Traum und Wirklichkeit
© 2005 Anke Pekarsky
Die Straße war leer und verlassen. In ihren Träumen suchte sie nach einem anderen Menschen, nach jemandem, der sie verstand. Aber der Staub, der sich in all den Jahren auf der breiten Straße festgesetzt hatte, zeigte keinerlei Spuren von anderen Lebewesen. Und so lag der Weg immer noch vor ihr, in die Unendlichkeit reichend, am Horizont der dunstige, von einem blassen Rosarot durchzogene Himmel, der sich nie merklich änderte und ihr nur offenbarte, dass sie niemals ankommen würde, wo immer sie auch hin wollte. Der Weg änderte sich nicht, blieb stetig grau und unbegangen, einsam in ihren Träumen und Sehnsüchten, so sehr sie sich auch bemühte, irgendwo hinzugelangen, voranzuschreiten, weit auszuholen mit ihren nicht allzu dünnen Beinen. Aber es war, als würde sie auf der Stelle gehen. Und der Weg war doch so unendlich weit, so weit......
Maggi schreckte aus ihrem Traum hoch, versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte versucht, die Einsamkeit zu vertreiben, das große Nichts aus ihrem Herzen zu verbannen, das sich manchmal in einen Klumpen aus schmerzendem Eis zu verwandeln schien.
Sie dachte mit Tränen in den Augen an die glückliche Zeit, die sie mit ihrem Vater zusammen verbracht hatte, bevor ihr einfiel, dass er sie verlassen hatte, vor einem Monat, sie und ihre Mutter, um seiner eigenen Straße zu folgen. Dabei fragte sie sich immer wieder, ob er sie denn nicht liebte.
Aus dem Verhalten ihrer Mutter konnte sie nicht schließen, wie sie sich fühlte. Anscheinend war sie eine besonders gute Schauspielerin.
Deshalb war sie einsam, nicht, weil sie keine Freunde hatte, die hatte sie, wenn auch nicht in Maßen. Ihr fehlte die besondere Freundschaft ihres Vaters, das Verständnis, das Vertrauen, seine Blicke, mit denen sie über alles kommunizieren konnten. Aber was machte sie sich Gedanken darüber? Er war fort, aus ihrem Leben verschwunden wie ein besonders schöner Gedanke, auf den sie sich ihr ganzes Leben lang konzentriert hatte und der sich auf einmal wie aus dem Nichts in Luft aufgelöst hatte. Sie konnte ihn nicht zurückbringen, so sehr sie auch um ihn trauerte und weinte.
Maggi entschloss sich, wieder einzuschlafen, um am nächsten Tag nicht all zu müde zu sein und in der Schule am Ende sogar einzunicken.
Sie ging aus dem Haus wie an jedem Morgen, betrat die U-Bahn wie an jedem Wochentag, versuchte den Blicken der fremden, um sie stehenden Menschen aus dem Weg zu gehen wie an jedem anderen Morgen und hing verschlafen ihren eigenen Gedankenwelten hinterher, als sie jemand ansprach.
Sie schaute auf und entdeckte ein Lächeln, das auf sie gerichtet war.
Sie blickte wieder weg, denn sie glaubte nicht, dass der Fremde mit dem netten Funkeln in den Augen sie gemeint hatte, dabei hatte sie geglaubt ihren Namen gehört zu haben. Er hatte Maggi gesagt und dabei gelächelt. So hatte es sich zumindest für sie angehört.
Sie konnte nicht anders. Erneut blickte sie auf und musste erkennen, dass der Fremde verschwunden war. Sie machte sich nicht weiter Gedanken darüber und stieg wie jeden Morgen an der nächsten Haltestelle aus.
Während sie noch auf der Rolltreppe stand, die aus dem U-Bahnbereich herausführte, glaubte sie erneut, eine männliche Stimme zu vernehmen, die ihren Namen aussprach. Sie drehte sich um, entdeckte aber außer mürrischen, verschlafenen Gesichtern keines, welches ihr direkt zugewandt gewesen wäre.
Also schüttelte sie den Kopf und drehte sich erneut um. Allerdings stellte sich langsam ein beunruhigendes, verwirrendes Gefühl in ihr ein, das sie dazu bewegte, nervös mit den Fingern der rechten Hand auf der Gummierung des Bandes der Rolltreppe zu klopfen.
Beinahe war sie am oberen Ende der Rolltreppe angekommen, als sie erneut diese sanfte, männliche Stimme hörte, als stünde der Fremde genau neben ihr, aber in dem Gewimmel fremder Menschen konnte sie den Einen, der ihren Namen gerufen und sie in der U-Bahn freundlich angelächelt hatte, nicht finden.
"Wieso versteckst du dich? Meinst du nicht, dass du es wert bist, gesehen zu werden und gehört?"
Maggi verstand die Worte nicht. Während sie noch nach dem Gesicht mit den dunklen Augen und Haaren suchte, wäre sie beinahe am Ende der Treppe gestolpert. Ein paar Rolltreppenmitfahrer fluchten lauthals und beschimpften sie, ob sie nicht aufpassen könnte, sie sollte doch endlich aufwachen und ihre Augen aufmachen. Verzagt entschuldigte Maggi sich und trat ein paar Schritte zur Seite an einen breiten Betonpfeiler, wo sie schwer atmend stehen blieb und mit den Tränen kämpfte. Warum waren die Menschen nur so....so kalt? Ihr Vater hätte sie in diesem Augenblick beschützen und verteidigen sollen. Er hätte ihr Freund sein sollen. "Es ist in Ordnung. Sie waren im Unrecht."
Sie erwartete nicht, jemanden zu sehen, wenn sie sich nach der Stimme umwandte, aber dieses Mal irrte sie sich und so erschrak sie doch ein bisschen als der Fremde auf einmal vor ihr stand und sie mitleidig ansah. Immer noch war dieses Funkeln in seinen Augen, dieser Glanz, und ein sanftes Lächeln spielte um seine Mundwinkel herum.
"Diese Menschen sind dumm, in sich selbst versunken. Alles, was ihren Tagestrott stört und durcheinander bringt, verabscheuen sie. Sie trifft keine Schuld."
Maggi starrte den Mann mit offenem Mund an.
"Wieso interessiert Sie, was ich fühle? Es ist doch sonst allen egal."
Sie wandte ihren Blick von ihm ab, als sie merkte, dass sie ihn anstarrte.
"Deinem Vater ist es nicht egal."
Sie erschrak bei diesen Worten. Konnte dieser Mann, dieser Fremde, der zwar nach außen hin ein beruhigendes, freundliches Lächeln und etwas Tröstliches besaß, der aber dennoch nichts über sie und ihr bisheriges Leben wissen konnte, ein Freund sein? Er war ein Phantom, das urplötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war, das sie nicht abschütteln konnte und von dem sie nicht wusste, noch nicht einmal ahnte, was es in Wirklichkeit von ihr wollte. Vielleicht war dieses ganze Verständnis alles nur Fassade, vielleicht log er, mochte er sie gar nicht oder in einer falschen Art und Weise, kannte er sie nicht mehr als all diese anderen fremden Menschen, die sich ihren Weg durch die U-Bahn-Halle, die Rolltreppe hinauf zu ihrer täglichen Arbeit oder Schule erkämpften.
"Ich kenne Sie nicht. Wieso sollte ich Ihnen also trauen? Wieso sollte ich überhaupt mit Ihnen sprechen?"
Es kam keine Antwort. Ein kalter Lufthauch streifte ihr Gesicht und ließ ihr blondes Haar sanft aufflattern. Sie sah auf und entdeckte, dass der fremde Mann fort war.
"Er entzieht sich wichtigen Antworten. Er flüchtet vor der Wahrheit", dachte Maggi im Stillen und machte sich auf den Weg in die Schule.
Ihr ging der Fremde den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Es war keine Angst, die sie verspürte, vielmehr Neugier und die Sehnsucht vielleicht etwas über das Verbleiben ihres Vaters herauszubekommen.
Irgend etwas hatte dieser Fremde mit ihm zu tun. Es lag in diesen undurchdringlichen, warmen Augen, in diesem Glanz, in der ruhigen, sanften Stimme.
Als sie aufblickte und aus dem Fenster sah, sah sie ihn dort an einem Baum mitten im Pausenhof stehen. Er rührte sich nicht und lächelte dieses Mal auch nicht. Die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht gefiel ihr ebenso wenig wie die Art wie er dastand und sich nicht bewegte.
Die Lehrerin rief ihren Namen und lenkte sie von dem rätselhaften Bild ab. Und als sie wieder Zeit hatte, aus dem Fenster hinaus zu sehen, war er, natürlich, abermals verschwunden.
In der ersten Pause tat sie etwas Verbotenes. Sie verließ das Schulgelände, um zu einer nicht weit entfernten Telefonzelle zu gehen und ihre Mutter anzurufen. Sie wollte bei diesem Gespräch allein sein, nicht von irgendwelchen Sekretärinnen gestört oder von irgendwelchen Mitschülern komisch angesehen werden.
"Mama? Ich bin's, Maggi. Ich weiß, dass du nicht viel Zeit hast, aber lass mich ausreden."
Maggi drehte sich unruhig um die eigene Achse, während sie in der Zelle stand und den Hörer fest an ihr rechtes Ohr gepresst hielt.
"Ich möchte eines wissen. Was ist wirklich mit Papa geschehen? Was ist passiert?"
Sie lauschte einen Moment in die Muschel und vernahm auf einmal wie aus dem Nichts die Stimme des Fremden. Er drang durch den Telefonhörer zu ihr durch. Aber das durfte und konnte nicht sein. Sie sprach doch gerade mit ihrer Mutter. Sie hatte sie angerufen, um mit ihr über die Wahrheit zu reden. Und jetzt hatte sie den Fremden am Apparat.
Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln, während sich langsam eine gewisse Art der Panik in ihr ausbreitete und sie begann, hektisch zu atmen.
"Beruhige dich. Ich kann dir alles sagen, was du wissen willst. Deine Mutter trifft keinerlei Schuld."
Maggi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lehnte sich entkräftet gegen die gläsernen Türen der Telefonzelle.
"Dann sprechen Sie. Sagen Sie mir, was hier vor sich geht. Wohin ist Papa verschwunden? Warum hat er mich und Mama allein gelassen?"
"Das hat er nicht. Er und deine Mutter sind immer noch hier. Sie warten darauf, dass du zu ihnen zurück kommst."
Maggi verstand nicht, was der Fremde da zu ihr sagte. Sie verstand überhaupt nichts mehr.
"Ich....ich weiß nicht, was Sie meinen."
"Du bist diejenige, die dabei ist, zu gehen und sich nicht entscheiden kann. Deine Eltern würden dich gerne wieder haben, aber du weißt nicht, ob es das Richtige für dich ist. Du bist nicht alleine auf der staubigen Straße, wie du bisher geglaubt hast. Wir sind alle hier, um dich zu beschützen und ohne einen Kampf werden dich deine Eltern niemals gehen lassen."
Maggi merkte, wie sie schwach wurde, ihre Knie weich wurden und sie langsam an der glatten Scheibe der Telefonzelle zu Boden sank.
"Ich weiß nicht, wovon Sie reden."
Der schmutzige Boden der Zelle verwandelte sich in etwas Weiches, Warmes. Sie saß nicht mehr auf dem harten Boden der Zelle, sondern lag auf einer weichen Matratze, um sie herum war ein helles Licht, als befände sie sich immer noch in einem Traum, und um sie herum waren Stimmen, Stimmen, die sie liebte, die sie zum Leben brauchte. Sie riefen ihren Namen. Da war die Stimme ihrer Mutter, die sie die ganze Zeit über tagtäglich vernommen hatte, und die Stimme ihres Vaters, die sie so sehr vermisst hatte.
"Ich wollte früher kommen, aber ich saß am Flughafen fest."
Das Einzige, was Maggi bei diesen Worten dachte, war, dass ihr Vater kaum einen ganzen Monat lang am Flughafen festgesessen sein konnte.
Die Stimme des Fremden mischte sich in das Gespräch ein.
"Die Zeit ist für Ihre Tochter vielleicht anders vergangen als für uns, die wir auf dieser Seite stehen. Sie weiß nicht, dass das ganze erst ein paar Tage her ist, seit sie ins Koma gefallen ist. Sie denkt, es wäre schon ein Monat vergangen. Es wird Zeit, sie zu wecken."
Maggi spürte an jeder Hand einen warmen Druck. Dann wurde das Licht schwächer. Es war auf einmal nicht mehr so grell und blendend. Und die Welt veränderte sich.
Die Straße, die zuvor noch leer und staubig gewesen war, verwandelte sich. Sie hörte Autos hupen und erschreckte Schreie, die sie hätten warnen sollen. Dann das Quietschen von Bremsen und einen dumpfen Aufprall.
Etwas Warmes floss an ihrer Stirn hinab, über ihre Nase bis zu ihrem Mund. Sie schmeckte etwas Metallisches, Warmes und erkannte schließlich, dass es ihr Blut war.
Das Licht kam zurück und dann war da nur noch Schwärze.
Maggi öffnete langsam die Augen. Es schmerzte, das Licht der Wirklichkeit zu sehen, das weder grell noch kalt noch besonders warm war. Vielleicht war es das alles, vielleicht war die Wirklichkeit warm und kalt in einem, vielleicht musste sie das auch sein.
Jemand hatte seine Hand auf ihre gelegt und als ihre Augenlider flatterten, hörte sie jemanden kurz schluchzen und ihren Namen rufen.
"Maggi? Maggi. Doktor, sie wacht auf."
Ein Mann mit dunklen Haaren und Augen und einem sanften Lächeln trat an ihr Bett und strich über ihr blondes Haar.
Es war der Fremde aus der U-Bahn. Aber was dachte sie da? Die U-Bahn, so wie sie sie gesehen hatte, hatte es nicht wirklich gegeben. Das war alles nur in ihren Träumen geschehen. Er war nie wirklich da gewesen. Oder doch?
"Sie waren mein Engel", sprach sie mit zitternder, schwacher Stimme und lächelte ihn dankbar an.
Dann nahm sie aus den Augenwinkeln eine dritte Gestalt wahr, die neben ihrer Mutter erschien.
Immer noch waren die Gedanken ihres Komatraumes nicht ganz verschwunden und sie hatte das Gefühl, etwas wiedergefunden zu haben, das sie für immer verloren geglaubt hatte.
"Papa."
Er setzte sich an den Rand ihres Bettes und lächelte sie ebenfalls an.
Maggi war trotz des langen Schlafes müde und erschöpft und so schloss sie schon nach einigen Minuten des Wachseins ihre Augen wieder, nachdem alle den Raum verlassen hatten.
Als sie die Stimme des Fremden, der sich in der Wirklichkeit als Arzt entpuppt hatte, erneut vernahm, war sie zunächst nicht wirklich beunruhigt. Diese freundliche Stimme spukte eben immer noch in ihrem Kopf herum und ließ ihr keine Ruhe. Er war eben ihr Engel, ihr Retter, ihr Freund.
Sie lächelte im Schlaf.
"Aber glaubst du wirklich", die Stimme hatte sich merklich verändert. Etwas hämisches klang darin mit. "glaubst du wirklich, dass du Realität und Traum auseinander halten kannst? Maggi? Maggi?"
Immer wieder vernahm Maggi ihren Namen und das boshafte Lachen des Mannes, den sie einst für ihren Freund und Retter gehalten hatte.
Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher.