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Coming Out

 

© 2006 by Stephan Möller

 


Für Anna, Svenja und Vanne
in jedem von euch steckt ein bisschen mehr Melle, als ihr glaubt ;-)

 

 

Der Bus kam an und Steffen blieb noch ein bisschen sitzen. Er hatte keine Lust auf Zuhause, nicht nach den zehn genialen Tagen, die er zusammen mit Melanie, Jan und den anderen Leuten aus seiner Klasse in Dänemark verbracht hatte. Zehn Tage Spaß, zehn Tage nur Freunde (und weniger freundliche Klassenkameraden, aber die zählten nicht) und zwei coole Lehrer als Elternersatz (auch hier konnte man die beiden weniger freundlichen aus der Wertung lassen); und acht Tage davon waren noch genialer gewesen, weil er sich endlich getraut hatte, seinem besten Kumpel Jan und Melanie – die jetzt zu seiner besten Freundin geworden war – seine Homosexualität zu gestehen. Er hatte festgestellt, dass es sich viel besser anfühlte, „draußen“ zu sein ... so konnte er jetzt endlich mit jemandem über süße oder weniger süße Jungs lästern, beziehungsweise von ihnen schwärmen; er brauchte sich nicht mehr Jans ständige Bemerkungen über „geile Weiber“ anhören; und vor allem nicht mehr dauernd „schwul“ oder „gay“ oder „Schwuchtel“ als Schimpfwörter von ihm ertragen. Er wusste, dass er zunächst nicht der ganzen Welt erzählen sollte, dass er schwul ist, aber dennoch würde er es in der nächsten Zeit einigen engeren Freunden erzählen, das hatte er sich zumindest vorgenommen.

Doch jetzt erst mal nach Hause. Vorbei die zehn Tage, vorbei das ständige Zusammensein mit Melle und Jan, vorbei die extrem kurzen, aber lustigen Nächte – vorbei die Freiheit. Jetzt musste er wieder nach Hause, wo seine ständig gereizte Mutter, sein dadurch genervter Vater und seine oft nervige kleine Schwester auf ihn warteten, dazu zahllose Stunden vor dem Fernseher, dem PC oder hinter einem Buch, weil die Atmosphäre innerhalb der Familie so kalt war, dass man sich nur dadurch Ablenkung verschaffen konnte. Zurück zum Stress, zum Streit, zum Angekotztsein. Zurück zu denen, die glaubten, alles von ihm zu wissen, denen er aber einen wichtigen Bestandteil seines Lebens vorenthalten musste, weil er sonst zu befürchten hatte, dass er in hohem Bogen aus dem Haus flog.

Der Busfahrer öffnete die Türen. Seine Mitschüler sprangen auf, schienen alle freudig erregt zu sein, wieder nach Hause zu kommen, aber Steffen hatte sich dieses Gefühl nicht. Während alle um ihn herum aufstanden und nach ihrem Handgepäck über den Sitzbänken griffen, blieb er noch sitzen und versuchte Zeit herauszuzögern. Erst als Melanie sich von rechts neben ihm meldete, weil sie auch endlich nach draußen wollte, bewegte er sich unfreiwillig und griff nach seinem Rucksack, vollgeladen mit Büchern und CDs und dadurch ziemlich schwer – er hatte nicht damit gerechnet, dass diese zehn Tage so voller Erlebnisse stecken würden und deshalb einiges eingepackt.

Als er nach draußen kam, musste er sich erst umgucken, um seine Familie zu finden, doch dann sah er seine Mutter und seine Schwester hinter der Traube der Eltern stehen, die wie wild über ihre Kinder herfielen,

„Hi Mama, hi Babs“, sagte er, als er auf seine Mutter und seine Schwester zuging, nachdem er seinen Koffer aus dem Bus geholt hatte.

„Na Großer? Wie war’s?“ Die Standardfrage.

„Ganz gut!“ Die Standardantwort. Ihm war nicht danach, jetzt einen langen Bericht abzulegen, das konnte er am Abend immer noch machen – das Beste würde er eh verheimlichen müssen. „Wo ist Papa?“

„Muss arbeiten.“

In diesem Moment kam Melanie zu ihm her. „Tschüss du“, sagte sie und umarmte ihn kurz.

„Hast du vielleicht heute abend Lust, bei mir vorbeizukommen?“, sagte er leise, damit seine Mutter es nicht hörte. „Hab keinen Bock, alleine mit meinen Alten zu Hause zu sein ... gibt eh nur wieder irgendwelchen Stress.“

„So schlimm?“

„Ja ... kommst du?“

„Kann ich machen, muss es aber noch mit meiner Ma absprechen. Ich ruf dich nachher an.“

„Geht klar!“

Sie drückte ihn noch einmal kurz und ging dann wieder zu ihrer Mutter zurück.

„Wer war das?“, fragte seine Mutter ihn.

„Melanie – `ne gute Freundin. Kann sie heute abend bei mir vorbeikommen?“

„Meinetwegen.“

Und damit war die Sache geritzt, denn Steffen glaubte nicht, dass Melle ihn würde hängen lassen.



Melanie und Steffen saßen in seinem Zimmer, hatten Musik an und redeten über die letzten zehn Tage und über „die Sache“, wie sie es nannten, damit Steffens Eltern keinen Verdacht schöpften, falls sie vorbeikamen, denn sie konnten bewirken, dass die Wände Ohren bekamen, wenn sie etwas vermuteten – und das taten sie, wenngleich auch das Falsche.

„Meinst du, ich sollte es meinen Eltern erzählen?“

„Das musst du wissen ... ich kenne deine Eltern ja kaum! Deine Mutter kam mir gerade ziemlich nett und cool vor.“

„Ist sie ja eigentlich auch, aber bei dem Thema ... weißt du, sie ist so streng katholisch, das wäre sogar Jesus peinlich!“

„Aber du bist ihr Sohn!“

„Ja, ich weiß ...“

In diesem Moment kam seine kleine Schwester ins Zimmer. „Nanana, was macht ihr denn hier?“ Steffen merkte, dass die beiden wirklich ziemlich dicht aneinander auf dem Sofa saßen ... jemand, der nicht bescheid wusste, musste da schon auf falsche Gedanken kommen.

„Was willst du?“, machte er sie harsch an.

„Ich soll dir von Mama sagen, dass ihr die Musik leiser machen sollt!“

„Kann sie nicht lauschen, oder was?“

„Soll ich ihr das ausrichten?“

„Nee, schon gut!“ Er stand auf, ging an seinen PC und machte die Musik leiser. Barbara ging aus dem Zimmer und machte die Tür zu.

„Wie alt ist sie?“

„Vierzehn.“

„Dann erzähl es ihr! Sie wird besser wissen als ich, ob du es deinen Eltern sagen kannst. Und ihr scheint ja keine schlechte Beziehung zueinander zu haben, oder sehe ich das falsch?“

„Nee, ist schon richtig ... meinst du wirklich?“

„Warum nicht? Wenn jemand außer dir weiß, wie deine Eltern darauf reagieren würden, dann sie. Und mit 14 ist sie ja wohl alt genug, zu checken, was Schwulsein bedeutet. Ich denke gerade daran, was ich getan hätte, hätte ich mit 14 `nen schwulen Bruder gehabt.“

„Und was?“

„Ich wäre quer durchs Haus gesprungen.“ Sie lachte. „Ihr Schwuppen habt für uns Mädels irgendwie was Besonderes an euch ... vielleicht einfach, dass man mit euch endlich mal Kerle erwischt hat, bei denen man nicht als Frischfleisch betrachtet wird.“

Er stieg in ihr Lachen ein. „Ach was ... ihr seid nur darauf aus, mal mit Typen Schuhe kaufen zu gehen, ohne gedrängelt zu werden!“

Sie lachten, bis sie nicht mehr konnten. Dann wurde es ruhig, und Steffen nutzte diese kurze Pause, um nachzudenken. Sollte er „es“ wirklich Barbara erzählen? Eigentlich hatte Melle recht ... Barbara war alt genug, zu wissen, was „schwul“ bedeutet, und dass sie nichts dagegen haben würde, wusste er auch, denn sie hatte Jan einmal ziemlich zusammengeschissen, als er wieder mal „Schwuchtel“ als Schimpfwort benutzt hatte.

„Okay“, sagte er, „lass es uns tun!“

Barbara starrte ihn an, als käme er vom Mond. „Ich denk, du bist ... nicht so!“

„Boah ... sei nicht albern! Lass uns zu meiner Schwester gehen und es ihr erzählen.“

„Jetzt?“

„Nein, morgen! Natürlich jetzt, was denkst du denn?“

„Na gut ...“

„Ist mir lieber, wenn du dabei bist ... außerdem ist ihre Reaktion bestimmt auch nicht schlecht!“

Also gingen sie in Barbaras Zimmer und zogen die Tür hinter sich zu.



„Könnt ihr nicht anklopfen?“, schrie Barbara, als sie einfach in ihr Zimmer kamen. Sie lag gerade in Tanga und T-Shirt auf dem Bett und sah fern. Jetzt beeilte sie sich, die Decke über ihre nackten Beine und Pobacken zu ziehen.

„Keine Angst, das interessiert mich eh nicht“, sagte Steffen.

„Das wär ja auch noch schöner! Ich bin deine Schwester!“

„Nein, das meine ich nicht ...“ Er sprach dies und wartete dann ab, hoffend, dass sie den Wink verstehen würde.

„Was willst du mir denn damit sagen?“

„Sagen ist nicht schlecht“, mischte sich Melle ein. „Wir sind nämlich gekommen, um dir etwas zu sagen ... beziehungsweise Steffen ist das, ich bin nur geistiger Beistand.“

„Was gibt’s denn noch groß zu sagen? Ich meine, dass ihr zusammen seid, müsst ihr nicht mehr verkünden, das weiß doch eh schon die ganze Familie, so wie ihr heute auf dem Sofa gesessen und geturtelt habt.“

„Nein, wir sind nicht zusammen“, sagte Steffen. „Wir sind eher gekommen, um dir das Gegenteil zu erzählen.“

„Boah, nun rück schon raus mit der Sprache! Am Ende willst du mir erzählen, dass du schwul bist!“ Sie schien kurz zu überlegen. Dann sah sie auf und guckte ihrem Bruder direkt in die Augen. Sie dachte, sie würde jetzt Protest zu hören bekommen, aber in seinem Gesicht machte sich nicht der kleinste Hauch von Abstreitung breit. „Nein ... .“ Sie schluckte. „Jetzt nicht echt, oder?“

„Doch ... ich bin schwul. Und das wollten wir dir sagen!“

Sie sprang vom Bett auf und fiel ihrem Bruder um den Hals, wobei sie wie wild kreischte und lachte.

„Pssssst“, machte Steffen, „sonst denken Mama und Papa am Ende noch, ich würde dir was antun, so wie du angezogen bist.“

„Schon gut ... warum rückst du denn ausgerechnet jetzt damit raus?“, fragte sie.

Melanie wusste, dass Barbara Steffen jetzt ausquetschen würde, seit wann er das wusste, wie man so was herausbekam, ob er einen Freund hatte und so weiter, und irgendwann würde auch die Frage kommen, wann er es ihren Eltern erzählen würde ... und dann würde sie stören. Deshalb ging sie mit den Worten „Ich setz mich in dein Zimmer und höre Musik“ aus dem Raum.

„Ist okay“, sagte er ihr nach, dann wandte er sich wieder seiner Schwester zu. „Na ja“, begann er und spürte, dass er wieder etwas verlegen wurde, „weißt du, ich habe es auf der Klassenfahrt das erste Mal jemandem erzählt. Erst Melanie, weil sie in mich verliebt war und wohl dachte, dass ich sie nicht mögen würde, und deshalb nicht auf sie einging; dann Jan, einfach weil er mein bester Freund ist und ich auch seine ständigen Schwulensprüche satt hatte.“

„Kann ich verstehen“, sagte sie. „Der übertreibt’s echt teilweise.“

„Jetzt nicht mehr, das hat er mir versprochen.“ Er dachte kurz darüber nach, wo er stehen geblieben war, dann kam es ihm wieder und er machte weiter. „Na ja ... auf jeden Fall haben mich beide gefragt, ob Mama und Papa es schon wissen. Nein, hab ich dann geantwortet, und dann, dass ich Angst habe, weil ich nicht weiß, wie sie darauf reagieren würden. Na ja, das ist der Hauptgrund, warum ich es dir erzähle: weil ich hoffe, dass du mir dabei hilfst, es Mama und Papa zu erzählen.“ Dann begann er zu lächeln. „ Und außerdem bist du meine Schwester, warum sollte ich es dir also verheimlichen, wenn ich eh schon damit angefangen habe, mich zu outen?“

Sie wurde rot und lächelte ihn an. „Ach Brüderchen“, sagte sie, und er sah, dass ihr eine Träne die Wange runterlief. „Ich find’s cool, dass du mir so vertraust.“ Sie umarmte ihn noch mal. „Und wie merkt man so was?“

Steffen musste innerlich auflachen, und ein bisschen davon drängte bis nach außen durch. „Warum lachst du? Die Frage war ernst gemeint!“ Barbara schien ein wenig beleidigt.

„Ich hab die Frage auch ernst genommen, aber ... weißt du, dass ist eine der Fragen, die einem immer gestellt werden! Na ja ... das merkt man einfach. Wenn die Kumpels bei jeder nackten Brust im Fernsehen abgehen wie Schmidts Katze, und bei dir regt sich gar nichts ... dann macht dich das nachdenklich. Viel schwerer ist es, es sich selbst einzugestehen. Das hat mich ziemlich viel Überwindung gekostet.“

„Kann ich mir vorstellen. Vor allem bei einem Kumpel wie Jan. Hat der denn nie was gemerkt?“

„Nein, der dachte bis zuletzt, ich würde auch auf Melle stehen. Aber weißt du ... solange, wie wir uns schon kennen, nehm ich’s ihm nicht übel. Er reißt sich ja auch zusammen, seit er’s von mir weiß ... und selbst wenn’s ihm mal rausrutscht, was soll’s, er meint es ja nicht so!“

„Schon klar. Sag mal ... hast du eigentlich `nen Typen am Start?“ Sie grinste ihn an.

„Nein ... gibt da einen aus meiner Klasse, den finde ich ziemlich geil, aber der ist eh nicht schwul.“

„Und hattest du denn wenigstens schon mal einen?“

„Nee, auch nicht.“

„Kommt schon noch! Ich denke, wenn du erstmal geoutet bist, werden sich dir noch andere Schwule aus deinem Umfeld zu erkennen geben.“

„Mag sein ... aber bitte, rede ein bisschen leiser! Ich will nicht, dass Mama und Papa das mitbekommen, zumindest noch nicht. Wenn ich es ihnen erzähle, dann will ich es ihnen ins Gesicht sagen, und nicht, dass sie es mitbekommen, weil sie es zufällig hören.“

„Meinst du, du wirst es ihnen bald erzählen?“

„Gute Frage ... ich habe einfach Angst, dass sie schlecht drauf reagieren. Na ja, ich meine ... du kennst ja Papa mit seinen Sprüchen, von wegen „Westerwelle würde ich wählen, wenn er nicht schwul wäre“, und bla. Und Mama mit ihrem katholischen Kram ist auch nicht besser.“

„Ach komm, du bist ihr Sohn!“

„Ja, hat Melle auch gesagt, und es stimmt auch ... aber was, wenn nicht? Ich meine, das ist mir zu unsicher. Was ist, wenn sie doch schlecht drauf reagieren und mich rausschmeißen? Ich meine, klar, hier geht eh alles nur noch drunter und drüber, aber meine Pläne vom Abi könnte ich dann wegwerfen!“

„Ach Quatsch ... ich kann mir gut vorstellen, dass Papa erst furchtbar rumschreit und `n paar Tage lang nicht mit dir redet, und Mama wird erstmal in die Kirche rennen und zehn Vater Unser beten, aber sie werden dich ganz bestimmt nicht rausschmeißen!“

„Wenn du meinst ... na ja, ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen. Bist du dabei, wenn ich’s ihnen erzähle, und verteidigst mich notfalls? Melle hat’s mir auch schon versprochen.“

„Ach klar. Du, ich werde auf jeden Fall hinter dir stehen, egal was Mama und Papa sagen. Und wenn du ausziehen musst, komme ich mit. Du bist eh der einzige halbwegs normale Mensch in diesem Haus, der in letzter Zeit nicht durchdreht wie `n Huhn auf der Schlachtbank!“

Sie lächelte ihn wieder an und er lächelte zurück. „Ich hab dich lieb“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „So, jetzt lass ich dich aber wieder alleine ... Melle wartet.“

„Ist okay. Und nochmal danke für das Vertrauen.“

„Und? Was hat sie dich alles gefragt?“

„Sie ist genauso neugierig gewesen, wie du!“ Er streckte ihr die Zunge raus.

„Hey“, rief sie und knuffte ihn.

„Na ja ... sie hat halt gefragt, wie wir ausgerechnet jetzt drauf kommen ... ob ich `nen Freund habe oder schon mal einen hatte ... und na ja, über meine Eltern hat sie mich auch ausgefragt.“

„Und? Wie habt ihr entschieden? Oder habt ihr noch nicht speziell darüber geredet?“

„Doch. Sie meinte, dass sie sich zwar vorstellen kann, dass es jede Menge Ärger geben wird, aber rausschmeißen werden sie mich nicht.“

„Und? Wann gehst du’s an?“

„Ich weiß noch nicht ... ich hab ihr gesagt, dass ich’s mir nochmal durch den Kopf gehen lasse. Sie will übrigens auch dabei sein, wenn ich es ihnen erzähle.“

„Cool, dann sind wir ja schon drei. Und wenn du Jan noch dabei haben willst, wird er sicher auch nicht nein sagen.“

„Na ja ... aber wir sollten es nicht übertreiben, finde ich. Ich meine, das ist ja auch `n bisschen was persönliches gegenüber meinen Eltern, und wenn dann die ganze Küche vollsitzt ... nee, mein Schwester, du und ich, das reicht. Ich meine, Jan wird eh nicht groß was dazu sagen – ich glaube, er kommt damit wohl klar, aber so toll findet er’s auch nicht.“

„Wie du meinst.“

„Lass nochmal kurz raus ... ich will noch eine rauchen.“



Die beiden saßen draußen auf der Terrasse und rauchten gemütlich eine Zigarette. Normalerweise war Melanie Nichtraucher, aber heute Abend machte sie mal eine Ausnahme.

Es war bereits dunkel und Steffen genoss die ruhige Nacht. Es war warm, fast schwül, aber gerade noch so, dass es angenehm und nicht lästig war. Die Wolken ließen sich nicht blicken, so dass die zwei eine prima Aussicht auf die Sterne hatten.

Steffen jedoch sah nur mit einem Auge hin, fühlte das alles nur mit den halben Sinnen. In Gedanken wog er ab, ob er es seinen Eltern erzählen sollte oder nicht; was sie sagen würden – würden sie ihn anschreien, mit Hausarrest belegen, ihn letztendlich sogar rausschmeißen, wie er befürchtete ... oder würden sie entgegen allen Erwartungen cool darauf reagieren, ihn umarmen und ausfragen, wie es Barbara, Melanie und Jan getan hatten?

„Wir tun’s morgen“, sagte er so plötzlich, dass Melanie fast aufschrie.

„Was meinst du? Doch nicht etwa ... .“

„Doch. Morgen am Frühstückstisch erzählen wir es ihnen. Das heißt, wenn du nichts dagegen hast ... .“

„Nein, wieso sollte ich? Ist doch deine Sache, ich hab dir versprochen, dass ich auf jeden Fall hinter dir stehe, und das halte ich ... wirklich!“

„Danke.“ Er lächelte sie an. Er war froh, eine Freundin wie sie gefunden zu haben – dabei hatte er erst gedacht, sie würde fürchterlich enttäuscht sein und nicht mehr mit ihm reden wollen, schließlich war sie ja in ihn verliebt gewesen. Da kam ihm etwas in den Sinn, was ihn plötzlich dringend interessierte. „Sag mal“, begann er, „darf ich dich gerade mal was Persönliches fragen?“

„Klar, raus damit.“

„Du warst doch auf der Klassenfahrt noch in mich verliebt, das wird ja jetzt nicht plötzlich verflogen sein, seitdem du erfahren hast, dass ich schwul bin ... wie machst du das mit deinen Gefühlen? Ich meine ... das merkt man dir überhaupt nicht an, aber das muss doch irgendwie auch weh tun, oder?“

„Na ja ... einerseits ist es schon schwer, die Gefühle zu dir zu verdrängen, aber andererseits bin ich viel eher froh, dass der Grund dafür, dass draus nichts geworden ist, nicht der war, dass du mich nicht magst. Und weißt du ... so’n schwuler Kumpel ist ja auch was Tolles, hat nicht jede.“

„Aber Gefühle sind noch da?“

„Ja. Ist das schlimm für dich?“

„Nein, quatsch.“

Sie waren ein bisschen ruhig. Steffen drückte seine Zigarette auf dem Boden aus, warf den Stummel auf den Rasen und zündete sich eine neue an.

„Um nochmal zum eigentlichen Thema zurückzukommen“, durchbrach Melanie die Stille, „wie kommst du plötzlich darauf, es deinen Eltern zu erzählen?“

„Ich hab einfach die Ungewissheit satt. Ständig frag ich mich selber, wie sie wohl reagieren und ständig grübel ich darüber nach, was passiert, wenn sie mich denn rausschmeißen. Ich will endlich Gewissheit. Und ich will mich nicht mehr verstecken. Ich werde mich auch sofort überall outen, wenn ich wieder in der Schule bin.“

„Kann ich wohl verstehen ... ach Mensch, ich bin stolz auf mich, den richtigen schwulen Kumpel ausgesucht zu haben.“

Das brachte sie beide zum lachen und sie mussten sich furchtbar zusammenreißen, um nicht Steffens Eltern aufzuwecken.



Sie waren wieder in seinem Zimmer und machten sich bettfertig. Steffen zog sein T-Shirt, seine Hose und seine Socken aus, ging noch kurz pinkeln und Zähne putzen, und legte sich dann in sein Bett. Dann sah er zu Melanie hoch, die noch immer in Gedanken versunken und vollkommen angezogen auf dem Sofa saß.

„Willst du noch nicht schlafen?“

„Doch ... ich hab nur gerade nochmal nachgedacht.“

„Und worüber?“

„Na ja ... über dich und die Sache ... und das, was du morgen vor hast. Ich meine ... morgen wird ein ziemlich bedeutender Tag sein. Du wirst deinen Eltern etwas erzählen, was ein großer Bestandteil deines Lebens ist, und entweder werden sie positiv oder negativ reagieren. Neutral ist nicht drin, entweder gut oder schlecht.“ Sie sah ihn an. „Bist du dir wirklich sicher, dass du es tun willst? So eine Entscheidung will gut überdacht sein!“

„Ja, schon. Ich denk, du stehst voll hinter mir!“

„Tu ich doch auch! Ich ... ich will ja nur, dass du dir vollkommen sicher bist, bevor du es angehst. Dass du es nicht überstürzt!“

„Doch. Ich will es tun. Ich will, dass sie es endlich wissen – ich will mit dem Versteckspielen aufhören, und ich will Gewissheit haben.“

„Wenn du dir so sicher bist ... dann habe ich keine Bedenken, dass es falsch ist. Irgendwann muss es ja eh raus.“

„Eben ... wenn meine Eltern morgen negativ reagieren, werden sie das wahrscheinlich auch noch in einem halben Jahr tun. Also, was soll’s?“

Sie sah ihn an und schwieg, dabei lächelte sie. „Ich bin stolz auf dich! Und ich bewundere dich dafür.“

Er wurde verlegen. „Was gibt es denn da zu bewundern?“, fragte er, nicht unhöflich, sondern eher neugierig.

„Die Stärke. Ich weiß nicht, ob ich das auch so einfach sagen könnte.“

„Danke.“

Sie blieb noch einen Moment sitzen, dann stand sie auf und zog sich ihr Oberteil, ihre Jeans und dann ihren BH aus. Steffen wollte nicht, aber er konnte die Augen nicht von ihr nehmen. Es erregte ihn nicht, aber dennoch sah er hin.

Melanie merkte das. „Ich denk, du bist schwul!“

„Ja, sorry ...“ Er wusste nicht so Recht, was er sagen sollte. „Es erregt mich nicht ... aber irgendwie ... das ist für mich so ... na ja, das klingt jetzt mit Sicherheit nach übelstem Hollywood-Klischee, aber es ist ein total rührendes Gefühl, dass du mir so vertraust. Das ist doof ausgedrückt, aber ... ich kann’s irgendwie nicht anders.“

„Schon okay, ich kann dir folgen.“ Sie musste grinsen. „Außerdem müsstest du doch wissen, dass ich die Letzte wäre, die was dagegen hätte, wenn du mich geil finden würdest.“

Er lachte auf, allerdings mit vorgehaltener Hand, um seine Eltern nicht aufzuwecken. „Du ... tut mir leid, aber ... da muss ich dich enttäuschen, denke ich.“

„Weiß ich doch! Und deshalb bist du wohl auch der einzige Typ, der nichts von mir will, der je das hier zu sehen bekommt.“ Sie deutete grinsend auf ihre Brüste und legte sich auf die Matratze, die direkt neben Steffens Bett lag.

„Du schläfst so?“

„Warum nicht? So warm, wie es ist! Wenn ich alleine bin, schlaf ich sogar komplett nackt, aber `n bisschen Intimität bewahre ich sogar dir gegenüber auf, auch wenn du meine Lieblings-Schwubbe bist.“ Sie beugte sich hoch, drückte ihm einen Kuss auf den Mund und deckte sich dann zu. „Gute Nacht, Lieblings-Schwubbe!“

„Gute Nacht, Lieblings-Hete!“

„Schlaf gut ... und träum was Geiles!“

„Auf was spielst `n du da an?“

„Sag ich nicht ... lass deiner Phantasie freien Lauf. So, jetzt sieh zu, dass du pennst, wir sollten morgen früh raus, damit wir auch garantiert nicht das Frühstück verpassen.“

„Geht klar. Schlaf gut!“



In der Tat standen die beiden am nächsten Morgen schon um halb acht auf. Die Sonne stand bereits am Himmel und schickte ihre Strahlen durch das Fenster – sie hatten am Abend zuvor vergessen, die Jalousie herunterzulassen. Es würde ein sehr warmer Tag werden.

„Guten Morgen“, gähnte Steffen und setzte sich auf.

„Morgen.“ Melanie gähnte ebenfalls. „Wie spät ist es?“

„Halb acht.“

„Gut ... dann lass uns mal aufstehen, damit du noch eine rauchen kannst, bevor deine Eltern aufstehen.“

„Scheiße, bist du eigentlich krank, oder so? Sonst machst du mir und Jan die Hölle heißt, wenn wir nur nach Rauch riechen, und jetzt sagst du mir, ich soll früher aufstehen, damit ich noch schmöken kann, und gestern hast du sogar selbst eine geraucht!“

„Hey, du hast es doch nötig! So nervös wie du gestern Abend warst, und heute wird es dir ja wohl nicht besser gehen, oder?“

„Nope ... ich fühl mich, als hätte ich `ne ganze Schmetterlingsherde in meinem Bauch.“

„Och, Knuffelchen ... komm mal her!“ Sie setzte sich hoch auf sein Bett, drückte ihn zurück auf die Matratze und kuschelte sich an ihn.

„Danke, passt schon ...“ Er gab ihr einen Kuss und setzte sich wieder auf. Er gähnte noch einmal und ging dann ins Bad.

„Hey du“, sagte Melle ihm hinterher, „ich hoffe, das da ist `ne Morgenlatte.“

„Was denkst du denn? Dass ich mich von den zwei Dingern da beeindrucken lasse? Pah!“

Er duckte sich, um dem Tiefflieger-Kissen auszuweichen, das ihn beinahe getroffen hätte, und ging dann ins Bad.



Nachdem sie beide geduscht und sich angezogen hatten, gingen sie nach unten in die Küche. Steffen setzte Kaffee auf und holte die Zeitung rein, während Melanie den Frühstückstisch deckte. Danach gingen sie raus, damit Steffen eine rauchen konnten und setzten sich dann wieder rein, tranken eine Tasse Kaffee nach der anderen, lasen Zeitung und führten erzwungene Gespräche.

Je näher die Uhr auf neun zurannte – die Zeit, wo seine Eltern am Samstag normalerweise so langsam aufstanden –, desto nervöser wurde Steffen. Er fürchtete am Ende sogar, dass er den Schwanz einkneifen würde, sobald er seinen Eltern gegenüber saß – seinem Vater, der nur allzu oft schwulenfeindliche Sprüche zum Besten gab und sich dabei witzig fühlte, und so tat, als sei Homosexualität etwas Abnormales, als ob Schwule alle psychisch gestört wären; und seiner Mutter, die so erzkatholisch eingestellt war, dass sie Steffen möglicherweise auch Hausarrest aufgebrummt hatte, wenn sie ihn und Melle vorhin so zusammengekuschelt im Bett gesehen hätte – sie wusste zwar, dass die Einstellung Kein Sex vor der Ehe überholt war, aber dennoch würde sie es nie gutheißen.

„Melle?“

„Ja?“

„Tu mir `nen Gefallen! Wenn du gleich merkst, dass ich mich irgendwie zu drücken versuche, dann tu was, dass ich das durchzieh!“

„Was denn?“

„Keine Ahnung ... gib mir `nen Knuff, oder so ... oder sag’s mir einfach nur deutlich.“

„Ist okay.“

Zwei Minuten später kam Barbara in die Küche. Sie war noch so, wie Steffen sie am Abend zuvor zurückgelassen hatte, auf T-Shirt und Tanga. „Na ihr zwei Hübschen“, sagte sie. „Was treibt ihr denn schon so früh hier?“

„Gut, dass du kommst! Wir wollen’s Mama und Papa gleich erzählen ... bist du dabei?“

„Klaro ... wie kommt denn der plötzliche Sinneswandel?“

„Lange Geschichte ... erzähl ich dir später.“



Es war nun neun Uhr und die drei hörten, wie oben eine Tür geöffnet wurde und zufiel. Es war die Tür des Schlafzimmers von Steffens und Barbaras Eltern. Steffen spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog und ihm der Kaffee wieder hochkam. Seine Hände begannen zu zittern und Melle nahm sie in ihre. „Hey“, sagte sie, „nicht schlappmachen! Du schaffst das! Ich stehe auf jeden Fall hinter dir!“

„Ja, ich auch“, stimmte Barbara ihr zu.

„Keine Angst! Sie werden dich schon nicht rausschmeißen! Und wenn, dann kommst du mit zu mir, bis sich die Sache geklärt hat!“

Dann hörten sie, wie die Badezimmertür aufgemacht, zugeschlagen und abgeschlossen wurde, und Steffens Magen entkrampfte sich erstmal wieder. Noch hatte er ein bisschen Zeit. „Danke, Leute“, sagte er. „Boah, ich dachte gerade, ich müsste kotzen.“

Melanie rückte näher an ihn heran und drückte ihn. „Komm, du kriegst das hin! Und mach jetzt bloß keinen Rückzieher!“

„Hab ich nicht vor. Könnte nur sein, dass ich gleich den Tisch volleimer.“

„Dann tust du das eben“, sagte Babs, „wenn Mama und Papa cool reagieren, werden sie verstehen, dass es dir dabei schlecht gegangen ist. Und wenn nicht ... na ja, dann wird das auch nichts mehr ausmachen.“



Dann war es soweit. Steffens und Barbaras Eltern saßen am Tisch, gossen sich Kaffee ein und schmierten sich Brote. Zögerlich nahmen auch Babs und Melle sich Brotschnitten. Steffen saß nur da, nippte an seinem Kaffee und starrte vor sich hin. Seine Hände hatten wieder angefangen zu zittern und sein Bauch fühlte sich nicht nur an, als würden Schmetterlinge darin herumfliegen, sondern als seien es ganze Schwärme von Sperlingen, die darin herumflatterten und seinen Mageninhalt nach oben stießen. Er fühlte sich, als würde er demnächst ohnmächtig werden.

„Geht’s dir nicht gut?“, fragte seine Mutter.

„Doch, doch“, antwortete er geistesabwesend, „mit mir ist alles in Ordnung.“

„Komm, erzähl uns nix“, schaltete sich sein Vater ein.

„Mir geht’s gut!“

„Ist ja schon gut“, zog sein Vater zurück. Das war aggressiver gewesen, als Steffen beabsichtigt hatte.

Melanie stieß ihn unter dem Tisch mit dem Fuß an, während sie in ihr Brot biss und zögerlich kaute. Sie hatte eigentlich keinen Appetit, aber sie aß trotzdem, um nicht den Anschein zu erwecken, etwas sei nicht in Ordnung. Zum einen übernahm Steffen das schon für sie alle, zum anderen wollte sie es ihm überlassen, wie und wann er damit anfing, aber sie spürte, dass er zurückziehen würde, wenn sie und Barbara jetzt nicht eingriffen. Deshalb beschloss sie, ihn ins kalte Wasser zu schmeißen. „Nun mach schon“, sagte sie.

Er sah sie mit seinen hübschen blauen Augen an und sie merkte, dass er den Tränen nahe war. Er drehte den Kopf und sah auch seine Schwester an. Sie versuchte, ihm mit Gesten zu sagen, dass er endlich anfangen solle.

„Ist irgendwas?“, fragte seine Mutter erneut. Steffen wollte „Ja“ sagen, brachte aber nur ein Nicken und einen leisen Pieps-Ton hervor. Barbara beschloss, ihm zu helfen. „Mama, Papa ... Steffen muss euch was sagen.“

Er spürte wie die Blicke seiner Eltern sich auf ihn richteten, sah aber nicht auf, sondern starrte weiter auf seine Hände, die zitternd auf dem Tisch lagen. Er wusste in diesem Moment nicht, ob er Melle und Babs lieben oder hassen sollte, doch diese Frage wurde ihm schnell beantwortet, als er spürte, wie beide nach seinen Händen griffen und diese drückten.

„Ja“, sagte er. „Ich muss euch was sagen.“ Seine Stimme klang dünn und zerbrechlich, und er war den Tränen jetzt näher denn je. „Ich ... ich ...“ Melles und Barbaras Hände drückten seine jetzt fester. Erste Tränen liefen ihm über die Wangen. „Ich weiß, dass ich es euch schon viel früher hätte sagen müssen ... aber ich hab mich einfach nicht getraut.“ Er schluckte. „Na ja ... wie auch immer ...“ Er sah jetzt auf und blickte mit verschwommenen Augen erst zu seiner Mutter, dann zu seinem Vater. „Ich bin schwul.“

Jetzt war es raus. Das, was hatte gesagt werden müssen, war gesagt. Nur ging es Steffen jetzt nicht besser ... nein, es ging ihm noch viel schlechter. Sofort nachdem er diesen Satz gesagt hatte – wobei er ihn weniger gesagt, als viel mehr herausgepresst war –, hatte er wieder nach unten gesehen, sodass er nicht wusste, wie seine Eltern gerade guckten. Er spürte nur, dass Melles und Babs Hände die Seinen immer noch festhielten und drückten.

Er wartete. Wartete darauf, dass seine Mutter oder sein Vater irgendetwas sagten. Es war ihm in dem Moment egal, ob sie gut oder schlecht reagierten, Hauptsache, sie reagierten. Es kam ihm vor, wie eine halbe Ewigkeit. Melle rückte näher an ihn heran und legte ihren Arm um seine Schultern.

Das gab ihm den Mut, nach oben zu schauen, in die Gesichter seiner Eltern. Sie guckten beide weder freudig, noch wütend oder erbost – sie guckten überrascht.



Im Nachhinein fragte sich Steffen, wie er es in diesen Sekunden ausgehalten hatte; wie es ihm möglich gewesen war, sitzen zu bleiben, von Melle umarmt und seine linke Hand immer noch fest in der von seiner kleinen Schwester eingeschlossen – seine kleine Schwester Barbara, die er in diesem Moment mehr liebte, als je zuvor.

Wieder schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sich seine Eltern regten. Kurz zuvor noch war es ihm egal gewesen, wie sie reagierten, solange sie überhaupt reagierten, aber jetzt, wo er in ihre Gesichter sah, betete er zu Gott, Satan und jede nordische, römische, germanische und griechische Gottheit, die ihm nur einfiel, dass sie gut reagierten; dass es weitergehen würde wie immer – besser sogar, dass er seine Homosexualität jetzt ausleben konnte, dass es kein Geheimnis mehr war. Nun, dass war es jetzt auf jeden Fall nicht mehr – nur würden die anderen Punkte auch zutreffen?

Er spürte, dass Melles Umarmung fester wurde und seine Gedanken wurden zurückgerissen in die Realität, sodass er mitbekam, was los war: die Mimik seines Vaters hatte sich deutlich ins Negative verwandelt. Seine Augenbrauen hatten sich tiefer ins Gesicht gefressen und seine Mundwinkel standen nach unten. „Das ... das sollte doch jetzt ein Scherz sein, oder?“, stammelte er hervor. „Tut das bloß bei keinem anderen ... nachher nimmt das einer noch ernst!“

Steffens Mutter hingegen hatte begriffen, dass es den dreien todernst war. Mit besorgtem Blick sah sie in Richtung ihres Mannes und dann zu Steffen. In ihrem Gesichtsausdruck waren Besorgnis und Trauer, aber auch Verständnis und Liebe vermischt. Daraus las Steffen, dass sie nichts gegen seine Homosexualität hatte, dass sie damit klarkommen würde, was ihn sehr erfreute, aber gerade dadurch auf seiner Prioritätenliste nach hinten durchgereicht wurde. Seine Aufmerksamkeit galt nun eher seinem Vater.

„Papa“, schaltete sich Babs ein, „nein! Es ist uns ernst. Bitte hab Verständnis dafür.“

„Nein“, sagte er entschlossen. „Nein, das glaube ich nicht! Das ist doch bestimmt nur `ne Phase oder so ... ich meine, du kannst doch nicht schwul sein! Das war in unserer Familie noch niemand!“

„Homosexualität ist genauso wenig vererblich wie Impotenz!“, entgegnete Barbara ihm bissig. Steffen war froh, dass sie das Reden für ihn übernahm ... er hätte wahrscheinlich kein Wort herausgebracht, und wenn doch, dann nur schrecklich unverständlich und gestammelt.

„Halt du dich da raus!“, blökte ihr Vater sie an. „Geh am besten auf dein Zimmer.“

„Nein“, schaltete sich nun auch Melle in das Gespräch ein, bemüht, einen möglichst diplomatischen Ton anzuschlagen. „Herr Marquardt ... ich will ganz bestimmt nicht Ihre Autorität untergraben, aber Barbara und ich haben Steffen versprochen, dass wir ihm helfen und beistehen, wenn er es Ihnen erzählt. Egal, ob Sie nun gut oder schlecht auf die Nachricht reagieren, dafür sollten Sie Verständnis haben!“

Steffens Vater ging zwar nicht auf Melle ein, ließ aber wenigstens Babs in Ruhe. Dafür wandte er sich nun Steffen zu. „Und was glaubst du, sollen wir jetzt tun? Einfach so weitermachen, wie bisher?“

Steffen gab sich einen Ruck und beschloss, den Mund aufzumachen. Auch hier wusste er im Nachhinein nicht mehr, woher er den Mut gefunden hatte, die Worte über die Lippen zu bringen. „Wieso nicht? Ich meine ... dadurch muss sich doch jetzt nicht großartig was ändern ... oder?“

„Bitte was? Du meinst also, wir sollen dich ganz einfach hier weiterleben lassen und zusehen, wie du einen AIDS-Kranken nach dem anderen in die Bude schleppst und dich von ihm knallen lässt?“

„Hältst du mich für so jemanden?“

„Bisher nicht, aber da scheine ich mich ja getäuscht zu haben!“

„Hartmut“, versuchte Frau Marquardt jetzt, die Situation zu beschwichtigen. „Können ... können wir da nicht nochmal `ne Nacht drüber schlafen?“

„Nein. Tut mir leid, Steffen, das sagen zu müssen, aber eine Schwuchtel dulde ich in meinem Haus nicht!“



Steffen und Barbara saßen in Melanies Zimmer, die gerade unten bei ihren Eltern war, um denen die Situation zu schildern und sie zu überreden, Steffen bei sich aufzunehmen, solange bei ihm zu Hause die Luft stickig blieb.

Steffen lag in den Armen seiner Schwester und weinte. Barbara kam sich mies vor, weil sie nicht wusste, was sie sagen oder machen konnte. Sie hätten ihn liebend gerne getröstet – aber wie kann man jemanden trösten, der soeben zu Hause rausgeworfen worden war, und das auch noch aus einem solchen Grund? „Hey“, sagte sie beruhigend, „es wird alles wieder gut. Papa fängt sich bestimmt wieder ein ... Mama und ich werden ihn schon dazu bringen, seine Meinung zu ändern, oder zumindest, die Sache mit dir auszudiskutieren.“

„Danke“, sagte Steffen und wischte mit einem Taschentuch seine Tränen weg. „Aber was mach ich denn, wenn nicht? Ich meine, Melles Eltern werden mich bestimmt nicht ewig hier behalten wollen.“

„Da mach dir mal keine Sorgen“, sagte Melanies Vater, der zusammen mit seiner Tochter ins Zimmer gekommen war, ohne dass die beiden es gemerkt hatten. „Du kannst erst mal einige Zeit bei uns bleiben. Und ich wette, dass sich die Sache wieder aufklärt – na ja, und wenn nicht ... Melanie wollte schon immer `nen Bruder haben.“ Er zwinkerte ihm freundlich lächelnd zu.

Steffen fühlte sich gleich ein bisschen wohler. Er hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, einen Vater wie den von Melle zu haben. „Ich ... ich ... ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann.“

„Ein Anfang wäre, mit dem Siezen aufzuhören ... ich bin Reinhold, und meine Frau heißt Sandra.“

„Okay“, sagte Steffen, „meinetwegen.“ Es war ihm immer noch peinlich. Diese Leute hatten ihn bis gerade eben nicht gekannt und ihn in seiner Not trotzdem aufgenommen. Er hatte insgesamt vielleicht fünf Minuten mit ihnen gesprochen, und sie baten ihm das „Du“ an; und am meisten wurmte ihn daran, dass er keinen blassen Schimmer hatte, wie er ihnen für das alles, was sie für ihn taten, danken sollte.



Es war jetzt Abend, und Steffen und Melanie saßen in Melles – und seit heute auch Steffens – Zimmer und beratschlagten, wie sie weiter vorgehen würden. Babs war inzwischen nach Hause gegangen, hatte aber versprochen, später einmal anzurufen, um zu berichten, wie die Lage zu Hause aussah.

„Was meinst du, sollen wir jetzt tun?“

„Auf jeden Fall erstmal abwarten! Dein Vater wird sich schon wieder fangen. Und am besten wartest du mal ab, bis er nicht da ist und gehst dann rüber, um mit deiner Mutter drüber zu reden! Babs kann da doch sicher mal spionieren, wann da ein geeigneter Zeitpunkt wäre.“

„Joa ... mal sehen.“ Er holte tief Luft und seufzte sie wieder aus. „Ach, Scheiße! Warum musste das alles denn jetzt so kommen?“ Er war kurz davor, erneut in Tränen auszubrechen.

„Komm, wir gehen erstmal eine rauchen“, warf Melle dazwischen, um ihn kurzzeitig auf andere Gedanken zu bringen und so einen weiteren Heulkrampf zumindest aufzuschieben.



Um kurz nach elf rief Babs an.

„Hi“, sagte Melle, die als erste am Telefon war, „wie sieht’s aus? – Okay.“ Sie reichte Steffen den Hörer. „Sie will dich sprechen.“

„Hallo“, sagte er. „Na, Schwesterchen, wie isset?“

„Nicht so toll“, sagte sie leise, so leise, dass sie beinahe schon flüsterte. „Ich darf nicht so laut sein, Papa hat mir verboten, mit dir zu reden. Du würdest nicht mehr zur Familie gehören und so `n bla!“

Steffen musste schlucken – er hatte gehofft, dass sein Vater sich wieder beruhigen würde, aber das klang gar nicht danach. „Also ... also wird`s wohl nichts von wegen irgendwann wieder zu Hause wohnen?“ Wie auf Knopfdruck fing er wieder an zu weinen.

„Hey, komm – ich weiß, dass das jetzt schlimm für dich ist, aber es wird sich auch wieder ändern. Ich meine – du bist doch immer noch sein Sohn, und ich wette, dass er dich spätestens nächste Woche wieder vermissen wird! Und zur Not – na ja ... ich ...“ Sie stockte.

„Kein Problem, Kleine, spuck`s aus!“

„Ich ... ich dachte mir, dass ich vielleicht einfach abhaue. Einfach, um Papa zu zeigen, dass er allein mit seiner Meinung da steht und einfach nur aus Solidarität zu dir. Außerdem warst du in letzter Zeit eh noch der halbwegs normale Mensch zu Hause, auch wenn ich Mama und Papa immer noch irgendwie lieb hab – ohne dich hält mich da nicht mehr viel.“

Steffen fühlte sich unglaublich gerührt. „Hey“, schniefte er. „Das ist furchtbar lieb von dir, aber ... aber das musst du echt nicht tun!“

„Ich will aber. Hasi, gibst du mir mal kurz Melle?“

„Klaro.“ Er gab ihr das Telefon und stand auf. „Ich geh eine rauchen“, raunte er Melle zu, wischte sich die Tränen ab und ging dann raus.



Er war bei der zweiten Zigarette, als Melle zu ihm rauskam. „Gibst du mir eine?“, fragte sie.

„Bedien´ dich!“

„Danke.“

„Über was habt ihr geredet?“

„Na ja ... hat Babs dir erzählt, dass sie abhauen will?“

„Ja.“

„Sie hat gefragt, ob wir sie eventuell bei uns verstecken können.“

„Und? Was haste gesagt?“

„Dass ich erstmal meine Eltern fragen muss.“

„Und was meinst du?“

„Ich hab sie gerade gefragt. Sie meinen, dass sie es zwar alles andere als gut finden, aber dass sie Babs auch in ihrer Situation verstehen können.“

„Das heißt also, dass ...“

„Genau.“ Sie lächelte ihn an. „Du hast ab heute Nacht wieder dein Schwesterchen um dich herum.“

„Heute Nacht schon?“

„Ja ... sie wollte so schnell weg, wie es geht. Dein Vater behandelt sie nur noch beschissen, weil sie sich für ihn einsetzt, und deine Mutter macht er wohl dafür verantwortlich, dass du schwul bist.“

„Arschloch!“

„Irgendwie schon.“

„Was heißt irgendwie? Der Kerl ist jahrelang mein Vater und als er rausfindet, dass ich in Liebesdingen `n bisschen anders bin als er, schmeißt er mich raus und meint, ich gehöre nicht mehr zur Familie. Er ist einfach ein verdammtes Arschloch!“



Um kurz nach drei Uhr stand Barbara vor der Tür. Melle machte auf und führte sie nach oben in ihr Zimmer, wo Steffen bereits wartete und ihr in die Arme fiel. „Hey, Babs“, sagte er.

„Hi, Großer! Na, wie geht`s?“, fragte sie und wischte ihm eine Träne von der Wange.

„Muss ja.“

„Melle meinte, Papa behandelt dich und Mama wie Scheiße?“

„Na ja, so schlimm ist es auch nicht, aber er macht uns halt klar, wie er unseren Zusammenhalt mit dir verurteilt.“

Steffen musste unweigerlich abermals laut schluchzen. Er kam sich so vor, als hätte er nie so viel geweint, wie in den letzten Tagen. Melle, die ihn ja erst seit der Klassenfahrt so richtig kannte, musste ihn für eine riesige Heulsuse halten. Macht nichts, dachte er, ich bin schwul, ich darf das. Für irgendwas muss das ja gut sein.

Über diesen Gedanken musste er ein bisschen lachen. Melle und Babs sahen ihn verdutzt an. „Was ist denn jetzt mit dir los?“, fragte Melanie. „Erst lässt du ihr den zweiten Amazonas los, dann fängst du auf einmal an zu lachen? Ihr Schwulen seit schon ein komisches Pack!“

Diese Aussage brachte ihn noch mehr zum lachen, und jetzt konnte er das erste Mal seit Tagen, Wochen, Monaten, ja seit Jahren, wie es ihm vorkam, endlich wieder befreit auflachen, so befreit, dass seine Tränenströme versiegten.

„Ach, es ist nur – weißt du, seit wir uns so richtig gut kennen, bin ich ständig nur am Heulen. Du musst mich für `ne richtig verweichlichte Schwuchtel halten.“

Das fanden auch Melle und Babs lustig, so dass sie in sein Lachen einstimmten und erst aufhörten, als Melles Mutter in der Tür stand, um sich über die nächtliche Ruhestörung zu beschweren.



Am nächsten Morgen wachten sie erst ziemlich spät auf. Es war Sonntag, und zwar ein richtig herrlicher – die Sonne schien, draußen waren es um 11 Uhr schon um die 20 Grad und am nächsten Tag fiel die Schule wegen der mündlichen Abiturprüfungen auch noch aus. Es wäre ein perfekter Tag gewesen, wären da nicht die Umstände der letzten Zeit.

„Was hast du heute vor?“, fragte ihn Melle, als sie sich noch kurz zusammengelegt hatten und kuschelten, während Babs im Bad verschwunden war.

„Ich weiß nicht – mein Vater hat heute von fünf bis zehn Stammtisch, ich denke, ich werde in der Zeit kurz nach Hause gehen, um mit meiner Mutter zu reden und meine Sachen zu holen ... zumindest meine Schulsachen und ein bisschen mehr Wäsche.“

„Gute Idee. Aber was ist mit Babs? Meinst du nicht, sie wird dich nach ihr fragen? Und anlügen wird in dem Fall nichts bringen, deine Eltern wissen mit Sicherheit ganz genau, dass sie da ist, wo du bist!“

„Keine Ahnung – ich denke, ich werde ihr einfach die Wahrheit sagen. Ich meine, sie wird sicherlich Verständnis dafür haben. Komisch – ich dachte, sie würde mindestens genauso mies reagieren, wie mein Vater, so streng katholisch wie sie ist.“

„Dann hast du dich halt in ihr geirrt – sei doch froh!“

„Bin ich ja – ich sag ja nur, dass ich was anderes von ihr erwartet hätte.“



Um 5 Uhr ging Steffen zu Fuß nach Hause – seinem alten Zuhause. Er hatte tierische Sehnsucht nach seinem Zimmer, seinem eigenen Bett, seiner Musikanlage, mit der er die Nachbarn wahrscheinlich schon mehr als einmal zur Verzweiflung gebracht hatte. Er hatte Sehnsucht nach seiner Mutter. Und auch nach seinem Vater, nach allem, was gestern passiert war, nach allem was er gesagt, getan und gedacht hatte.

Er brauchte zu Fuß nur eine knappe Viertelstunde dahin, wo er früher einmal gewohnt hatte. Als er ankam, stand nur der rote Honda seiner Mutter vor der Garage, der schwarze Mercedes seines Vaters war weg. Gut – er konnte es also wagen.

Er ging vor die Tür, atmete noch einmal durch und klingelte dann. Er hatte gerade seinen Finger wieder vom Klingelknopf genommen, als Zweifel begannen, ihn zu plagen. Was war, wenn das Auto seines Vaters nur in der Inspektion war? Was, wenn sein Vater aufgrund der Ereignisse von gestern nicht zu seinem Stammtisch gegangen war?

Mach dich doch nicht verrück, sagte er sich, heute ist Sonntag, da hat keine Autowerkstadt auf, und zu seinem Stammtisch ist er in den letzten vier Jahren immer gegangen.

Das stimmte. Nur wenn sie im Urlaub gewesen waren, hatte er sein sonntägliches Bier sausen lassen, aber ansonsten – nicht mal, als er ein gebrochenes Bein und der Arzt ihn eigentlich auf die Couch verdonnert hatte, war er zu Hause geblieben.

Steffen wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür aufging. Kaum war sie offen, fiel ihm seine Mutter schon um den Hals. „Steffen“, rief sie, während sie ihn so fest an sich drückte, dass er kaum noch Luft bekam. „Komm doch rein“, forderte sie ihn auf und löste die Umarmung. Seine Hand hielt sie allerdings weiterhin fest, als wollte sie sichergehen, dass er sich nicht umentscheiden würde, dass er nicht einfach wieder umdrehte und zurückging.

Er sah, dass ihr Tränen von den Wangen liefen und da waren sie dann auch wieder bei ihm da.

„Schatz, es tut mir so leid“, sagte sie dann schließlich, nachdem sie ihn in die Küche geführt hatte und sie am Holztisch saßen. Die Sehnsucht überkam Steffen wieder, als er so da saß. Die Sehnsucht nach dem leckeren Essen, dass seine Mutter immer kochte, nach den langen Gesprächen, die er öfter bei einem Bier mit seinem Vater geführt hatte, Gespräche über Gott und die Welt, teilweise auch über Schwule. Sein Vater hatte schon immer empfindlich auf das Thema Homosexualität reagiert. „Wenn ich der Kirche auch nichts abgewinnen kann“, hatte er einmal gesagt, „ich finde es auf jeden Fall gut, dass sie gegen Schwuchteln ist.“ Steffen hatte die Homosexuellen verteidigen wollen, er hatte sich verteidigen wollen, sich aber nicht getraut und stattdessen nur genickt.

„Das muss es dir nicht, Mama“, sagte er dann schließlich, nachdem eine Pause entstanden war (fünf Sekunden? Zehn? Zwei Minuten?), in der sie sich nur angeschwiegen hatten, gegenübersitzend, Steffens Hand in der seiner Mutter. „Wieso solltest du was dafür können?“

„Ich hätte mich mehr für dich einsetzen müssen. Ich will ganz offen zu dir sein – ich war auch schwer geschockt, und weiß noch nicht, ob ich jemals so wirklich damit klarkommen werde, aber ... du bist doch immer noch mein Sohn!“

Steffen musste sich ein Grinsen verkneifen. Die Situation war irgendwie so klischeehaft.Und dieser letzte Satz – das war genau das, was Babs und Melle ihm gesagt hatten.

Warum konnte sein Vater nur nicht genauso denken? Er verlangte ja gar nicht, dass er es toll fand, nicht einmal dass er es guthieß – er wollte einfach nur Akzeptanz.

„Wo wohnst du denn jetzt?“, fragte seine Mutter. „Bei Melanie?“

„Ja. Ihre Eltern haben mir und Babs versprochen, dass wir so lange bleiben können, bis sich die Lage zu Hause geklärt hat.“ Er wusste nicht, ob es klug war, von sich aus auf Babs zu sprechen zu kommen, aber er wollte seiner Mutter nichts vormachen.

„Naja – da seid ihr ja wohl wenigstens in guten Händen.“

„Und du? Barbara hat mir erzählt, dass Papa dich auch nicht wirklich gut behandelt, weil du zu mir hältst.“

„Das stimmt. Aber mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar.“ Sie stockte ein bisschen und schien zu überlegen, ob sie ihm das, was ihr auf der Zunge lag, wirklich erzählen sollte. Doch sie gab sich dann einen Ruck, ähnlich dem, den sich Steffen am Vortag gegeben hatte, und sagte es dann. „Ich habe überlegt, ob ich mich scheiden lasse.“

Steffen war froh, nichts zu trinken zu haben, denn dies war einer der Momente, in denen die Darsteller in Filmen meistens laut losprustend den Inhalt ihres Mundes durch den Raum verteilten. Scheiden lassen? Seine Mutter? Die Frau, die er für so katholisch gehalten hatte, dass es selbst Jesus peinlich wäre?

„Das musst du aber nicht wegen mir tun“, sagte Steffen. Die Ehe seiner Eltern war immer sehr gut verlaufen, bis gestern eben. Er wollte nicht, dass seine Mutter jetzt nur wegen ihm ihre Prinzipien brach.

„Ich will es aber. Egal, was ich von Homosexualität allgemein halte, du bist mein Sohn, und ich lasse nicht zu, dass er einen Keil zwischen uns treibt. Er hat einfach eine Verantwortung für dich, genauso wie ich sie habe. Außerdem kann er mir doch nicht erzählen, dass er dich wegen sowas einfach nicht mehr liebt! Nein, tut mir leid, ich werde das durchziehen.“

„Und Babs und ich können dann bei dir wohnen?“

„Ja sicher.“

Das war gut. Sehr gut sogar. Er hatte zwar nichts gegen Melles Zuhause oder gegen ihre Eltern, aber es war einfach nicht sein Zuhause.

Sie saßen noch einige Zeit in der Küche, tranken Kaffee und schließlich kochte seine Mutter ihre Spaghetti Bolognese, die er immer tierisch geliebt hatte. Während der ganzen Zeit unterhielten sie sich. Schließlich ging der Uhrzeiger dann langsam aber sicher auf die Zehn zu, sodass er sich beeilen musste, wenn er noch ein paar Klamotten zusammenpacken wollte.

Er stand also auf und ging hoch, um ein paar Klamotten, seinen Teddy, von dem eigentlich niemand etwas wusste, den er aber dennoch dabei haben wollte, und zwei Paar andere Schuhe in seine große Reisetasche zu werfen.

Als er wieder nach unten kam, stand sein Vater in der Tür.

„Was zum Teufel willst du denn hier?“, schrie er ihn an. „Hast du nicht kapiert, dass du nicht mehr mein Sohn bist? Verdammt, ich will so einen verdammten Arschficker nicht im Haus haben, damit das klar ist! Verschwinde! Hau ab!“

„Leck mich doch am Arsch“, raunte Steffen seinem Vater zu und lief mit seiner Tasche zur Tür. „Tschüss, Mama! Ich hab dich lieb!“

Dann ging er raus und hörte noch, wie sein Vater ihm „Schwuchtel“ hinterherschrie, während die Tür zufiel.

Das war es also. Das endgültige Wort? Wer wusste es. Aber so schnell wird er nicht mehr in sein altes Zuhause zurückkehren können. Er machte sich auf zu seinem neuen Zuhause, wo Melle und Babs sicher schon sehnsüchtig auf ihn warten würden. Die Tränen liefen ihm wieder mal die Wangen runter, als er losstiefelte.



Exakt drei Wochen später saß Steffen im Klassenraum. Die Tische standen in drei Reihen jeweils zu zweit nebeneinander. Er saß mit Melle ganz hinten, vor ihm Jan und Mark, mit denen er auf der Klassenfahrt in Dänemark ein Zimmer geteilt hatte.

Jan, sein bester Kumpel. Er hatte ihn in letzter Zeit etwas vernachlässigt, wie ihm nun in den Sinn kam. Der Umzug, die Trennung seiner Eltern und das ganze Drumherum hatten ihn sehr mitgenommen und gestresst.

Noch am selben Abend, an dem sich Steffen und sein Vater endgültig entzweit hatten, hatte seine Mutter ihrem Mann gesagt, dass sie sich von ihm trennen würde. Ihren Erzählungen zufolge war er komplett ausgetickt und hatte sie als „Schwuchtelfreund“ und ähnliches beschimpft. Fast hätte er sie besoffen wie er war sogar geschlagen, sich aber gerade noch rechtzeitig besinnt – die Hand hatte er bereits gehoben.

Direkt am nächsten Tag hatte sie sich auf Wohnungssuche begeben und auch schnell eine in der Nähe ihres alten Hauses gefunden, so dass Steffen, Barbara und sie selbst noch in derselben Woche ihre Sachen packen und umziehen konnten.

„Hey, Jan“, versuchte er, seinen Kumpel von hinten auf sich aufmerksam zu machen.

„Ja?“

„Wir haben lange nichts mehr zusammen gemacht. Haste heute Zeit?“

„Joa ... müsste klappen.“

„Cool.“

„Was tuschelt ihr denn so?“, mischte sich Mark in das Gespräch ein. „Seid ihr schwul, oder was?“

„Ich ja“, erwiderte Steffen und lehnte sich zurück, um weiter dem Englischunterricht zu folgen. Auch Mark drehte sich wieder um, doch ein paar Sekunden später wurde ihm klar, was Steffen gerade gesagt hatte. Er sah nochmal nach hinten – jetzt mit einem komplett verwirrten Gesichtsausdruck.

„Wie? Echt jetzt?“

„Joa – was dagegen?“

„Nö nö ... kommt jetzt nur so `n bisschen überraschend.“

„Has that what you are discussing back there anything to do with our topic?“, meldete sich Frau Meiner, ihre Englischlehrerin von vorne. „No? So stop talking, please!“

Mark drehte sich wieder um und Jan folgte seinem Beispiel, allerdings nicht, ohne Steffen ein anerkennendes Lächeln zu schenken. „Nice“, flüsterte er noch, dann drehte er sich wieder um.

Melle sah ihn stolz an und drückte ihm ein Bussy auf die Wange. „War das der Grundstein für `s große Outing?“ Sie lächelte.

„Ja“, sagte Steffen. „Das war er.“


ENDE?

Stephan Möller

Schortens, 28.11.05 bis 09.05.06



Nachwort


Wer sich jetzt denkt Hä? Was will der denn? Ist Hobbyautor und kritzelt wie ein ganz Großer `n Nachwort in seine Geschichte!, der denkt falsch! Ich halte mich für keinen ganz Großen ... ich wollte nur noch schnell was los werden. Nämlich:

Ich weiß, dass es in der Geschichte ein paar mehr oder minder dicke Logikfehler gibt, die ich aber einfach als künstlerische Freiheit abtue ... sie sind notwendig für die Geschichte, die ich erzählen wollte und erzählt habe. Darum ging es mir: die Geschichte erzählen. Ich weiß, dass in den Dialogen einige holprige Ausschnitte drin sind, dass der Stil vielleicht nicht so toll ist wie in anderen Geschichten von mir, und ich erwarte auch nicht, dass die Geschichte von irgendjemandem gemocht wird – ich wollte sie einfach nur erzählen.

Bleibt noch zu sagen, dass das hier KEINE Autobiographie ist – die Handlung an sich ist nie so passiert, zumindest nicht mir – ich bin überhaupt noch nicht bei meinen Eltern geoutet. Aber viele der beschriebenen Gedanken, Gefühle und der Dialoge zwischen Steffen, Melanie und Barbara sind aus meinen eigenen Erfahrungen heraus entstanden, und das ist der Grund, warum mir die Geschichte so am Herzen liegt. Bedenkt das, wenn ihr sie zerreißt! ;-)


Zum Schluss noch ein Dank, und zwar an Vanne für`s lesen, kritisieren, bewerten und machen von Verbesserungsvorschlägen. Ich kann dich nur jedem Autoren als Lektor empfehlen – du gibst die erwünschte konstruktive Kritik, sorgst aber dabei auch noch für Lacher. Super!

Ohne dich hätte ich auch nie den einen riesigen Logikschnitzer zum Ende hin gefunden, also nochmals DANKE!!! (Und pssst!)

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