Wäsche
© 2007 Torsten Hefenbrock
„Mama! Das war mein Lieblingspulli!“, bellte Andrew durch die ganze Wohnung im dritten Stock des Hauses in der Stonehall Street. „Wieso musst du die Wäsche immer kochen?!“
Schon wieder war sein Pullover, der schwarze, den er fast schon liebte, um einige Zentimeter geschrumpft.
Macht sie das mit Absicht, oder was? dachte Andrew erbost und ein wenig traurig. Jetzt waren die Ärmel zu kurz! Wie sollte er sich so in der Öffentlichkeit blicken lassen? Er sah aus wie einer von denen, die bei der Essensausgabe gleich um die Ecke mit verdreckten Klamotten Schlange standen, jeden Mittwoch und Samstag, jeden Montag und Donnerstag, jeden Dienstag und Freitag und sogar jeden Sonntag immer um sechzehn Uhr.
Außerdem wollte er demnächst mal wieder eine Freundin und nicht mehr Single sein, aber wie sollte er das bewerkstelligen, wenn seine Mutter ihn in solch einer Kluft herum laufen ließ?
So bekam er nie eine ab, wie sein Freund Eddie gesagt hätte, der war nämlich mit einem Mädchen zusammen und zwar schon über ein Jahr und acht Monate.
Woher Andrew das wohl so genau wusste?
Er zerrte wütend am unteren Saum des Kleidungsstücks und versuchte es zu dehnen. Aber nachdem er losließ, zog es sich sofort wieder zusammen, mit dem Unterschied, dass es nun auch noch faltig war.
„Toll, toll, toll!“ Er sprach nicht gerade laut, seine Mutter musste nicht unbedingt alles hören und er wollte nicht ihre Bosheit zu spüren bekommen. Dann musste er sich Worte anhören, wie: „Nichts ist dir recht! Alles was ich mache ist falsch! Du könntest auch mal im Haushalt helfen, Küche, Klo, Bad putzen, Flur, Wohnzimmer, dein Zimmer, Schlafzimmer und Esszimmer saugen oder vielleicht mal ein wenig Staubwischen, wie wär’s damit? Oder wasch doch selbst deine Wäsche! Dein Vater war genauso wie du. Er wollte nie etwas machen, saß den ganzen Tag nur vor dem scheiß gottverdammten Flimmerkasten und nur zum…!“ Da brach sie meistens ab, weil es mich nichts anging, aber er wusste die letzten Worte, die sie nicht aussprach. Und nur zum Liebe machen bekam er abends seinen Arsch hoch! Wahrscheinlich hätte sie nicht „Liebe machen“ gesagt, aber es ist egal wie man es ausdrückt, es kommt immer auf das gleiche hinaus. Sein Vater soll angeblich ein sexsüchtiges Arschloch gewesen sein.
Einmal hatte Andrew, als er noch vier war, Schnaufen und Gestöhne gehört und sich Sorgen gemacht. Eine Weile konnte er in seinem Bett liegen bleiben, aber dann übermannte ihn der Gedanke, dass sich da drüben was Eigenartiges abspielte, das seinem Vater vielleicht etwas passiert war. Er war aufgestanden und hinüber ins Schlafzimmer gegangen. Es war dunkel gewesen.
„Alles in Ordnung?“, hatte er schüchtern zurückhaltend gesagt.
Das Gestöhne hatte schlagartig aufgehört und sein Dad hatte „Ja, ja geh ins Bett“ geantwortet.
Als er an dies alles dachte, bemerkte er plötzlich den Druck im sein rechtes Handgelenk. Er trug keine Uhr, weder rechts noch links. Der Stoff war es. Der Stoff am Ärmel zog sich wie ein Penis in der Kälte zusammen und wurde enger. Schon jetzt konnte er spüren, wie seine Adern abgedrückt wurden und fast keines oder nur wenig Blut in seine Hand und wieder zurück floss. Am linken Handgelenk begann dasselbe Spiel.
Der Kragen des schwarzen Rollkragenpullovers zog sich ebenfalls unheimlich schnell zusammen, als hätte ein Mörder seine warmen Hände um Andrews Hals gelegt. Er kam ein wenig ins Stocken und es dauerte eine Weile bis seine Motorik funktionierte, die er im Augenblick dringender brauchte als sonst irgendwann in seinem bisherigen Leben.
„Scheiße“, fauchte er schwitzend. Eine Scheißperle rollte von seiner Stirn hinunter auf seine Nasenspitze. Er glänzte im, durch das Fenster einfallende, Sonnenlicht. Um seinen Bauch zog sich ebenfalls der kratzige Stoff zusammen und er spürte, wie seine Innereien, seine Organe jeden Zentimeter in ihm nutzten. Er fühlte sich, als hätte er ein Ganzoberkörperkorsett an. Er konnte spüren wie er dünner wurde. Bald würde er nur noch ein Strich in der Landschaft sein, wenn es so weiter ging. Er begann mit dem rechten Bein zu zucken, wollte seinen rechten Arm heben, konnte es nicht. Der Pullover hinderte ihn daran wie ein Oberkörpergips. Als hätte er sich fünf Rippen und den Arm gebrochen und sich den Hals verstaucht.
„Mama“, krächzte er. Aber zu leise. Sie konnte ihn nicht hören. „Hilfe.
Bitte.
Ah.
Bitte.
Was…“
Er hustete.
„B…“
Die Halskrause wurde noch enger. Seine Hände konnte er nicht spüren und seine Arme konnte er nicht bewegen, der Schweiß rann ihm gnadenlos in die Augen und brannte wie Säure. Er konnte keine Hilfe erwarten, schließlich konnte er nicht schreien und seine Mutter saß im Wohnzimmer, gleich neben an, sah sich im Fernseher Unsere kleine Farm an und trank Kaffee. Die Tür zu seinem Zimmer war geschlossen, zum Laufen war er zu schwach.
Was ist hier los? dachte er verzweifelt. Was hab ich getan? Was…
Er bekam keine Luft mehr, konnte nicht atmen. Im wurde ein wenig schwarz vor Augen. Punkt für Punkt, Partikel für Partikel, Pixel für Pixel verschwand sein Zimmer in seinen Augen. Der Fernseher auf dem kleinen Regal vor ihm verschwand in der Schwärze. Die Poster von Eminem, 50 Cent und Ja Rule an der Wand verschwanden, der CD - Ständer, direkt unter Eminem, mit CD’s von seinen ganzen Lieblings Rappern verschwanden. Es war sogar eine von Elvis Presley dabei. Gott weiß, warum er sie hatte.
Egal.
Die Zeit wurde knapp. Die Luft wurde knapp. Alles wurde gottverdammt knapp.
Schwärze war alles was er sah. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und sank auf die Knie herab. Seine Arme hingen steif herunter. Sein Kopf ragte kerzengerade aus dem Pullover. Er schloss die Augen.
Kippte vornüber.
Wie ein Sack lag er reglos auf dem Boden.
Nein, sein rechter Fuß zuckte noch.
Dann nicht mehr.
Er war tot.
Seine Mutter saß neben an und hatte nichts gemerkt.
Zwei Stunden später klopfte sie an seine Tür. Langsam öffnete sie sie. Da sah sie ihn reglos am Boden liegen. Reglos! Keine Mutter und kein Vater sollten ihr Kind sterben sehen. Das ist eine unausgesprochene Regel.
Sie schwang aufgeregt hinüber, kniete sich neben ihn, nahm ihn in die Arme, sein Kopf hing schlaff herab, die Arme baumelte auf den Boden nieder.
Die Polizei wurde gerufen.
Der Mediziner sagte, er wäre an Schock gestorben.
Der Pullover, Größe M, war immer noch Größe M.
3. Februar 07
Torsten Hefenbrock