit beiden Außenseiten die grün gestrichene Bank, auf der das Buch achtlos vergessen worden war. Oder hatte der Besitzer es, sich verstohlen nach allen Seiten umschauend, mit voller Absicht liegengelassen, wie so viele hier im Park ihren Müll einfach nicht mitnahmen?
Von der Parkbank aus, auf der ich selbst saß, konnte ich nicht erkennen, um welches Buch es sich handelte, doch schaute ich mit dem gewissen Amüsement, das nur unvermuteten Beobachtern eigen ist, dabei zu, wie es Passanten durch seine pure Präsenz davon abhielt, sich auf der ansonsten völlig leeren Parkbank niederzulassen. Das Buch war ein Schinken, aber dass es gleich eineinhalb Meter für sich beanspruchen sollte, war reichlich übertrieben. Und doch: Gerade jetzt näherte sich ihm eine vom Schieben ihres Kinderwagens sichtlich müde jüngere Frau, sah das Buch stirnrunzelnd an und ging dann weiter, vielleicht auch, weil nur wenige Meter weiter eine gänzlich freie Parkbank wartete.
Keine Minute später schlenderte ein Pärchen herbei, er mit langen offenen Haaren und Lederklamotten, sie vergleichsweise zierlich und konservativ gekleidet. Er ließ sich stöhnend auf die Parkbank fallend, als habe er einen Einkaufsmarathon hinter sich, obwohl keiner der beiden eine Einkaufstüte mit sich trug. Sein Blick fiel auf das Buch, und er hob es mit sichtlicher Verachtung auf, musterte kurz den Titel und ließ es dann wieder abschätzig fallen, dass es nach hinten rutschte und beinahe von der Bank gekippt wäre.
Banause, dachte ich. Auch ich hatte ein Buch bei mir, wie ich es überhaupt vermied, irgendwo ohne Buch unterwegs zu sein. Im Wartezimmer beim Arzt, in einer langen Schlange im Supermarkt, im Kinosaal beim Warten auf einen Film, den niemand sonst mit mir anschauen wollte, im Stau oder bei einer kurzen Verschnaufpause in einem Park – die Vorstellung, dabei buchlos zu sein, war und ist mir ein Gräuel.
Heute, an einem Tag, der mein Frustpotential ebenso auslotete wie er mich mit Endorphinen zuschüttete – eine wahrlich Schwindel erregende Mischung – hielt ich nicht, wie in den letzten Monaten üblich, mein elektronisches Lesegerät, sondern ein echtes, noch dazu druckfrisches und nie geöffnetes Buch in der Hand, von dessen festem Einband ich vor wenigen Minuten erst geradezu ehrfürchtig die Zellophanhülle entfernt hatte. Mit liebkosenden Fingern war ich den Schriftzug des bunten Covers nachgefahren, das einen kleinen Jungen zeigte, der selig lächelnd im Bett seines Kinderzimmers schlief; die Besonderheit war, dass der gesamte Raum offensichtlich überflutet war, dass die Spielsachen um ihn herum durchs Wasser zu schweben schienen und dass auch die Haare des Jungen von einer leichten Strömung ergriffen von ihm abstanden.
Mir gefiel das Cover fast so gut wie der Titel Der Wasserschläfer, der so gestaltet worden war, als würden die Buchstaben tatsächlich unter Wasser verschwimmen. Am besten freilich gefiel mir der in Luftblasen geformte Name des Autors, der darüber prangte: Tom Keller, denn es war mein eigener.
Ich wollte das Öffnen des Kinderbuches zelebrieren, das ich heute in meinem Postfach gefunden hatte, jede einzelne Seite beim Umblättern genießen, doch da war mir jenes andere Buch auf der Parkbank aufgefallen und hatte mich aus unerklärlichen Gründen für sich eingenommen. Das junge Pärchen blieb keine fünf Minuten sitzen, da zückte die Frau ihr Handy, las eine Nachricht und zog den Bücherbanausen eilig mit sich fort. Schnell packte ich zusammen – es war nur ein Handgriff – und lief hinüber zu der Parkbank mit dem gestrandeten Buch.
Auf einen Blick erkannte ich den Einband wieder, erinnerte mich, ein wesentlich besser erhaltenes Exemplar vor Jahren einmal in einem Buchladen beim fast allwöchentlichen Stöbern in der Hand gehabt zu haben. Vorüber, vorbei und vergraben von einer amerikanischen Autorin namens Kelly Skinnert. Der in der Tat völlig abgenutzte Einband zeigte einen nächtlichen Friedhof, der offenbar seit vielen Jahren den Elementen überlassen war: Die Grabsteine waren eingesunken und schief, die Gräber mit fast dschungelartigen Gewächsen überwuchert, die Namen nicht mehr lesbar, die Bäume am Rand des Covers verkrüppelt, ihre Schatten unheimlich gekrümmt.
Ich nahm es auf und drehte es um. Der Klappentext war kurz und bündig, und mir wurde wieder klar, weshalb ich es (oder vielmehr einen seiner Brüder) damals wieder ins Regal zurückgestellt hatte: Jeweils ein rechter Schuh: Das ist alles, was Hannah Stilson von ihren Eltern geblieben ist – sie selbst sind über Nacht spurlos aus ihrem Schlafzimmer verschwunden, die Schuhe erwarten Hannah auf dem Fußabstreifer. Dann erreicht sie eine mysteriöse Postkarte mit der Aufschrift „Bitte grabe nach uns!“ Da erinnert Hannah sich an Gregory Hunt … Der dritte Fall des ungewöhnlichen Hunt, des querschnittgelähmten FBI-Mannes mit dem fotografischen Gedächtnis. Skinnert zeigt, dass sie auch sechs Jahre nach ihrem gefeierten Debütroman „Ein zu lauter Schrei“ nichts von ihrer erzählerischen Wucht eingebüßt hat.
Das war es gewesen: Der dritte Fall … Ich bin in diesem Punkt eigentümlich, mag nichts lesen, was mitten in einer Reihe erschienen ist, wenn ich die Vorgänger nicht kenne, selbst wenn mir eidesstattlich versichert wird, dass die Bücher unabhängig voneinander lesbar und verständlich sind. Zwar klang Vorüber, vorbei und vergraben an sich interessant, doch hätte ich mich dazu erst durch zwei nicht minder dicke Bücher arbeiten müssen; so hatte ich die Buchreihe einmal vorgemerkt, aber bis heute dann doch wieder vergessen.
Ich blätterte durch das Buch, das eindeutig gelesen worden war: da ein Wasserfleck, hier fielen Brotkrumen zwischen den Seiten hervor, immer wieder Eselsohren, wo ein anscheinend lesezeichenscheuer Leser seinen Standort markiert hatte, zudem hatte der Vorbesitzer es mit einem Bleistift traktiert: Immer wieder waren Wörter unterstrichen oder eingekreist, Passagen am Rand mit Ausrufezeichen markiert. Allerdings fand ich keine Widmung, keinen Hinweis auf den Käufer.
Wer es auch gewesen war, er hatte das Etikett auf dem hinteren Einband nicht entfernt (ich selbst zog es immer ab, bevor ich auch nur mit dem Lesen anfing), sodass ich sehen konnte, dass es in einem Laden in Köln gekauft worden war. Sofort fragte ich mich, wie es wohl seinen Weg in den kleinen Châteaudun-Park in Schweinfurt gefunden hatte und freute mich gleichzeitig an dem Wissen, dass das Buch dieses Geheimnis für immer bewahren sollte.
Wie sich zeigen sollte, lag ich mit dieser Einschätzung nicht ganz richtig, denn in diesem Moment fiel mir auf, dass im hinteren Drittel des Romans ein zusammengefalteter Zettel steckte. Sofort war ich zurückhaltender. War dies vielleicht ein vergessener Liebesbrief? Diesbezüglich habe ich einen leichten Knacks, seit ich einmal in der neunten Klasse mein Englisch-Arbeitsheft abgab und erst an jenem Abend bemerkte, dass darin noch der glühende Liebesbrief stecken musste, den ich in den letzten Tagen an meine seit Monaten verehrte Mitschülerin Michelle Unger geschrieben hatte – niemals in der Absicht, ihn tatsächlich abzuschicken. Und jetzt war er in die Hände von Herrn Martens gefallen, unserem Englischlehrer! Ich machte in jener Nacht kein Auge zu, doch als er das Heft schon in der nächsten Stunde korrigiert zurückgab, war da kein Schmunzeln in seinem Gesicht, der Brief noch immer zwischen den Seiten 98 und 99 verstaut. Hatte er ihn gelesen? War da nicht doch ein Flackern in seinen Augen, als er mich zum dritten Mal wegen Schwätzens ermahnte und mich zur Strafe für den Rest der Stunde auf den freien Platz direkt neben Michelle verbannte?
Ich zog den einigermaßen geschundenen Zettel vorsichtig heraus und faltete ihn ebenso behutsam auseinander. Mir wurde sofort klar, dass dies kein privates Schriftstück war; im Gegenteil sollte es gefunden werden. Mit wachsendem Erstaunen, das sich bald mit kindlicher Begeisterung mischte, las ich den Beibrief:
An meinen Finder,
Wie oft verlieren wir irgendetwas? Lassen die Handschuhe auf der Bank liegen, den Schirm im öffentlichen Nahverkehr, das Buch in der Metro. Jeden Tag geraten 200–250 Bücher in die Fundbüros: Man findet uns im öffentlichen Nahverkehr, auf den Straßen, in Geschäften und sogar einfach in den Hauseingängen.
Doch wenn ihr plötzlich ein „einsames“ Buch wie mich seht, heißt das nicht zwingend, dass es jemand vergessen hat: Vielleicht hat man es auch extra für euch dort liegen gelassen. Wir wollen unser Leben nicht in einem Regal verbringen und Staub ansammeln, wir wollen raus und andere Leben berühren! Ich bin ein registriertes und gekennzeichnetes Buch und wurde liegen gelassen - an einem Sommertag auf einer Parkbank, in einem Bahnhof, auf dem Tisch in einem Café - irgendwo, wo es von einem anderen erfreuten Leser wie Dir gefangen werden kann.
Und Du kannst diesen Prozess dann Deinerseits fortsetzen. Möchtest du wissen, wo ich schon war und wer mich freigelassen hat? Gib die BookCrossing ID auf BookCrossing.com ein und finde es heraus! Journaleinträge zu mir lassen Dich wissen, wo ich war, wer mich gefangen und wer mich gelesen hat. Vielleicht bin ich weit herumgekommen!
Und mache selbst mit und gib mich nach dem Lesen weiter! Stell dir vor, dass du fünf Jahre, nachdem du mich liegen gelassen hast, eine Benachrichtigung von der speziellen Bookcrosser-Community bekommst, dass ich an einem völlig anderen Ende der Welt gefangen wurde! Ich kann aber auch – wie eine Flaschenpost – zu dir zurück kommen und dein Leben noch einmal verändern.
Eine, so sollte man meinen, ganz einfache Sache: Ein Buch irgendwo auf der Straße oder an einem öffentlichen Ort zu vergessen. Aber die Crosser sehen in der Bewegung des Büchertauschs eine besondere Philosophie: „Der Sinn liegt darin, dass ihr, wenn ihr ein Buch freilasst, ein Stückchen von euch selbst abgebt – ein Stück der Welt, die euch interessiert.“
Keine Unterschrift, keinerlei Hinweis auf denjenigen, der diesen Zettel verfasst haben mochte. Ein registriertes Buch? Aber da war nichts, keine Widmung, keine Signatur … Aber ich hatte einfach am falschen Ort nachgeschaut, instinktiv am Anfang des Romans. Doch wurde ich auf der hinteren Innenseite des Buchs fündig. Da war ein Aufkleber, kaum halb so groß wie das Etikett auf dem Buchrücken, die Ränder waren schon abgenutzt und ausgefranst … und tatsächlich fand ich darauf einen bereits etwas verblichenen, aber noch problemlos lesbaren Code.
BookCrossing. Wieso hatte ich als eifriger Leser noch nie etwas von dieser Bewegung gehört? Gut, ich war kein regelmäßiger Internetsurfer, doch scheute ich auch nicht vor der modernen Technologie zurück, wie ich etwa mit meinem Lesegerät bewies oder auch mit dem wunderbaren Laptop, mit dem ich Der Wasserschläfer geschrieben hatte und an dem ich gerade an der noch unbetitelten Fortsetzung bastelte. Ich wünschte in diesem Moment, eben diesen Laptop bei mir zu haben, um mich ins Internet einloggen zu können und unverzüglich die angegebene Adresse aufzusuchen. Wie oft war Vorüber, vorbei und vergraben wohl schon gefunden und wieder „vergessen“ worden? Schon ging ich im Geiste meine beachtliche Büchersammlung durch: Welche davon könnte ich entbehren und ebenfalls zu einem Teil dieser weltweiten Bibliothek machen?
Nicht Der Wasserschläfer, soviel stand fest. Lächelnd zog ich wieder jenes Buch hervor. Das Zellophan knisterte noch in dem Umschlag, in dem mir das erste Exemplar meines neuesten Werks geschickt worden war. Würde ich es nostalgisch aufheben? Wie ich mich kannte, war das gut möglich.
Noch einmal bewunderte ich das Cover, ließ meinen Blick diesmal auch über den kleineren Schriftzug Illustrationen von Thiemo van Haag gleiten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Hatte Thiemo sein Exemplar schon erhalten?
Andächtig schlug ich das Buch auf. Der Schriftzug war kindgerecht groß; ein Zweit- oder Drittklässler, und für diese Zielgruppe war es konzipiert, würde es bequem in ein oder zwei Tagen durchlesen können. Ich versuchte, mich in einen Jungen hineinzuversetzen, der dieses Buch das erste Mal aufschlug und las:
Kapitel 1: Alex will nicht schlafen
„Ich will nicht schlafen! Es ist doch erst neun Uhr!“, schimpfte Alex. Seine Mutter schaute ihn streng an: „Aber du hast jetzt drei Tage lang nicht geschlafen und die ganze Nacht in deinem Zimmer gespielt. Du musst schlafen, sonst müssen wir wieder zu Doktor
An dieser Stelle musste man schon umblättern, aber zuvor würde man sicherlich die Farbillustration bewundern, die den kleinen Alex im Pyjama auf seinem Bett sitzend zeigte, die Arme bockig verschränkt, während seine Mutter im Hintergrund mit wirr abstehenden Haaren verzweifelt die Augen aufriss. Wie es Thiemo nur gelang, diese Gesichtsausdrücke so perfekt zu treffen!
Ich blätterte weiter und kam zu meinem Lieblingsbild Thiemos. Der kleine Alex hatte bei seiner nächtlichen Wanderung durchs Haus – denn er hatte sich nur seiner Mutter zuliebe schlafend gestellt, konnte aber in Wirklichkeit kein Auge zumachen – entdeckt, dass die durch seine Schlaflosigkeit zerstreute Mutter vergessen hatte, das Badewasser abzulassen. Zwar war das Wasser schon kalt, doch wirkte es auf Alex so verlockend, dass er mitsamt seinem Pyjama in die Wanne kletterte. Sofort wurde er todmüde und rutschte unter das Wasser, wo er augenblicklich einschlief. Seine Mutter hörte das Platschen und kam herbeigeeilt. Das Bild zeigte sie von oben, ihr Kopf war über den Badewannenrand gebeugt – und unter der Wasseroberfläche schlief der kleine Alex leicht lächelnd, ein paar in Schlaufen verlaufende rrrrrrrrrrrr-Linien signalisierten, dass er leise schnarchte.
So begannen die Abenteuer von Alex Aqua, dem Jungen, der nur noch unter Wasser schlafen konnte und bald lernen würde, auch im wachen Zustand unter Wasser zu atmen. Zumindest hoffte ich, dass die Abenteuer hiermit begannen. Die nächsten Wochen und Monate mussten zeigen, ob die Verkaufszahlen eine Fortsetzung rechtfertigten, an der ich nichtsdestotrotz bereits voller Optimismus schrieb. Ob man mir einen Abstecher in das Reich der Kinderbücher verzieh?
Als ich Alex' durch das Wasser leicht verzerrte Gesichtszüge musterte, durchfuhr es mich einmal mehr mit einem Ruck, der mir bis in die Zehen und die Fingerspitzen ging: Ich war nicht hier, um Der Wasserschläfer zu bewundern, auch nicht, um ein BookCrosser-Buch zu „fangen“, wie sie es offenkundig nannten. Ich war hier, in diesem Park, weil ich feige war, weil ich Zeit zum Nachdenken brauchte.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Fast eine ganze Stunde war vergangen, seit ich mich hastig von dem Schild mit der harmlosen Aufschrift Barnabas Mai – Psychologische Beratungsstelle abgewendet hatte, als hätte ich Angst, jemand könnte mich beim bloßen Lesen des glänzenden Anschlags ertappen. Ich freute mich irrsinnig darauf, meiner Frau Claudia Der Wasserschläfer unter die Nase zu halten, mehrere Tage vor dem angekündigten Termin, aber was diese Freude dämpfte, war die Aussicht auf eine unweigerliche Nachfrage bezüglich Mais, wenn ich ihr gestehen musste, dass ich keinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte.
Es ist nur zehn Minuten entfernt, versuche es doch noch einmal, wollte ich mich selbst ermuntern. Aber war es nicht ein Zeichen, dass mein neuestes Buch ausgerechnet heute gekommen war? Ich hatte den Abstecher zu meinem Postfach nur als Verzögerungstaktik eingelegt; so spät wie möglich das Unvermeidliche angehen, ist von jeher eine meiner unvernünftigeren Philosophien – und da lag der Umschlag, und ich wusste sofort, was er enthalten würde.
Tatsächlich, wie ein Zeichen. Konnte ich, frischgebackener Kinderbuchautor (nach über einem Jahrzehnt, in dem ich mir mit meiner eigenen Ansicht nach eher mittelmäßigen Fantasy-Romanen eine kleine, aber treue Fangemeinschaft aufgebaut hatte) von Der Wasserschläfer in jenes Haus rein marschieren und dem mir völlig unbekannten Barnabas Mai, einem entfernten Kollegen meiner Frau, meine Seele offenlegen? Würde er mich ernst nehmen können – erst recht, wenn ihm jemals ein Exemplar von Alex Aquas Abenteuern in die Hände fiel?
So stand ich von der Parkbank auf, packte mein Buch zusammen mit Vorüber, vorbei und vergraben in die Plastiktüte eines großen Buchladens und machte mich mit hängendem Kopf auf zu meinem Wagen.
Ich war Schriftsteller, da würden mir Claudia gegenüber schon die richtigen Worte einfallen.
2
Als Claudia endlich den Blickkontakt abbrach und niedergeschlagen die Augen senkte, sodass ihre schulterlangen blonden Haare wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fielen, wünschte ich, sie würde schimpfen, mich vielleicht sogar an den Schultern packen und durchschütteln; diese blanke Enttäuschung, die ich nur einen Sekundenbruchteil zuvor in ihren Gesichtszügen hatte erkennen müssen, war eine ungemein schlimmere Strafe.
„Du hast es versprochen“, gab sie leise von sich, wie ein kleines Kind, dem man den zugesagten Ausflug in den Zoo nun doch vorenthalten musste, weil der Arbeitsberg fast unerklimmbar schien. Wir waren im Wohnzimmer, Claudia saß auf einer Sessellehne, ich stand einigermaßen unaufgeräumt in der Raummitte, Der Wasserschläfer wie ein Schild vor mich haltend.
Wie erwartet wollte Claudia als erstes wissen, was bei Barnabas Mai herausgekommen war, hatte meinem ganzen Stolz, dem Gestalt gewordenen Leben des Alex Aqua, nur einen flüchtigen Blick geschenkt, bevor sie mich mit Fragen bombardierte. Und Schriftsteller hin oder her – mir waren nach nur wenigen Sekunden völlig die Worte ausgegangen.
„Das mit dem Buch“, versuchte ich einen neuen Anlauf. „Das hat mich so euphorisch gemacht, ich habe mich so gut gefühlt ...“
„Thomas!“ Wann immer Claudia mich bei meinem vollen Namen nannte, war Gefahr im Verzug. Wir waren beide auch nach zehn Jahren des Zusammenlebens und einer nunmehr sieben Jahre andauernden Ehe keine großen Freunde von Kosenamen, aber ein „Tom“ war doch immer zumindest drin.
Wie immer reagierte ich mit einem etwas in die Länge gezogenen „Claudia?“, was ihr normalerweise etwas den Wind aus den Segeln nahm. Nicht aber heute. Die Unterarme auf die Knie gestützt, hob sie den Kopf und schaute mich von unten her durchdringend an.
„Ich habe dich schon oft gefragt, immer bist du ausgewichen. Jetzt frage ich dich noch einmal: Worauf willst du warten? Dass es körperliche Auswirkungen hat? Ich meine, mehr noch als jetzt schon?“
Dieser Nachsatz tat weh, wusste ich doch, dass sie auf die unleugbare Tatsache anspielte, dass unser Sexualleben in letzter Zeit deutliche Einbußen hatte hinnehmen müssen. Ich genoss den Sex noch immer – besonders gute Kompatibilität im Bett war einer der Faktoren, die uns am Anfang der Beziehung am engsten zusammenschweißten –, aber in letzter Zeit gelang es mir nicht, die Gedanken daran abzuschütteln, was danach kam. Als ich deshalb vorgestern zu meiner eigenen Überraschung erstmals in unserer Ehe Unwohlsein vortäuschte, um nicht auf Claudias Avancen einzugehen, hatte sie mich augenblicklich durchschaut und vehement darauf bestanden, dass ich endlich den Schritt zu Dr. Mai wagte.
„Aber was will dieser Typ schon machen?“, berief ich mich auf meine altbackenste Ausrede.
„Das lasse ich nicht mehr gelten!“, regte Claudia sich auch sofort auf und sprang von der Sessellehne, als hätte das Möbelstück beschlossen, sie sei zu schwer.
Claudia ist eine imposante Frau, die täglich als Chirurgin in einem weitgehend männlichen Umfeld ihr Durchsetzungsvermögen unter Beweis stellen muss und die es gleichzeitig schafft, die meisten Männer mit einem einfachen Lächeln völlig aus den Angeln zu heben, sie aber andererseits mit einem strengen Blick dazu in der Lage ist, sie zu beschämten Hündchen zu reduzieren, die mit eingezogenem Schwanz die Flucht ergriffen. Ihre stechend blauen Augen hatten mich von Anfang an gefangen genommen und doch habe ich noch nie erlebt, dass sie mehr als eine halbe Stunde im Bad verbringt; Claudia hat keinerlei Geduld mit Frauen, die mit ihr über Schminktipps oder Desperate Housewives diskutieren wollten, konnte zickiges Getue oder albernes Gekichere nicht abhaben und hatte kein Problem damit, in einigermaßen schmutzigen Klamotten und mit nur notdürftig zusammengebundenen Haaren einen spontanen Einkauf im Supermarkt zu erledigen, wenn ihr während der Gartenarbeit einfiel, dass ihr etwas fehlte; so geschehen nur wenige Wochen nach unserem Umzug nach Schweinfurt, als unsere Nachbarin, die in eben jenem Supermarkt an der Kasse arbeitete, sich über Claudias Auftreten das Maul zerreißen wollte. Ich weiß bis heute nicht, was Claudia tags darauf zu ihr sagte, aber seitdem ist Frau Feer von nebenan zahm wie ein Lamm.
Als sie nun vor mir stand, selbst in ihren flachen Hausschuhen etwas größer als ich – und ich messe immerhin nicht ganz 1,80 –, bohrten sich ihre Augen, die sie wie mit einem inneren Schalter von ungemein sexy, auf mädchenhaft kess, bis hin zu unerbittlich eisig umstellen konnte, in die meinen, die ihr nichts entgegenzusetzen hatten.
„Du hast ja Recht!“, rief ich sofort und machte einen Schritt zurück, dankbar über den Schild des Kinderbuchs zwischen uns. Irgendetwas in meinem eigenen Blick schien sie zu überzeugen, denn sie sank etwas in sich zusammen.
„Dann bitte, bitte handle auch vernünftig. Geh zu Barnabas, er ist ein guter Mann, ich empfehle ihn dir nicht umsonst.“
Ich nickte und rieb mir mit der freien Hand über die Augen. „Versprochen“, meinte ich.
„Mit allen Zehen?“ Das war ein alter Gag zwischen uns, ich könnte nicht einmal mehr erklären, woher er genau kam, aber er brachte mich dazu zu lächeln.
„Mit allen Zehen. Gleich morgen, okay?“ Claudia schaute mir nochmals tief in die Augen, als könnte sie in den Tiefen meiner Pupillen den Wahrheitsgehalt meiner Aussage überprüfen. Dann nickte auch sie und nahm endlich meinen mit nach Hause gebrachten Schatz zur Kenntnis.
„Dann zeig mal her“, lächelte sie wie ausgewechselt und schnappte sich Der Wasserschläfer.
In den nächsten Minuten blätterten wir das 45-seitige Kinderbuch gemeinsam durch, Claudia widmete sich jeder Zeile, gerade so, als hätte sie die Geschichte nicht schon mehrmals gelesen, war sie doch immer meine erste und kritischste Leserin. Sie lachte an den richtigen Stellen, zusammen bewunderten wir Thiemos Arbeit und stellten uns vor, als Kinder Alex Aqua begegnet zu sein. Wären wir von seinen Abenteuern gebannt gewesen? Ich wollte mir einreden, dass dem so gewesen wäre.
„Das mag ich am liebsten.“ Claudia tippte auf das eine gesamte Buchseite einnehmende Bild auf Seite 28. Alex hatte seinen Vater dazu überreden können, ein speziell für ihn angefertigtes Bett im heimischen Swimmingpool zu versenken. In diesem lag er nun, während seine Freunde aus der Nachbarschaft sich wie so oft im Wasser trollten. Zwei Jungen waren mit Taucherbrillen zu Alex hinabgestoßen und begafften ihn ungeniert, während Alex selbst zwei Mädchen dabei zusah, die über ihm ein Wettschwimmen veranstalteten. Es war die Szene, in der Alex klar wurde, dass er wegen seiner Andersartigkeit möglicherweise all seine Freunde verlieren würde, die einzige eher traurige, für manche Kinder vielleicht sogar beängstigende Stelle des Büchleins. Natürlich würde Alex schon bald zum Helden werden und seine Freunde behalten, die ihm auch in Zukunft beistehen würden – doch würden sicherlich viele Kinder immer wieder zu diesem Bild zurückkehren, zu Alex sorgenvoller Miene, zu den großen Augen der Jungen, die ihn anschauten wie einen gefährlichen Löwen im Käfig.
„Thiemo ist ein Genie“, flüsterte ich.
„Da fällt mir ein: Er hat vorhin angerufen. Er hat sein Exemplar auch schon.“
***
„Tom!“, dröhnte Thiemo mir ins Ohr, kaum dass es am anderen Ende zweimal geklingelt hatte. Die automatische Anruferkennung war eine der technischen Errungenschaften, mit denen ich mich nicht so recht anfreunden konnte, andererseits hatte ich keine Ahnung, wie ich meinen eigenen Apparat entsprechend umstellen sollte.
„Ja, hi“, entwich es mir lahm.
„Ich muss zugeben, dass sich dein Text recht gut zu meinen Bildern macht! Aber was genau hat sich der Verlag dabei gedacht? Mein Name ist auf dem Cover fast nur halb so groß wie deiner!“
Ich lächelte. Es ging kaum anders: Wenn man sich mit Thiemo unterhielt, hob sich die Stimmung, vielleicht auch deswegen, weil dieser keinerlei Lust hatte, sich mit schlechtgelaunten Menschen abzugeben und dies ihnen auch umgehend klarmachte. „Rummaulen kannst du woanders“, hatte er mir entgegen geschmettert, als ich Thiemo einst von einer glücklicherweise kurzen Schreibblockade hatte erzählen wollen.
„Wahre Genies werden zu Lebzeiten grundsätzlich verkannt“, pflichtete ich ihm bei.
„Aber endlich mal etwas Lesbares aus dem Hause Keller. Nichts mit Elfen und Kobolden.“
Obwohl ich wusste, dass Thiemo mich nur auf den Arm nehmen wollte, fühlte ich mich in meiner Schriftsteller-Ehre verletzt: „Ich habe noch nie etwas über Elfen und Kobolde geschrieben, und das weißt du genau.“
„Ach ja? Mein Wasserschläfer ist jedenfalls der Hit! Luca verschlingt es schon!“ Luca war Thiemos und Martinas fünfjähriger Sohn und mein Patenkind.
Ich verkniff mir ein empörtes „Dein Wasserschläfer“? und stellte die viel wichtigere Frage: „Und es gefällt ihm?“
„Selbstverständlich gefällt es ihm! Und ich kriege ihn bestimmt auch noch dazu, den Text mitzulesen!“ Ich schnaubte, während ich Martina im Hintergrund etwas rufen hörte.
„Ich soll dich fragen, ob du und Claudia nicht auf ein kühles Bier vorbeischauen wollt, zur Feier des Tages und so. Ich werfe ein paar meiner legendären Steaks auf den Grill, was meinst du?“
„Ich denke, da brauche ich Claudia nicht lange überreden.“ Claudia wollte Thiemo bereits vor Jahren zu ihrem Hauskoch berufen und starb für seine Steaks – Thiemo jedoch wollte sein ihm liebgewordenes Designstudio nicht so einfach aufgeben, um sich in der Küche der Kellers häuslich einzurichten. Schade, wie ich immer befand, wenn Claudia oder ich versuchten, etwas anderes als Spaghetti Bolognese oder Pizza Hawaii zu fabrizieren.
***
Kurz bevor wir aufbrachen, fiel mir etwas ein. Ich kam zu Claudia ins Bad, die sich gerade leicht die Wangen puderte, das einzige Makeup, das sie sich gönnte.
„Schau mal, habe ich heute im Park gefunden.“ Ich hielt das geschundene Exemplar von Vorüber, vorbei und vergraben hinter ihr hoch, sodass sie es im Spiegel sehen konnte.
„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man Dinge, die man irgendwo findet, nicht einfach so mitnimmt?“
„Meine Mutter hat mir auch beigebracht, dass man Frauen, die sich gerade schminken, nicht an den Hintern fasst“, erwiderte ich, trat an Claudia heran und tat genau das mit nicht unbedingt gespieltem, aber vielleicht etwas übertriebenem Genuss. Claudia legte den Pinsel beiseite und legte ihre Hand auf meine, aber nicht, um sie weg zu stoßen, sondern um sie im Gegenteil fester an sich zu pressen. Sie drängte sich näher an mich heran, und es dauerte keine zehn Sekunden, bis ihre leicht kreisenden Bewegungen und die Wärme ihres Körpers ihre Wirkung zeigten. Ich hatte mich soeben erst angezogen, aber von solchen Kleinigkeiten hatten wir uns noch nie abhalten lassen.
Schon hatte Claudia ihre Hose aufgeknöpft und sie mit einem entschlossenen Ruck bis zu den Knien nach unten gezogen, fingerte bereits, ohne sich umzudrehen, an meinem Gürtel herum. Der Thriller, der auf einer Parkbank auf mich gewartet hatte, flog in hohem Bogen durchs Bad, als ich Claudia zur Hilfe kam – und kurz darauf raubte mir die Lust beinahe alle Sinne, als ich ohne große Vorreden von hinten in sie eindrang.
Es ist mir kein Leichtes, über Sex zu schreiben. In meinen Fantasyromanen belasse ich es bei romantischen Andeutungen, und ich habe nicht vor, Alex Aqua mit einer Meerjungfrau zu kreuzen. Wie kommt das, frage ich mich? Muss ich mich dafür schämen, dass es hemmungsloser und in seiner Intensität bis dahin ungeahnter Sex war, der mich anfangs an Claudia kettete? Wie sie in jener ersten gemeinsamen Nacht über mich hergefallen war, werde ich niemals vergessen, und Claudia schafft es immer wieder, mich alles um mich herum vergessen zu lassen, wenn ich ihr wie fast immer beim Sex die Kontrolle überlasse. Es erregt mich endlos, wenn sie jene Anfälle hat, bei denen sie meinen restlichen Körper auszublenden scheint und sich mit Fingern, Lippen und Zunge nur einem Teil von mir widmet, ebenso wie wenn sie mit ihren Augen fest in die meinen schaut, während sie von einem Orgasmus geschüttelt wird. Noch etwas, was mich immer angenehm erschauern lässt, wenn ich nur daran denke: Es bedarf keines großen Vorspiels, um Claudia feucht zu machen. Auch jetzt glitt ich problemlos in sie und keuchte auf, sofort besorgt darüber, eventuell zu schnell die Beherrschung zu verlieren.
Wir waren beide aufgeladen, mindestens eine Woche musste seit unserem letzten Sex vergangen sein, entsprechend ungeduldig waren unsere Bewegungen, entsprechend lautstark unsere Seufzer der Lust. Es dauerte nicht lange, und ich dachte in keiner Sekunde an das danach. Und als ich kurz nach Claudias Höhepunkt spürte, dass es auch für mich kein Halten mehr gab, fasste Claudia, die meine Körpersprache lesen konnte wie niemand zuvor, nach hinten und zog mich noch tiefer in sie hinein – ein Rückzug in letzter Sekunde kam nicht in Frage und so kam ich, noch immer von ihrer Wärme umhüllt.
Keuchend lehnte ich mich an sie, die sich wiederum am Waschbecken abstützte, biss ihr sanft in den Hals, strich ihr übers Gesicht. Und doch gingen die Gedanken los.
„Hör einfach auf zu denken“, raunte Claudia sogleich mit geschlossenen Augen; war eine derartige Telepathie in jeder Ehe normal? Ich erwiderte nichts, aber schon beugte ich mich vorsichtig ein wenig nach hinten, zog die Kleenextücher aus dem Schrank hinter mir. Wenige Autoren beschreiben die Sauerei, die nach dem Sex kam: Würde ich mich jetzt einfach so aus Claudia zurückziehen, würde ihre noch immer in Kniehöhe hängende Hose unweigerlich mein Sperma abbekommen, da gab es nichts zu deuteln. Somit bewaffneten wir uns beide mit Tüchern, um dem Schlimmsten vorzubeugen, bevor wir uns trennten.
So weit, so gut. Ich ging umständlich – auch meine Hose war schließlich auf Halbmast – hinüber zur Toilette und reinigte mich notdürftig, auch unter Zuhilfenahme anderer Feuchtpflegetücher. Aber Sperma ist hartnäckig; soviel ich auch mit den Tüchern wischte, ich fühlte mich noch immer nicht richtig sauber.
Da hörte ich schon die Dusche. Wie zu erwarten war, hatte Claudia sich noch einmal alles vom Leib gerissen, um sich gründlich zu reinigen. Sie stand nackt vor der laufenden Dusche und warf mir einen fragenden Blick zu. Augenblicklich schnürte sich mir die Kehle zu.
„Nur kurz? Versuche es einfach.“
Ich spülte – wie in letzter Zeit üblich, ohne dem Wasser dabei zuzusehen, wie es das Papier mit sich nahm – und entledigte mich ebenfalls aller Klamotten. Als ich fertig war, wartete Claudia noch immer auf mich, während hinter der Duschwand bereits Dampf hervordrang. Ich stand da wie festgewachsen, bis Claudia sich schließlich ein Herz fasste und zu mir herüberkam. Sie nahm mich an der Hand und zog mich sanft nach vorne.
„Nein“, gab ich leise von mir. „Ich schaff das nicht.“
„Ich geh voraus, okay? Stelle die perfekte Temperatur ein.“
„Du weißt, dass es damit nichts zu tun hat.“ Meine Stimme ging beinahe im Brausen des Wassers unter. Ob Claudia mich gehört hatte oder nicht – sie zog die Duschwand auf und schlüpfte hindurch. Der Duschkopf zeigte zur hinteren Wand; es dauerte immer eine Weile, bis das Wasser richtig warm wurde, weshalb Claudia ihn stets so einstellte, wenn sie die Dusche verließ, damit sie nie Gefahr ließ, beim nächsten Mal von einem eiskalten Schwall erwischt zu werden. Nun nahm sie die Dusche aus dem Halter und hielt sie sich an den Bauch, sodass sich das Wasser über ihren Unterleib und ihre Beine ergoss, während sie sich abwartend zu mir umdrehte.
Wie in einem Traum drückte ich mir vom Seifenspender auf dem Waschbeckenrand ein wenig leicht nach Honig duftende Seife in die Hand und starrte dann in die Höhle des Löwen, nicht mehr als eine an sich einladend aussehende Duschkabine mit einer mehr als verlockenden, nackten Schönheit, die auf mich wartete. Dennoch waren meine Beine zentnerschwer, der kleine Absatz, den man in die Kabine überqueren musste, wirkte meterhoch.
„Wir machen ganz schnell, ja?“, versuchte Claudia, mich zu beruhigen. Ohne den Blick von dem Duschkopf zu nehmen, der mich hypnotisierte, als hielte Claudia eine unruhige Kobra in der Hand, verteilte ich die Flüssigseife langsam in meinen Schamhaaren, ein unangenehm glitschiges Gefühl, aber nötige Vorarbeit. Es musste schnell gehen, das zumindest hatte Claudia richtig erkannt.
Ich schloss die Augen. Dieser Irrsinn durfte nicht so weitergehen, ich musste mich zusammenreißen.
Konzentriere dich auf Claudia, auf ihren wunderbaren Körper.
Ich öffnete die Augen, fokussierte meine ganze Aufmerksamkeit auf Claudias flachen Bauch und die kokett sich mir entgegen reckenden Brüste, deren Warzen noch immer nach Zuneigung heischend nach oben standen und trat in die Dusche.
Sofort ließ Claudia die Tür hinter mir zu gleiten und richtete das warme Wasser auf die eingeseifte Stelle. Ich schrie. Es war ein kurzer Schrei, aber ob seines panischen Klangs nicht weniger erschütternd, selbst für mich, der ihn ausgestoßen hatte, erst recht für Claudia, die die Augen ungläubig aufriss.
Ich kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und rieb mir zwischen die Beine, als hätte Claudia einen Eimer Kellerasseln darüber ausgeschüttet. Das Wasser lief meine Beine hinunter, sammelte sich an meinen Füßen, das Blut stieg mir in den Kopf, der zu pochen begann, etwas Unsichtbares legte sich um meine Brust und zog sich zu.
„Muss … raus ...“ war alles, wozu ich fähig war, bevor ich hinter mich tastete, die Tür zur Seite schob und rückwärts aus der Kabine taumelte, wobei es mich fast der Länge nach hingelegt hätte, als ich auf den glatten Fliesen auszurutschen drohte. Ich riss ein Handtuch mit derartiger Gewalt vom Halter, dass zwei andere mit zu Boden fielen und begann, mich wild abzureiben, einem Feuerwehrmann gleich, der Flammen an seinem eigenen Körper zu ersticken suchte.
Wasser hat einen kleinen Kopf, dachte ich zum ungezählten Mal, ein Spruch, den mein Vater einmal losgelassen hatte, als er sich darüber aufregte, dass es ihm nicht gelingen wollte, einen Haarriss im Badezimmer ordentlich zu versiegeln; immer wieder kämpfte sich ein dünnes Wasserrinnsal durch.
Ich wusste, dass Claudia mich nur unten herum angebraust hatte, aber das Wasser schien überall, in jede Pore eingedrungen, erdrückend, übermächtig. Als meine Haut schon rot gescheuert war, warf ich das Handtuch von mir und erkannte, dass ich unwillkürlich so weit wie möglich von der Duschkabine zurückgewichen war und nun mit dem Rücken gegen die Türklinke stieß.
Ich hatte nicht mitbekommen, dass die Dusche abgestellt war und Claudia bereits aus ihr hervorgetreten war. Sie starrte mich an, unterhalb des Bauchnabels noch immer triefend nass.
„Mein Gott, Tom“, hauchte sie.
„Ich ...“ quetschte ich hervor. „Ich gehe zu Mai, gleich morgen.“ Dann riss ich die Badezimmertür auf und floh.