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©2005 by Marvin A. H. Papies

 

LEAN GRANGE

Eine Turmballade

Eine Geschichte aus dem Dark Tower Universum, das von
Stephen King erschaffen wurde. Sage Euch meinen Dank.

 

 

I n h a l t  

Vorwort des Verfassers
Einführung
1. Strophe: Die letzte Stadt
Zwischenspiel: Neunzehn
2. Strophe: Martynes Prophezeihung
3. Strophe: Das Rad schließt sich
Schlusswort: Jericho Hill - New York

 

»Es gibt zwei Versionen, gab es immer, wird es immer geben.«

R. F.

 

 

»Wir sind Reisende in Blei.«

Steve McQueen

Die glorreichen Sieben

 

 

 

Vorwort des Verfassers

Lean Grange ist ein Kurzroman, aus dem gigantischen Universums des Dunklen Turms, der vor über dreiundzwanzig Jahren von Sai Stephen King, erfunden, aufgeschrieben, kurz verewigt wurde. Ich möchte mit meiner Geschichte nicht den Eindruck erwecken Kings Ideen kopieren, oder weiterführen zu wollen, viel eher soll Lean Grange ein tiefer Kniefall vor dem Mann sein, der mit seinem Kuss nicht nur einem, sondern unzähligen Galaxien weitschweifiges Leben einhauchte.

So war es auch nie mein Wunsch über Roland Deschain, Eddie Dean, Susannah, Jake oder Oy zu schreiben. Ihre beschwerliche Reise endete vor einem Jahr und es wäre unverschämt sie aus reiner Selbstsucht wieder loszuschicken. Ihre Geschichte wurde erzählt, doch allein ein Blick auf Hunderte Statisten, die King am Wegrand zurücklassen musste, macht deutlich wie viele unentdeckte Abenteuer noch im Universum des Dunklen Turms auf uns warten.

Und so spielt meine Geschichte historisch weit vor dem legendenumrankten Satz "Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm". Sie spielt einige Tage, genauer gesagt drei Wochen - aber was spielt Zeit schon für eine Rolle, in einer Welt, die sich weiterbewegt hat? - vor Jericho Hill, dem Ende der Hohen Zeit.

Wer die sieben Bände des Dunklen Turms bis jetzt nicht gelesen hat, der wird höchstwahrscheinlich große Mühe damit haben mit Lean Grange in diesen Kreis einzusteigen, denn mein Buch ist nur ein kleiner Teil einer langen Geschichte, und Sie täten gut daran, sie von Anfang an zu lesen, statt in der Mitte anzufangen. Doch ich habe versucht mich unkompliziert auszudrücken, also werden sich wohl auch Greenhorns in meinen Worten zurecht finden können. Ich bin froh, dass dieses Buch nun ein Ende gefunden hat, ich bin froh über meine eigene Reise durch die Äußeren Bögen und hoffe keinen Dark-Tower-Freund all zu sehr mit meiner unbeholfenen und unwürdigen Art zu verärgern. Nun wünsche ich viel Spaß, satteln wir die Pferde und richten unsere Kragen: Es geht los.

Marvin A. H. Papies

Dortmund, NRW

30. Juni 2005

 

 

Einführung

Die Welt war längst in Bewegung geraten. Sie hatte sich bisher nicht weitergedreht und es gab noch immer eine handvoll Narren, die störrisch behaupteten, es würden bald wieder Ruhe und Frieden einkehren, doch den meisten war durchaus bewusst, dass ein mächtiger Wandel erfolgt war und das letzte große Zeitalter der Menschen damit ein Ende gefunden hatte.

Die Zeit des Bundes mit seinen Adeligen und Revolvermännern war fast abgelaufen und John Farson kontrollierte mittlerweile den gesamten Süden und große Teile des Westens.

Der Gute Mann saß ziemlich fest im Sattel.

Jericho Hill stand noch bevor, warf aber schon seine unheilsschwangeren Schatten voraus.

Es waren traurige Zeiten und schon bald würde sich ein letzter gottverlassener Revolvermann auf eine mühsame Reise begeben, um einen Dunklen Turm im Zentrum aller Welten zu finden, mit dessen Hilfe sich vielleicht die Alte Ordnung wieder einrenken ließe und dem Verfall der Welt Einhalt geboten werden könnte.

 

1. Strophe

Die letzte Stadt

1

 

Die Wüste war nicht irgendeine Wüste, sie war der Inbegriff aller Wüsten.

Ein toter unendlicher Strand, dem das Meer amputiert worden war, der aber auch überhaupt keins benötigte; die Wüste war ihr eigenes Meer. Bis zum Horizont türmten sich erstarrte Wellen von Sand in gewaltigen, unüberschaubaren Dünenfeldern auf und wo man hinsah schien alles weiß, hell, konturlos.

In den letzten Menschengenerationen kam es nicht mehr oft vor, dass Karawanen sich daran machten, die Große Ödnis zu durchqueren, und so hatte der erodierende Strand heimlich und unbeobachtet damit begonnen seine gierigen, sandigen Klauen auszustrecken und die Siedlungen an seinem Rand mit Tod und Wahnsinn zu überschwemmen.
Eine grelle, lebensfeindliche Sonne thronte über all der Eintönigkeit und entsandte, gleich einem fiebernden Feldherr, gleichgültig seine Armeen über den ausgebleichten, fast weißen Himmel.

Doch jemand wagte es diesem geöffneten Hochofen zu trotzen.

Vier dunkle Punkte, die sich wie verendende Folteropfer dahinschleppten. Über Düne und Düne und Düne.

Pferde.

Und auf diesen Pferden, Menschen. Finstere Gestalten, die sich wie sein genaues Gegenstück vom hellen Wüstensand abhoben.

Ein Mann, in die Farblosigkeit von Regen und Staub gekleidet, die Krempe eines dunklen Cowboyhuts tief in das Gesicht gezogen, führte die Gemeinschaft auf einem grauen, ausgemergelten Pferd an. Zwei Revolvergurte überkreuzten sich tief an den Hüften des Mannes hängend und an den Oberschenkeln festgebunden. Aus ihnen ragend, wie die stummen Relikte einer längst vergangenen Zeit, die wuchtigen, schwarzen Griffe zweier .45er Schießeisen.

Auch die drei anderen schienen keine Heiligen. An jeder Lende schwangen schwere Holster, in jedem Gesicht der gleiche grimmig entschlossene Ausdruck.

Hinter Arthur Alwright, dem Dinh des Ka-tets, ritten nebeneinander Kyle McCool, ein Mann mit strahlend blauen Augen und den feinen Handgelenken eines Scharfschützen und Mariah Shain, eine Frau mit der wilden Schönheit einer Amazone und der Kaltblütigkeit eines Auftragskillers. Sie waren vertieft in ein gelangweiltes Gespräch.

Etwas abseits und wie eine vergessene Nachhut, ritt Raymond Parrish. Ein langsam grau werdender Einzelgänger, die eine Hand - wie fast immer - auf dem fein gemaserten Griff einer seiner Smith and Wessons, die andere, wie leblos an der Seite herunter baumelnd. Raymond schien zu schlafen, doch bei ihm konnte man da nie sicher sein.

In einlullendem Einklang trotteten die vier Pferde dahin, einem verwehten Pfad folgend, der sich seinen Weg durch dicke Salzkrusten bahnte und einstmals eine beliebte Handelsroute gewesen war. Doch seit jener Zeit hatte sich die Welt weitergedreht. War leerer geworden.

 

Die Regulatoren waren schon Wochen unterwegs und allmählich schwanden ihre Hoffnungen, gleich ihren Wasserschläuchen.

Seit Monaten hatten sie nichts Neues aus Gilead gehört und selbst der Gute Mann schien ferner als ein Ozean gefüllt mit Graf. Und mit jedem Rad, das sie in dieser unbezähmbaren Wüste zwischen sich und Neu-Kanaan brachten, rückte das Ziel ihrer Reise weiter aus ihren Augen: Jericho, der einzige Grund - sah man vom Offensichtlichen, der Revolution und John Farson ab - weshalb sie die Hauptstadt, ja, wahrscheinlich nicht einmal die Innerwelt je wiedersehen würden, geriet in Vergessenheit.

Keiner der vier ahnte zu diesem Zeitpunkt, welche Rolle ihnen das Ka in diesem großen, in diesem letzten Spiel zugedacht hatte.

Doch das würde sich bald ändern.

Sehr bald.

 

2

 

Immer öfter ertappte sich Arthur dabei, wie seine Gedanken zusammenhanglos ins Leere schweiften, wenn ihn das monotone Hin und Her im Sattel seines Pferdes einzuschläfern begann und die lahmen Gespräche seiner Gefährten langsam verebbten und schließlich nicht mehr vom Murmeln des Wüstenwindes zu unterscheiden waren.

Beschwerlich drehte er sich halb im Sattel und betrachtete eine Weile, mit entzündeten Augen, das Ka-tet, mit dem er seit seiner Jugend ritt und stritt.

»Wir rasten!« rief er nach einiger Überwindung in den garstigen, sandgeschwängerten Wind. »Wird Zeit für ein Palaver.«

Kyle blickte zwinkernd auf und rief seinerseits etwas. Arthur verstand es nicht, tippte sich aber dennoch kurz gegen den Halsansatz und verzog die Lippen zu einem spröden Grinsen.

Kyle redete gern, konnte einen ganze Abende unterhalten, das Problem lag nur darin, dass es sich meist um Nichtigkeiten handelte, die einen sehr selten voranbrachten.

Raymond, der seit ihrer letzten Auseinandersetzung etwas abseits ritt, schob seinen Hut zurecht und gab seinem Pferd die Sporen, bis er neben Arthur trabte.

»Es sind nur noch zwanzig, vielleicht dreißig Minuten bis Lean Grange. Wenn du mich fragst reiten wir durch, Art.« murmelte er, wie immer mehr zu sich selbst als zu anderen sprechend.

Arthur überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »So oder so, wir müssen vorher rasten.«

Er wartete bis Raymond den Kopf hob und zu ihm aufsah und fuhr dann nachdenklich fort: »Es ist Wochen her, seit wir durch eine Stadt kamen. Wenn du Goldwich so nennen willst, und sie war noch baronieverbunden, als wir durchkamen. Lean Grange dagegen . . . man könnte sie wohl höchstens als neutral bezeichnen.« Er lachte humorlos auf. »Ay, das wäre für wahr das höchste aller Gefühle.« Und nach einer Pause: »Wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen.«

Raymond griff zu seinen Zügeln und zwang sein Pferd damit dem ausgebleichten Skelett eines Codyvogels auszuweichen, dann ließ er sich etwas in seinem Sattel zurücksinken und zog sich den Hut wieder tiefer in die Stirn. Als er antwortete, sah Arthur bloß die aufgerissenen Lippen des Revolvermanns, umgeben von einem ungepflegten grauen Dreiwochenbart.

»Wird höchste Zeit, dass ich mal wieder andere Gesichter seh. Allmählich träum ich schon von euch.«

»Vergiss das Gesicht deines Vaters nicht.«

Raymond lachte rau auf und murmelte etwas, das wie Oyeah klang.

Arthur lächelte.

Eine Zeitlang ritten die beiden in wortloser Harmonie nebeneinander weiter, die Sonne im Rücken, den Schweiß im Nacken.

Als eine Wüstenhexe ihren Weg kreuzte und Arthur unbarmherzig an die despotische Einöde erinnerte, die sie wie eine Faust umschloss, wandte er sich an Raymond: »Ray?«

Wie aus einem Traum erwachend ruckte der Kopf des Revolvermanns hoch.

»Ay.«

»Weißt du noch weshalb wir unterwegs sind?«

Erst reagierte Raymond gar nicht und Arthur glaubte schon, sein Partner sei wieder eingenickt, als er schließlich doch zu ihm aufschaute. Der brennende Wind hatte auch Raymonds Augen rotgerändert und dem Mann stand eine Müdigkeit in das zerfurchte Gesicht geschrieben, die Arthur, trotz der Hitze, einen Schauer über den Rücken jagte.

Es gab keinen entmutigenderen Anblick als einen hoffnungslosen Revolvermann.

Dann mischte sich Verblüffung in die Lethargie.

»Was zum-?« Raymond stockte, schloss die Augen und rieb sich gequält die Schläfen. »Es ist Jericho, nicht? Wir reiten nach Jericho, um zu sterben.«

Einen Augenblick schwieg Arthur, dachte über die Bedeutung von Raymonds Worten nach, dann nickte er. »Ich denke schon.«

Raymond sah fragend zu Arthur auf. »Soll das heißen-?«

»Ay.« unterbrach ihn Arthur heiser. »Ich bin mir nicht mehr sicher.«

Insofern das überhaupt möglich war, verhärtete sich Raymonds Blick.

Er war immer schon der nüchternste Charakter in ihrem Ka-tet gewesen.

»Das solltest du nicht den anderen sagen. Du bist unser Dinh.«

Arthur schüttelte widerwillig den Kopf. Selbstverständlich hatte er Jericho nicht vergessen; zur eigenen Beerdigung erschien man für gewöhnlich. Dennoch widersprach er Raymond nicht. Er hatte den Großen Krieg verdrängt und das war genauso schlimm wie Vergessen, also schwieg er.

Raymond schien sich damit zufrieden zu geben. »Wenn wir noch mal rasten wollen, sollten wir das jetzt tun. Da vorne wäre gut.« Er deutete in einer ungenauen Geste auf eine Ansammlung von Felsen, die sich in etwa zwei Rädern Entfernung gegen den strengen Wind erhoben und wahrscheinlich ausreichend Schutz vor der Witterung bieten würden.

»In Ordnung«, sagte Arthur und wandte sich an Mariah und Kyle. »Da vorne halten wir!«

 

3

 

Als sie die Pferde notdürftig im Schatten der Monolithen untergebracht hatten, um sie vor der alles verdorrenden Hitze der Großen Mutter zu schützen und es sich selbst mehr oder weniger in dem Felsenkreis bequem gemacht hatten, ergriff Mariah das Wort. Die Sonne hatte ihre Haut dunkel gefärbt und die schwere Kleidung der Revolvermänner schien ihr sehr zu schaffen zu machen, denn ihr Gesicht wirkte ebenso angespannt von der Last des Leders, wie erschöpft. Ihr sonst perlmuttschwarzes, schillerndes Haar war dreckverkrustet und hing ihr in ungekämmten glanzlosen Strähnen im Gesicht. Ihren Hut hatte sie, an einer Wildlederschnur befestigt, auf dem Rücken hängen.

»Glaubst du Lean Grange wird uns Schwierigkeiten machen, Art? Ich würde für frisches Wasser und eine Nacht in einem richtigen Bett töten.«

Arthur, der flankiert von Kyle und Raymond an einem der rätselhaften Felsen lehnte, die wie Zahnprothesen aus dem Staub der Wüste ragten, lächelte flüchtig. »Wir befinden uns in einer Revolution. Das Alte tötet das Junge, die Söhne die Väter. Ich denke, wir sollten die Augen offen halten, das ist alles.«

Kyle lachte trocken auf und klopfte etwas Dreck aus seinem Poncho.

»Du solltest dich mal hörn, Artie. Wir reiten seit fast fünfzehn Jahren an deiner Seite und du glaubst immer noch, du wärst der einzige mit Augen im Kopf.«

»Lass ihn ausreden.« brummte Raymond.

Beleidigt lehnte sich Kyle zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich weiß nicht viel über Lean Grange und wenn es nach mir geht, füllen wir unsere Wasserschläuche auf und reiten weiter.«

»Tut es aber nicht.« sagte Kyle und Raymond warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Kyle hat recht.« fuhr Mariah dazwischen. »Wer hat dich eigentlich zum capitan gemacht?« Sie streckte die Beine von sich und trat die bestiefelten Hacken in den Sand. Mürrisch knackten ihre Gelenke. Für einen Moment blickte sie fast schmollend drein, dann entspannte sie sich etwas. »Seit Goldwich bist du komisch.«

Arthur wollte etwas sagen, doch Raymond kam ihm zuvor. »Verdammt, führt euch nicht auf wie Kinder. Seid lieber dankbar dafür, dass hier jemandem die Sonne offensichtlich noch nicht das Hirn weichgekocht hat. Wir sind uns doch einig, dass Lean Grange etwas Unbekanntes darstellt, oder?«

Einstimmiges Nicken.

»Bitte, dann lasst ihn reden.«

Arthur warf Raymond einen dankbaren Blick zu, der grunzte.

»Die Baronien liegen weit im Osten. Das einzige was uns aufmuntern könnte, ist die Tatsache, dass Farsons Einfluss hier wahrscheinlich noch schwächer klingt als der Ruf Gileads. Aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Alles was ich möchte, bei euren Vätern, seid wachsam.«

»Ay« murmelte Kyle. »Captn’.«

Arthur grinste.

Sie blieben noch eine halbe Stunde, redeten über Nebensächlichkeiten - hauptsächlich über Gilead, seine grünen Felder und süßen Nächte - leerten ihre Wasserschläuche und verspeisten die letzten Streifen Dörrfleisch, dann ritten sie weiter.

Nicht eilend, aber zielstrebig. In Richtung Lean Grange, der letzten Stadt - Ansammlung von Häusern - bevor sie die Berge, und irgendwo in diesen Bergen die Felsenstadt Jericho, die letzte Festung, erreichen würden.

 

 

4

 

Wäre vor zwanzig oder dreißig Jahren jemand durch Lean Grange geritten, hätte dieser Jemand der Stadt wahrscheinlich nicht mehr Beachtung geschenkt als man sie einem funkelndem Stück Metall, im Staub der Wüste zollt. Ein kurzer Blick hätte einem vielleicht vorgegaukelt man wäre auf etwas Goldiges, etwas Wertvolles gestoßen, doch schon ein zweiter - und der hätte nicht mal genauer als der erste sein müssen - hätte genügt um diesem Jemand seinen Irrtum vor Augen zu führen: Lean Grange war schon damals nicht mehr als Schrott.

War es wahrscheinlich schon seit Menschengedenken; ein armseliges, kleines Farmerdorf, am Rande der Cavin Rocks.

Vor zwanzig Jahren wäre jemand, der vielleicht sein Pferd tränken, oder seine Wasserschläuche auffüllen wollte, ziemlich sicher aber dennoch versorgt worden.

Im Best, dem einzigen Pub des Dorfes, hätte man dem Fremden misstrauisch und eilends Wasser gereicht, für sich und seinen Gaul und hätte ihn dann schief grinsend weitergeschickt. »Nayn, Sai. Das Motel steht schon ewig leer. Nayn-nayn, Sai, ’s alles belegt. Volle Erde kommt und mit ihr groß, groß feierliche Zeiten. Reitets weiter, Sai. ’s wird euer Schaden nicht sein.« Wären vielleicht die Worte vom Humpelnden Shabby, dem Wirt des Best, gewesen und aller Wahrscheinlichkeit nach, wäre der Fremde tatsächlich schnurstracks weitergeritten. Froh darüber keinen Pfifferling für die Bemühungen des Wirtes zahlen zu müssen und froh darüber, nicht in den zweifelhaften Genuss von Lean Granges Gastfreundschaft zu kommen. Denn schon damals umgab die Stadt ein gewisser Odem, den man nur unterbewusst wahrnahm und der nach böser Verheißung und Fieber roch.

Jahre später sollte dieser Geruch ganz Lean Grange eisern umarmen.

Doch soweit war es noch nicht.

Vor zwanzig Jahren waren die Bewohner von Grange nichts weiter als argwöhnische Rancher, die Fremden mit dem Grundsatz "Pisst nicht in unsere Ecken und fickt nicht unsere Schwestern (die sind für uns bestimmt)", entgegentraten und damit gut fuhren.

Was genau dann geschehen war, lässt sich heute nur noch erahnen.

Die Welt drehte sich weiter, wäre vielleicht eine passende Ausrede gewesen, wäre noch der ein oder andere Mann dazu im Stande gewesen, hinter verfaulten Zähnen, logische Sätze zu bilden.

Sicher ist jedoch, dass alles hatte mit einem Kanister begann, den Bobo Cormack eines Tages in einem Schacht seiner Goldmine, in einem Ausläufer der Rocks fand. Zu seiner Verteidigung muss man aber erwähnen, dass er nicht ahnte, dass er den Tod nach Lean Grange brachte, als er eines Tages und mit stolz geschwellter Brust den erwähnten Kanister ins Dorf karrte.

»Seht her, seht her! Ihr Schwanzlutscher«, soll er gerufen haben und wie ein Irrer mit der flachen Hand auf den Kanister geschlagen haben. »Das Alte Volk ist mir gnädig gestimmt. Ay, ihr Narren. Mir, dem Alten Bobo.«

Niemand von Lean Granges denkender Elite, die vorwiegend aus Stadtvätern und Geschäftsmännern bestand, hatte zu dieser Zeit etwas mit dem Zeichen auf dem Kanister anfangen können. Es erinnerte ein bisschen an ein stillstehendes Windrad - mit nur drei Blättern.

Man gratulierte Bobo und belächelte ihn hinter vorgehaltener Hand, dann ließ man ihn gewähren.

Und so schleppte Bobo, der sein ganzes Leben lang geradezu einsiedlerisch und misanthropisch - was seinen Geiz und Hass erklärte - verbracht hatte, das Fass in seine Behausung, mitten im Zentrum der Stadt. Heute ist von diesem Zentrum nicht mehr viel übrig, lediglich eine abgebrannte Ranch und ein tief in der Erde verscharrtes, undichtes, bleiernes Fass deuten darauf hin, dass es sich hier einmal um die Hazienda de Bobo gehandelt hat. Hier verstaute Bobo seinen Fund mit schiefem, zahnlosen Grinsen und machte sich mit dem verlockenden Gedanken im Kopf, einen waaarmen Winter zu erleben, daran das Fass zu vergessen. Es sollte der letzte klare Gedanke sein, den Bobo durch seine verkalkten Hirngänge peitschte und auch einen weiteren Winter sollte der Mann nicht erleben.

Als die Hohe Zeit und mit ihr der Sommer dem Ende entgegenschlitterte, hielt Bobo die Schmerzen nicht mehr aus. Sein Kopf dröhnte, er erbrach sich viel zu oft - selbst für einen grafsaufenden Hurensohn, sagte Shabby irgendwann - und er fand immer öfter Blutrückstände in seinem Urin.

Eine Schrotflinte setzte dem Leben des Großlandfarmers und Goldminenbesitzers, zwei Tage nach Einbruch des Herbstes, ein rühmliches Ende.

Bobo war vergessen noch ehe die Leichenfledderer mit ihm fertig waren - und mit ihm, sein Fass.

Mit jenem letzten sommerlichen Tag, an dem die Vögel ihre letzten glücklichen Lieder zwitschern sollten, ehe sie wie vom Blitz getroffen von den Bäumen fielen, hielt der Verfall in Lean Grange Einzug. Er nistete sich ein wie ein modernder Schimmelfleck in einer dunklen Ecke der Speisekammer, irgendwie unablässig stinkend, und wurde doch nie entdeckt.

Das Leben in dem kleinen Dorf, fünfzig oder hundert Räder von Jericho entfernt, geriet hinkend ins Stocken, aber das machte nichts, weil es niemanden interessierte. Lean Grange hatte man noch nie auf irgendeiner Landkarte der Umgebung gefunden und es sollten siebenundzwanzig Jahre vergehen, ehe das Ka endlich auf den kleinen Punkt jenseits der Großen Wüste aufmerksam wurde.

Und wie ein Sturm darüber hinwegfegte.

 

 

5

 

Als die vier Revolvermänner den Saloon betraten, der schlicht Granger’s Best hieß, befiel Arthur gleich dieses schlechte Gefühl einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Es war ein typischer Revolvermanninstinkt und Arthur rief sich selbst zur Ruhe, als er ihn überkam.

Lean Grange war ein Nest. Lag da wie ein verrottender Leichnam in der brütenden Mittagssonne und stank zum Himmel. Stank nach süßer, vertrocknender Luzerne, Teer, mit dem die Dächer der wenigen Häuser der Stadt bestrichen worden waren und Fäkalien - über die Arthur, selbst mit einer Waffe auf der Brust, nicht hätte urteilen können, ob sie vom Menschen oder vom Tier stammten.

Der alles beherrschende Gestank aber war ein kaum zu beschreibender, der ein wenig nach Fieber und heißem Tod roch. Ein ebenso übelkeitserregender, wie betörender Verwesungsgeruch.

Die Hauptstraße, die sich wie eine Krampfader durch die Stadt zog, war gleichzeitig die einzige Straße des Kaffs. Ein Barbiershop mit verbretterten Läden, ein Saloon und drei oder vier weitere Bruchbuden, die vielleicht bewohnt, vielleicht aber auch Geisterhäuser waren, säumten sie in schweigender Disharmonie.

Alles schien unter dem allsehenden Auge der Großen Mutter zur Bedeutungslosigkeit in Form von Farblosigkeit verbannt; bleich wie aus dem Fleisch ragende Knochen.

»Harmlos«, hatte Kyle gespottet, als sie in einer ungenauen Phalanx an einem verwitterten Ortseingangsschild vorbei geritten waren, doch seine Stimme hatte angespannt geklungen und seine Augen waren wachsam gewesen.

»Nayn.« hatte Mariah geflüstert. »Tot. Aber nicht harmlos.«

Kyle hatte ihr einen seltsamen Blick von der Seite zugeworfen, aber nicht mehr geantwortet.

»Sind sie minder?« wandte sich Kyle jetzt an Arthur, nachdem sie eine Weile auf der Schwelle des Saloons gestanden hatten, die Hände aufmerksam auf die Sandelholzgriffe ihrer Waffen gesenkt und sich ihre Augen allmählich an das herrschende Zwielicht gewöhnten.

Etwa ein Dutzend trübe dreinglotzender Augen musterten die Neuankömmlingen misstrauisch und feindselig. Fremde, sagten diese Augen, wurden hier nicht geduldet. Wagt es nicht in unsere Ecken zu pissen, hätte Kyle vielleicht gesagt.

»Das oder besoffen.« antwortete Arthur.

»Oder beides.« sagte Kyle und Arthur stieß ein trockenes Lachen aus. Es klang ruhestörend, blasphemisch. Als ob ein Ast in einem schlafenden Hain brechen würde.

Plötzlich stürzte ein spindeldürrer Junge in zerrissenen Lumpen und offenbar entweder betrunken oder unter dem Einfluss des Teufelsgrases, aus dem Dunkel der verwaist geglaubten Pianoecke hervor, auf die vier Ritter Gileads zu. Es verstrich kein weiterer Atemzug und acht schwere Kaliber waren auf ihn gerichtet.

Der Junge, dem fettige, dünne Haarsträhnen im Gesicht hingen und der den gleichen verblödeten, inzestvernebelten Gesichtsausdruck zur Schau trug, wie die restlichen Besucher des Best, haderte torkelnd.

»Überleg dir deinen nächsten Schritt genau.« murmelte Raymond trocken.

Der Junge grinste und entblößte damit zwei sorgfältig gepflegte Reihen grüner, verfaulender Zähne - ganz sicher, Teufelsgras. Angst schimmerte in seinen trüben Augen. Aber sie war schwach.

»Ballerboys!« lallte er und musterte dann gierig Mariah. »Und eine Maa’aam.«

Er zog einen imaginären Hut in die Stirn, dann trat er einen weiteren Schritt nach vorne, sodass sich die Mündung eines von Arthurs Revolver nun, ohne dessen Zutun, in die Brust des Jungen drückte. Das Grinsen des Jungen wurde noch breiter, die Angst noch schwächer.

Zögernd senkte Arthur den anderen Revolver, der nun ins Leere des Saloons gerichtet war und verstaute ihn im Holster. »Alles in Ordnung, Junge?« fragte er.

»Verschwindet von hier, Baaallerboys!« forderte der Junge ungerührt. Er sprach einen undeutlichen, vokalbetonenden Dialekt. Sein dreistes Gesicht erlahmte, wurde ernster.

»Der, der lebend unter Schaaaatten schreitet, duldet euch hier nicht.«

Raymond schnaubte angewidert, trat an Arthur vorbei in den Saloon, spannte die Hähne seiner Revolver und presste dann beide Waffen gegen die schweißbenetzte Stirn des Jungen.

»Zurück in dein Loch, Wurm«, zischte er durch zusammengepresste Zähne. »Sonst war das grad dein letztes Bier.«

Büschel Teufelsgras, verbesserte Arthur ihn in Gedanken.

Doch der Junge ignorierte sowohl Raymonds, als auch Arthurs Revolver, der sich noch immer ohne fühlbaren Widerstand in seinen Wanst bohrte.

Mit glanzlosen Augen fixierte er Arthurs Gesicht.

»Lass uns durch, Kind, sonst wird dich mein Freund hier,« Arthur legte Raymond besänftigend eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht über den Haufen schießen.«

Der Junge rührte sich keinen Zentimeter.

»Ihr . . . seid . . . Lichtmenschen.« stammelte er. »Geht von hier fort.« Es klang beinahe flehend und Arthur überlief ein kalter Schauer, als er einen Blick in das Gesicht des Jungen warf. Es sah fasziniert und gleichsam tief traurig aus. Ganz so, als lebten zwei Seelen in seiner Brust.

»Lasst ihn reden«, sagte plötzlich eine unbekannte Stimme. Sie drang aus der gleichen Ecke, aus der auch der hagere Junge gestrauchelt war.

»Er ist ein Narr, den der Wüstenwind und das Gras zu einem nichtsdenkenden Stück Fleisch abgeschliffen haben.«

Gereizt ruckte Arthurs Kopf zum Piano und der Nische daneben, in die scheinbar ein einzelner Tisch geschoben worden war.

Ein Tisch, der Arthur nicht aufgefallen war, und das war ziemlich schlecht. Der lange Ritt hatte ihn langsam gemacht, aber das war keine Entschuldigung. Garedt hätte ihn dafür windelweich geschlagen. Dafür hätte Arthur bluten müssen und zwar aus dem einzigen Grund, der wirklich zählte: Weil in dieser Ecke genauso gut ein schwarzgekleideter Assassin hätte lauern können, der nicht nur ihn, sondern auch sein Ka-tet jäh zur Lichtung am Ende des Weges hätte schicken können.

Ein bösartiger Stich zuckte Arthur durch die Stirn, als er an Garedt, seinen bärtigen Lehrmeister dachte und er spürte wie Wut in ihm aufstieg.

Wäre es nach Garedt gegangen, hätten sie fünf alle den Endgültigen Flur Richtung Westen verlassen - nicht nur Jeremiah, den Garedt halb tot geprügelt hatte, als sein Tag gekommen war; schwer verletzt und wie von Sinnen weinend war Jeremy von Garedt durch das Westtor und in die Verbannung getrieben worden.

Jeremy war an diesem Tag gestorben, ganz egal ob er die tiefen Wunden überlebt hatte, oder an Garedts Eisenstab zugrunde gegangen war. Wer die Letzte Prüfung nicht überstand, verlor alles.

Und Jeremiahs Niedergang war ihnen damals allen eine Lektion.

Noch im Morgengrauen, kurz nachdem Jeremy sie alle davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass er Garedt entgegentreten würde, waren sie sich alle einig gewesen, dass es an der Zeit war Garedt zu schlagen. Das Ka-tet hielt zusammen. Ihre Väter wären stolz auf sie gewesen.

Doch als Garedt Jeremy, den Ersten, ihren wahren Dinh, durch den Torbogen geprügelt hatte und anscheinend ganz Gilead frenetisch diesem Ereignis beigewohnt, Jeremy bespuckt und mit fauligem Obst beworfen hatte, da hatten die nun führerlosen übrigen vier gehadert. Und als der immerstolze, kluge und schöne Jeremiah mit gebrochenem Gesicht und befleckt mit fremdem, gelbem Speichel, Blut und dreckverkrustet, apathisch wimmernd aus der Stadt ins Exil geflohen war, hatten sich Mariah, Raymond, Kyle und Arthur schwachen Herzens dazu durchgerungen Garedt noch nicht zu fordern.

Erst ein Jahr später war Arthur Jeremy gefolgt und Garedt entgegengetreten.

Er verließ den Flur als Revolvermann. Mariah, Kyle und Ray kamen ihm nach.

Raymond wählte als Waffe eine Armbrust und erschoss Garedt.

Er pfählte ihn mit neun Pfeilen, ehe dieser kraftlos über Ray zusammenbrach, die Hände um die Gurgel seines Schülers gelegt, das Gesicht von ungläubigem Zorn verzerrt.

Das Monster von Gilead starb, bevor es einen weiteren Knaben zerstören konnte.

Am Abend nach Raymonds Mannbarkeitsprüfung tranken die vier Revolvermänner auf den verbannten Jeremy und ihren Lehrmeister Garedt, der sie mit brutaler Härte und wenig Liebe zu dem gemacht hatte, was sie heute waren: Revolvermänner. Ritter Gileads.

Und nun waren sie doch hier, weit im Westen und irgendwie auch im Exil, würden Innerwelt nie wieder sehen und folgten ihrem Ka, um zu sterben.

Arthur grinste übellaunig.

»Was willst du?« fuhr Kyle die Stimme im Dunkel an - er schien ebenso gereizt wie Arthur - und stieß den Teufelsgras-Jungen beiläufig beiseite. Ein melodisches Lachen war die Folge, das überall anders sympathisch geklungen hätte, hier aber dem rauchigen Kichern eines verräterischen Schamanen glich.

»Dass Ihr euch setzt, Revolvermann. Setzt euch und hört mir zu. Ihr seht nicht aus, als hättet ihr es eilig und Jericho kann warten, nicht? Der Tod ist ein geduldiger Fährmann.« Wieder dieses Lachen. Arthur stutzte und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Mariah neben ihm verkrampfte.

»Woher wisst ihr-?«

»Setzt euch.«

Kyle war der erste, der zögernd einen Schritt auf den Tisch zu trat, Mariah folgte ihm, ihre Waffen verstauend.

Raymond warf Arthur einen fragenden Blick zu, dieser nickte. Er ließ seinen Revolver fast zärtlich zurück in das warme Leder des Holsters gleiten und ging zu der Nische hinüber.

Mariah und Arthur setzten sich dem Fremden gegenüber, der in eine schwarze Sutane gekleidet war, die sein Gesicht fast vollkommen verdeckte - der Rest lag in Schatten -, während Kyle sich den Pianohocker heranzog. Lediglich Raymond blieb in angemessener Entfernung stehen, die linke Hand in seinen Gürtel gehakt, die andere fast beiläufig auf dem Griff seiner Waffe ruhend.

Arthur taxierte sein Gegenüber eine Weile ohne Genaueres als Schatten, die den Mann wie fließender Nebel einzuhüllen schienen, erkennen zu können;.

Arthur stieß einen innerlichen Fluch auf das herrschende Zwielicht aus. Er blickte Kyle einen Moment bestimmt an, ehe dieser den Kopf hob und verstand. Umgehend begann er an seinem Gürtel herumzufingern, dann hatte er seinen Tabakbeutel losgelöst, holte zwei Blättchen heraus und krümelte etwas Tabak darauf.

»Zigarette?« fragte er den Fremden.

»Gern.«

Kyle dreht zwei, ließ dann eine von ihnen geschickt, aber eher beiläufig, über die Finger tanzen - ein alter Revolvermanntrick - und reichte sie dem Mann, der sie leise kichernd entgegennahm. Kyle holte ein Schwefelholz aus dem Beutel und riss es mit dem Daumennagel an.

Was Arthur erkannte war alterslos. Besser ließ es sich nicht beschreiben und er hatte nur einen Augenblick Zeit, ehe Kyle beide Zigaretten entflammt hatte.

Er sah ein attraktives, schmales Kinn, sonderbar gütig wirkende Gesichtszüge und helle, blaue Augen, die matt im Dunkel der Kapuze leuchteten, wie Sterne, die sich in der unendlichen Schwärze des Reinen Meeres widerspiegelten. Es war Arthur unmöglich ein Alter zu schätzen.

Der Mann konnte ebenso gut fünfundzwanzig wie sechzig Jahre sein.

»Behagt dir was du siehst?« fragte der Mann, doch Arthur senkte nicht den Blick. »Nayn.« antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber ich will auch nicht das Bettlager mit Euch teilen.«

Kyle lachte und der Mann wandte den Kopf in seine Richtung. »Gefällt dir, nicht?«

Kyle verstummte.

»Man nennt mich Martyne. Doch das ist unbedeutend. Ich habe viele Namen.«

»Und was ist bedeutend?« fragte Mariah, sie klang verärgert.

»Dass ihr das Gesicht eurer Väter vergesst, vielleicht.« sagte Martyne mit einer so leisen Stimme, dass man sie kaum hören konnte.

Arthur war nicht einmal sicher, ob er das Gesagte richtig verstanden hatte. Kyle offenbar schon. Blitzschnell hatte er wieder an seinen Gürtel gegriffen und einen kurzen Moment lang blitzte Stahl im Licht eines hereinfallenden Sonnenstrahls, dann war ein Messer in einer präzisen Bewegung an Martynes Kehle gefahren. Zumindest in die ungefähre Richtung.

Milde lächelnd und mit ruhiger Hand presste Kyle die Waffe in das dunkle Gewand.

»Ich kenn dich noch keine zwei Minuten, alter Mann und dein Leben scheint mir schon unwichtiger als ein Furz im Sturm, ist das nicht seltsam?«

Martyne schien wieder zu schmunzeln, sagte aber nichts bis Kyle das Messer wieder senkte und es vor sich auf den Tisch legte.

»Ihr wollt nach Jericho, richtig?« fragte er dann, nachdem er einen erstaunlich tiefen Zug aus seiner Zigarette genommen hatte und ihn der ausgeatmete Qualm wie die Seelen Verstorbener umgab.

»Und du wolltest uns gerade sagen, woher du das weißt, Hexer.« murmelte Kyle gepresst.

Jetzt lachte Martyne wieder, eine wohlklingende Misanthropie.

»Das hat nichts mit Hexerei zu tun. Männer wie ihr kommen hier seit ein paar Monaten immer mal wieder durch.« Er sah Mariah eine Weile fast provokant an. Seine Augen glitten ihre Taille entlang, über ihren straffen Busen, der sich deutlich unter ihrem Leinenhemd und dem verdreckten Poncho abzeichnete, und musterten einen weiteren Atemzug ihr Gesicht. Mariah erwiderte diesen Blick forsch, doch Arthur sah ihr an, dass sie unter ihrer dunklen Haut errötete. Das irritierte ihn. Mariah war Schlimmeres gewohnt, musste Schlimmeres gewohnt sein, denn sie teilte nicht nur den ganzen Tag die Gesellschaft mit drei Männern, sondern war auch in Jemen aufgewachsen, einer verkommenen Stadt in der betrunkene Männer ihre Mutter vergewaltigten, ihren Vater töteten und die damals achtjährige Mariah nur lebend und ungeschändet zurückließen, weil diese sich unter dem Bett ihrer Eltern versteckt hatte.

Seit dieser Zeit hatte Mariah alles dafür gegeben trotz ihres Geschlechts Revolvermann zu werden.

Sie schaffte es und zog in den vergangenen vierzehn Jahren Hundertschaften von Vergewaltigern, in dessen Augen sich die Gesichter der Peiniger ihrer Mutter widerspiegelten, zur Verantwortung.

Und nun saß sie hier und ließ sich nicht nur unbestraft von diesem Hundesohn angaffen, sondern wurde dabei auch noch rot?

»Sie reiten alle nach Westen und dort liegt Jericho. Nichts anderes, nur Jericho. Und das Ende der Welt.«

»Und woher willst du wissen, was uns dort erwartet, alter Mann?« Raymond trat an den Tisch, die Arme geistesabwesend in die Seite gestemmt.

»Ich könnte nun sagen, dass man es euch ansieht, Revolvermann.« Martyne blickte zu Raymond auf und offenbarte Arthur so wieder für einen kurzen Moment dieses schrecklich junge, alte und in seiner Perfektion fast schon deformiert wirkende, Gesicht. »Ihr seht aus wie Männer, die dem Ka folgen. Männer, die wissen, dass ihr Epilog bereits geschrieben wurde.«

»Und deshalb weißt du, dass wir sterben?« fragte Arthur.

»Oh, gewiss.« sagte Martyne. »Doch selbst die grasfressende Missgeburt hätte euch das sagen können.«

Er machte eine Pause und zerdrückte seinen Zigarettenstummel an der Tischkante, dann verspeiste er ihn seelenruhig. »Aber ich möchte euch nicht belügen. Wäre kein guter Einstand, wie?«

Keiner der vier Revolvermänner antwortete.

»Ich bin hier, um euch davon abzubringen nach Jericho zu reiten. Am Hill erwartet euch nichts, außer dem Exitus. Und der wird nicht rühmlich oder für eine bessere Zukunft sein, ihr werdet sterben und die Welt wird sich weiterdrehen. Und am Ende wird niemand eurer Art das Morgen sehen, das dieses Universum erwartet.«

»Du lügst«, sagte Arthur nüchtern. Er hatte jetzt große Lust auf ein Bier, doch der Geruch in der Taverne und ein Blick Richtung Tresen verrieten ihm, dass es keinen Gerstensaft in diesem Teil der Welt gab, allerhöchstens Zwiebelmet und ihm wurde schon beim Gedanken daran schlecht.

Wahrlich der Äußerste Ring, dachte er und lächelte unwillkürlich.

Ein gläsernes Lächeln, das zerbrach, als Martyne weitersprach.

»Möglich.« sagte er. »Doch lüge ich, wenn ich sage, dass du deinen Vater getötet hast?« - »Lüge ich, wenn ich sage, dass er-« Martyne hob einen hageren Finger und zielte damit auf Kyle, »Seinen Lehrmeister nur durch List besiegte?« - »Lüge ich, wenn ich sagen, dass sie-« er hob die andere Hand und zeigte mit Revolverfingern auf Mariah. »Jetzt gerade in diesem Moment feucht im Schritt ist?« Er führte beide Hände zusammen - und glich damit auf erschreckende Art Garedt, der mit seinen alten Kanonen auf Jeremiah zielte, ehe dieser am Horizont verschwand - und nahm Raymond ins Visier. »Lüge ich, Ray, wenn ich sage, dass du zwei Nutten umgebracht hast, ehe du Revolvermann wurdest?«

Mit einem Schlag herrschte Totenstille. Keiner der Revolvermänner senkte den Blick, doch in jedem wütete es.

Wahrscheinlich wäre jeder, der vier nun am liebsten gestorben - für Arthur traf das auf jeden Fall zu - und dieser Gedanke hing wie ein Pesthauch in der Luft. Überdeckte sogar jenen heißgiftigen Odem, der Lean Grange betäubte.

Der erste, der reagierte war Raymond. Mit einem Ruck federte er herum und verließ fluchtartig die Taverne. Mariah sah ihm erschrocken nach, auf ihren Wangen brannten nun deutlich rote Flecken.

Kyle fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann verschränkte er die Hände vorm Gesicht.

Arthur spürte erst, dass er Kyle hasserfüllt anstarrte, als dieser die Hände senkte und ihm einen flehenden Blick zuwarf.

Betroffen sah er weg.

Woher konnte Martyne das alles wissen? Niemand wusste vom Schicksal seines Vater, niemand wusste von dem Tag, an dem er zu Unruhen in die Äußeren Baronien geschickt worden war. Und niemand wusste von der Nacht davor. Niemand konnte davon wissen!

»Du Teufel.« flüsterte er und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Mariahs Hände zu ihren Waffen wanderten. Martyne kicherte. »Nun ich lüge offensichtlich nicht. Bin ich denn dann ein Lügner, Arthur Alwright, Sohn des Ross?«

Mit einem fast unmenschlichen Kraftaufwand behielt Arthur die Nerven.

Griff nicht nach Kyles Messer, das verlockend vor ihm auf dem Tisch lag, und stieß es dem Fremden nicht in den Hals.

»Nayn.« sagte er gepresst.

»Dann hört mir zu.«

 

6

 

Der Mann in Schwarz, der sich als Martyne ausgegeben hatte, der aber auch unzählige andere Namen hatte und durch hunderte Welten gewandert war, hatte Lean Grange zwei Monate vor den vier Revolvermännern erreicht.

Er hatte das Nest so vorgefunden, wie es die vier begrüßt hatte.

»Ich habe nichts mit dem Verfall zu tun«, sagte er und klang dabei ehrlich.

Er war kein Teufel, sagte er und klang auch dabei ehrlich, wenn auch leicht amüsiert.

Er hatte einen Auftrag, doch für das Ka-tet war dieser Auftrag nicht wichtig.

Er hatte auch mit anderen Revolvermänner gesprochen, hatte ein paar von ihnen weiter nach Westen reiten sehen und andere zur Umkehr bewogen.

»Kehrt um!« befahl der Mann in Schwarz dann mit herrischer Stimme und blickte in ausdruckslose Gesichter. »Kehrt um und reitet zurück nach Gilead, kämpft dort wenn ihr wollt oder baut ein Haus in Pennilton, oder Jemen«, seine blitzenden Augen trafen Mariah. »Noch seid ihr nicht verloren.«

»Gilead brennt und der Brandstifter reitet auf Jericho«, Mariahs Stimme bebte. Martyne - der Mann in Schwarz - nickte schlicht. »Sie folgen alle dem Guten Mann. Narr ist wer sich ihm entgegenstellt.«

»Arbeitest du für ihn? Ist das dein Ziel? Unsere Truppen zu zerstreuen?«
Und da brach Martyne in Gelächter aus, doch es klang würgend und atemlos.

Das ist er, dachte Arthur da, das ist sein wahres Gesicht, keine Maske.

Er war sich nicht sicher, ob er nun gerne in das Gesicht des Mannes gesehen hätte.

»Nayn und vielleicht doch«, antwortete Martyne nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

»Wer ist schon John Farson? Ein Revolutionär? Ein Verbrecher? Vielleicht etwas völlig anderes? Nein, mein vatermordender Freund, um es dir leichter zu machen. Ich diene nur einem und dieser eine wiederum nur einem, doch das ist nicht wichtig.«

Und in diesem Augenblick verlor Kyle die Fassung.

»Was ist dann wichtig!?« schrie er und seine Augen waren irre vor Hass. »Du Dämon, was tun wir hier?« Er schlug mit beiden Fäusten und aller Gewalt auf den Tisch, sein Messer hüpfte einen Zentimeter in die Höhe und ehe es wieder auf dem Tisch aufkam, hatte er es ergriffen, dann sprang er auf und verließ stürmisch die Taverne.

»Etwas Großes geschieht«, fuhr Martyne ohne Unterbrechung fort. »Hat schon begonnen.« Und bei diesen Worten überschlug sich seine Stimme zum ersten Mal, seit Arthur ihn kannte, verräterisch. Egal was er sagt, dachte Arthur, als er diesen minimalen Tonbruch vernahm, er lügt.

»Ein Mann widersetzt sich seinem Ka«.
Mariah lächelte humorlos. »Das ist nicht möglich.«
Der Mann in Schwarz würdigte sie keines Blickes. »Er wird diese Welt zerstören, diese Welt und alle anderen. Er handelt aus Verzweiflung und das macht ihn unberechenbar. Doch jeder Revolvermann, der jetzt noch kämpft handelt aus Verzweiflung. An diesem Mann ist etwas Besonderes, doch das weiß er nicht und sollte es besser auch niemals erfahren.«

»Kennen wir diesen Mann?« fragte Arthur und spürte wie eine seltsame Erregung von ihm Besitz ergriff. Es war ein unheimliches Gefühl von Vorbestimmung, das man vielleicht als Kind empfand, wenn man sich auf dem Rummel von einer Zigeunerin die Hand lesen ließ.

Der Mann in Schwarz dachte eine Weile nach. »Vorstellbar», sagte er schließlich. »Er ist jung und trägt seine Revolver dennoch schon lange.«

Eine Legende, dachte Arthur und erinnerte sich unwillkürlich an den Jungen, der den Endgültigen Flur als Jüngster aller Zeiten verlassen hatte.

Er erinnerte sich auch an die Geschichte des Jungen und musste schlucken. Er war jetzt in Jericho - wenn er noch lebte.

Er wechselte einen wissenden Blick mit Mariah.

Er täuscht, dachte er angestrengt und als Mariah leicht den Kopf senkte, erwiderte er das Nicken mit den Augen.

»Jericho ist nicht euer Schicksal«, sagte Martyne nachdem er eine Weile amüsiert Mariahs brennenden (oder lüsternen?) Blick erwidert hatte, als hätte er Arthurs Gedanken deutlich gelesen, als ständen sie ihm in glühenden Lettern auf die Stirn geprägt.

Arthur zuckte zusammen.

»Doch vielleicht beruhigt es euch, wenn ich euch sage, dass Kyle am Hill fallen wird?«

Und dann erzählte der Mann in Schwarz Mariah und Arthur von ihrem Ka und mit jedem Wort, das er sprach, rückten die beiden tapferen Revolvermänner näher zusammen. Als der Mann endete, hielt Arthur Mariahs Hand.

 

7

 

Die Große Mutter war kurz davor ein weiteres Mal ihr ewiges Gefecht gegen ihren bleichen Bruder zu verlieren, als Mariah und Arthur den Saloon verließen.

Blutendes Licht verwandelte die Aussicht auf die staubige Straße und die, an der Veranda angeleinten, Pferde in ein düsteres und trostloses Gemälde.

Raymond hatte auf einem Schaukelstuhl Platz genommen, seinen Hut ins Gesicht gezogen und träumte geräuschlos vor sich hin. Ein Straßenköter hatte es sich zu seinen Füßen bequem gemacht und betrachtete den Fremden mit misstrauischer Leidenschaft, während Kyle mit einer Zigarette zwischen den Lippen, auf den Stufen der Veranda hockte und etwas Unkenntliches aus einem groben Klotz Holz schnitzte. Als die beiden anderen Mitglieder des Ka-tets das Best verließen - Arthur hatte gedankenverloren einen Arm um Mariahs Taille gelegt - sah er auf und lächelte freudlos.

»Seht euch die an«, er deutete auf die entgegengesetzte Straßenseite, wo sich ein halbes Dutzend Gestalten zusammengefunden hatte und argwöhnisch zu ihnen herüber starrte. »Du hattest recht, Artie. War ein großer Fehler hier herzukommen. War eine ganz schlechte Idee. Ay«

Skeptisch bedachte Arthur die kleine Ansammlung mit einem Blick, dann drehte er sich zu Raymond um.

»Ray?« Der Revolvermann reagierte nicht.

»Schläft er?« fragte Mariah.

»Kann sein, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon bei ihm.« sagte Kyle, stand auf und klopfte sich den Staub vom Hosenboden.

»Wir brauchen einen Schlafplatz.« sagte Arthur schließlich, nachdem sie schweigend eine Weile dagestanden und unverhohlen die starrenden Dorfbewohner beobachtet hatten. »Wer geht zu ihnen und fragt sie nach einer leerstehenden Scheune, oder - der Jesusmann liebe uns - einem Gasthaus?«

»Ich.« dankbar lief Kyle los, ohne auf eine Antwort zu warten. Aber als er die Menge erreichte, verstreute die sich wortlos und trotz der langsam einbrechenden Dämmerung, erkannte Arthur, wie Kyle mehr als einen der Männer und Frauen am Arm zurückhielt und auf sie einredete, doch sie rissen sich immer wieder los und flohen in alle Richtungen.

Nachdem sich der kleine Haufen verstreut hatte, kehrte Kyle, die Hände in den Hosentaschen und ein falsches Grinsen auf den Lippen, zu ihnen zurück.

»Scheiß auf sie und scheiß auf Lean Grange«, sagte er milde, als er wieder in Hörweite war.

»Wenn ihr einen Schlafplatz braucht, folgt mir.«

Weder Mariah, noch Arthur waren überrascht, als sie die Stimme des Teufelsgras-Jungen wiedererkannten. Müde drehten sie sich herum und sahen gerade noch, wie der Junge hinter einer Ecke des Saloons verschwand.

»Ray!« rief Mariah scharf und Raymond schob sich den Hut aus der Stirn. »Pass auf die Pferde auf.«

Dann folgten Kyle, Mariah und Arthur dem Jungen.

 

Zwischenspiel

Neunzehn

 

64 Tage zuvor

Eine Krähe hatte es sich auf einem der Kreuze gemütlich gemacht, die kreisrund um die Monolithen herum aufgebaut worden waren. Sie putzte sich eingehend die Federn, dann hüpfte sie auf eisengleichen Krallen ein Stück nach vorn und vergrub ihren Schnabel tief im weich gewordenen Fleisch des kahlen Schädels, dessen Körper wie ein stummes Mahnmal an das mannshohe Kruzifix geschlagen worden war.

An drei von vier Kreuzen waren solche Leichname angebracht worden und der Weglose hatte den ganzen Morgen und Stunden des Mittags damit verbracht sie aufzustellen und Steine zu finden und zu formen, die man als Nägel gebrauchen konnte.

Er beobachtete die Krähe noch einen Moment, die sich unverschämt am Fleisch des Toten labte, dann warf er. Der Stein - der ohnehin nicht weiter zu gebrauchen gewesen war - verrichtete gute Arbeit.

»Rotzfreche Krähe!« kreischte er, als der Stein traf und die Krähe in einer Wolke explodierender Federn entzwei riss. Ein dumpfer Laut, als ob man mit der Faust in ein Daunenkissen schlagen würde, begleitete den Treffer und der Vogel war gerade noch dazu imstande den ersten Vokal eines Klagelieds anzustimmen, da fiel er auch schon als toter Klumpen in den Wüstensand.

»Rotzfreche Krähe.« wiederholte der Weglose ruhiger und konzentrierte sich wieder verbissen auf die Kreuze, die sich über und neben ihm aus dem Wüstensand erhoben und gottgefällige Schatten auf sein Gesicht und den Wüstenboden zeichneten.

Er wusste immer noch nicht, woher diese Körper kamen, die entstellt und ausblutend da hingen, als ob sie nichts Besseres zu tun hätten und er konnte auch keinen genauen Grund dafür nennen, wieso er sie aufgeknüpft hatte. Doch dieses unwissende Gefühl tiefer Orientierungslosigkeit, würde schon bald sterben. Wie die Krähe würde es einfach fallen und sterben. Denn es fühlte sich auch gut an, die drei Leiber dort hängen zu sehen, fühlte sich richtig an - und nur das zählte.

»Etwas Wasser für einen durstigen Mann.«

Der Weglose erschrak, war sofort auf den Beinen und griff nach dem abgewetzten Messer, das er in einer noch viel abgewetzteren Scheide mit sich trug.

»Wer da?«

Er drehte sich einmal um die eigene Achse, sah aber nichts außer seinem Schatten, der vor ihm fortwich und umrundete mit zwei Schritten den Steinkreis halb.

»Weeeeeer daaaaa?!« schrie er erneut ängstlich und seine Stimme überschlug sich.

Ein Kichern antwortete ihm und er fuhr herum.

»Hinter dir.«

Er schnellte wieder herum und setzte sich auf den Arsch.

Gottgeschnittene Schwerkraft.

Ein Mann stand vor ihm. Vielleicht alt, die Sonne blendete den Weglosen und so erkannte er bloß einen Umhang, dessen Saum auf dem Sand thronte wie Gischt auf den Wellen des Ozeans und eine Kapuze, wo ein Gesicht hätte sein müssen.

»Beeindruckendes Werk.« Der Fremde erhob einen hageren Finger und deutete auf eines der Kreuze. »Man könnte meinen, da sitzt ein Künstler vor mir im Sand und hält Maulaffen feil.«

Ja-ah, er hatte den Mund aufgerissen, außerdem waren seine Augen schreckensgeweitet! Na und? Das war normal. Er hatte eine Scheißangst.

»Hast du dich mal gefragt, warum du immer nur drei tötest, Wanderer?« fragte der Fremde und ließ sich neben ihm, direkt unter einem der Kreuze, in die Hocke herab. Geronnenes Blut tropfte auf die Kapuze des Mannes, doch entweder bemerkte der es nicht, oder es störte ihn nicht weiter.

»Weil . . . weil . . . « stotterte der Weglose und bohrte dann tief in seiner geringen Erinnerung. Es war schwer an etwas länger zurückliegendes, als den letzten Tag zu denken. Es tat fast ein bisschen weh.

»Weil . . . vielleicht weil ich mir so merke . . . wohin es weitergeht.« Der Fremde lauschte ihm interessiert, dann lockerte er fast beiläufig seinen Mantel und seine Kapuze glitt ihm wie ein fließender Schatten aus dem Gesicht.

Als der Weglose sah, was die Schatten verborgen hatten, fing er an zu schreien und der Fremde begann gellend und hell zu lachen. Und so hallte für kurze Zeit eine nervenzerfetzende Kakophonie widersprüchlicher Emotionen durch die Wüste, bis sich der Weglose bebend die Finger einer Hand tief in den Rachen stopfte und seibernd und mit aufgerissenen Augen darauf herumzukauen begann, wie er es manchmal tat, wenn eins und eins nicht mehr zwei ergab - was in letzter Zeit ziemlich oft der Fall war.

Doch schon bald ertrug er das Bild, das sich ihm bot und er nahm die Finger aus dem Mund und sprach weiter. »Westen.« sagte er stockend. »Ich häng einen in den Osten, einen in den Süden und einen in den Norden. Keinen in den Westen, keinen.« Er holte tief Luft. »Keinen!« schreiend. »In den Westen geh ich.« Er hielt wieder kurz inne, überlegte fieberhaft und fuhr dann fort. »Schnurgerade in den Westen ich geh-«

»Warum?« unterbrach ihn der Fremde, der eigentlich ganz sympathisch schien, wenn man übersehen konnte, dass er das demolierte, nackte Gesicht eines Todesgottes mit sich herumtrug, über das ihm in blinden Flüssen das Blut des Ostopfers quoll. Der Weglose traute sich das zu.

»Weil Er im Westen wartet.«

»Wer?«

Er stierte den Fremden an, zweifelte einen Augenblick am Verstand des Totenkopfes und lächelte dann nachsichtig. »Na, Er.«

»Sprichst du von einem König?« wollte der Fremde unbewegt wissen.

»Ja-ah . . . « Seine Stimme verlor sich schwärmend. »Bald kommt der König. Er vom Auge.«

»Dann bin ich hier richtig.« Mit einer erstaunlich agilen Bewegung sprang der Mann im Umhang auf, verdeckte die Sonne und war über dem Weglosen, ehe dieser sich auch nur rühren konnte. Mit Augen, die wie große, gierige Sterne funkelten, legte der Fremde beide Handflächen, die kalt wie das Ende allen Seins waren, auf das Gesicht des Weglosen.

Und dieses Mal schrie der nicht.

Er sah mehr, als ein Mensch jemals sehen durfte. Er sah, wie etwas entstand, das wie schwarzes Eis im Nichts hing. Er sah wie dieses Etwas zersplitterte und so zu etwas Neuem wurde. Er sah, wie sich alles wiederholte, immer und immer wieder und wer weiß wie oft noch. Und dann sah er, wie sich aus einem dieser Splitter etwas formte, auf dem vielleicht in Aber- und Abermillionen Äonen er selbst erwachsen würde.

Er sah die Ewigkeit und wurde Zeuge, wie diese Ewigkeit scheiterte.

Er sah Sonnen vergehen und Monde stürzend Welten vernichten.

Er sah, wie Leben aus dem Nichts entstand.

Und er sah einen Dunklen Turm im Zentrum all dieser Schöpfung und Verwüstung, der sich finster drohend aus einem Feld blutroter Rosen erhob. Und jede dieser Rosen war ein einzelnes unendliches Universum.

Er öffnete seinen Mund wie eine klaffende Wunde und wollte darum flehen getötet zu werden, ausgetilgt aus diesem Plan, der zu groß war, um jemals angerührt zu werden. Doch als er sprach war seine Stimme fremd: Neunzehn! schrie er und da begann der fremde Mann zu lachen.

Er spürte, wie das Bewusstsein unter ihm schwand.

Um dem Wahnsinn zu entfliehen, um sich vor ihm zu verbergen, klammerte er sich mit qualvoller Anstrengung an das eine Wort, diese eine Zahl.

19 . . . 19 . . . 19 . . . 19 . . . !!

 

Als er wieder aufwachte hatte ihn der Fremde - oder gottweiß wer - an das übriggebliebene Kreuz geschlagen. Wie ein lebendiger Wegweiser zeigte er gen Westen.

Stöhnend richtete er sich auf, spürte wie schmutzige Steine seine Handgelenke teilten und knapp die Hauptschlagadern verfehlten, spürte wie die fast untergegangene Sonne heiße Male auf seine Haut gebrannt hatte und - Oh, Wunder - eine Krähe, die es sich pickend auf seinem Schädel bequem gemacht hatte und nach Gold, oder Hirn grub. Ein heller, nicht beängstigend dicker - verglich man ihn mit den Kratern in seinen Händen, aus denen Blut pulsierte, als gäbe es kein Morgen mehr - Blutstrom, der über seine Stirn und rechtes Auge floss, halbierte sein Sichtfeld.

Der Fremde hatte etwas abseits ein Lagerfeuer zusammengetragen, saß nun im flackernden Schein daran und paffte eine Zigarette. Seine Kapuze hatte er barmherziger Weise wieder übergezogen.

Der Weglose empfand keine Schmerzen und war dankbar für diesen Zauber. Nur ein kleines Etwas pochte tief in seinem Inneren. Nagend, aber nicht besonders qualvoll - vielleicht seine Seele.

»Hast du verstanden?« fragte der Fremde plötzlich, er hatte sich mit dem Rücken zu ihm gesetzt.

»Neunzehn.« antwortete der Weglose.

»Dein Leid ist noch nicht zuende, Wanderer.« sagte der Mann in Schwarz. »Du wirst drei Tage und drei Nächte an diesem Kreuz hängen und in dieser Zeit, wirst du Dinge sehen, die dir schlimmer erscheinen werden, als die Dinge die du sahst. Aber wenn es vorbei ist und du von deinem Kreuz steigst, wirst du die Drei hinter dir lassen, begreifst du?«

»Ich . . . « Er versuchte den Nacken zu bewegen, um den Vogel zu verscheuchen, doch er war wie erstarrt. Er glaubte, dass der Fremde ihm ein Rauschgift verabreicht hatte und war auch dafür dankbar.

»Muss ich ihm mehr erzählen?« fragte der Mann in die Dunkelheit. »Ja, ich denke ich muss.« Er warf seine Zigarette ins Feuer und vor den Augen des Weglosen verpuffte sie in tausend schillernden Farben.

»Du bist nun ein Diener der Neuzehn. Du wirst die Drei hinter dir lassen. Sie war bloß der Weg. Deine Mission ist es nun, den heiligen Ring der Neunzehn zu schließen.«

»Ja!« wimmerte der Weglose.

Der dunkle Fremde sah über seine Schulter zu ihm hinüber. Als er weitersprach klang er entzückt. »Du bist ein starkes Werkzeug. Du wirst weiter nach Westen gehen, bis du in eine tote Stadt kommst. Dort werden sie dich erwarten.« Der Mann spuckte ins Feuer und wieder loderte es, wie von einem geheimnisvollen Zauber beseelt, irisierend auf. »Missgestalten. Fatalisten. Sie werden dein Werkzeug sein, denn du wirst sie mit der Macht, die ich in dir wecke und die schon immer da war, unter deine Geißel zwingen. Und dann?«

»Dann warte ich.«

»Du wartest und wenn sie kommen, wirst du töten. Unterschätze sie nicht und sei wachsam. Es werden viele kommen und du wirst oft im Schatten bleiben können und manchmal müssen. Wie viele wirst du töten und ihr Blut deinem König opfern?«

»Neunzehn!« winselte er. Da war jetzt nur noch diese eine, alles beherrschende Zahl in seinen Gedanken. Neunzehn. Er wollte um Hilfe betteln. Bind mich los, du Monster, wollte er schreien, doch alles was dabei herauskam war Neunzehn. Neunzehn!

»Gut.« Der Mann in Schwarz klang zufrieden. »Was ist deine Zahl?«

Das war einfach. »Drei.«

Der Fremde nickte in die Dunkelheit. »Und was wird deine Zahl sein?« Er erhob sich von seinem Feuer, etwas schimmerte in seiner Hand. Ein Messer!

»Neunzehn! Neunzehn!« Wie ein schwebender Geist kam er auf den Weglosen zu, in seiner Hand reflektierte eine Klinge schal das Mondlicht.

»Neunzehn!«

Als der Mann in Schwarz das Messer am Bauchnabel des Weglosen ansetzte kreischte dieser immer noch die Zahl, seine Zahl, bis sein Schrei zu purem Schmerz wurde.

Ein einsamer, trinkender Wolfshund, weit entfernt, an einer der letzten reinen Quellen der großen Wüste hielt inne, als er den seltsamen Laut vernahm, blickte hoch zum Marketendermond, der in dieser Nacht, wie ein großes weißes Auge am Himmel hing, und erwiderten dann jaulend und voller Mitgefühl den Schrei.

Gemeinsam verabschiedeten die beiden ungleichen Sänger die alte Jahreszeit, die in diesen Sekunden endete und begrüßten Char-tel. Den Todesmonat.

Dreiundsechzig Tage später hatte der Weglose Diener achtzehn Revolvermänner ermordet.

 

2. Strophe

Martynes Prophezeiung

1

 

»Blut gebiert wieder Blut. Wer einen Stein in einen See wirft, der erschüttert nicht nur die Oberfläche, der verändert auch den Wasserstand. Böses gebiert wieder Böses.

Doch ohne das Feuer kein Wasser, ohne Zerfall kein neues Leben, das Schöne bedingt das Hässliche und Voll und Leer gebären einander.

Ihr seid Ka-tet, eines aus vielen.

Jeder von euch wird sühnen können, einigen wird die Wahl gestellt werden, andere wird Ka sich holen. Doch eins ist nicht abzuwenden: Ihr werdet eurem Schicksal entgegentreten und damit alles ändern. Alles in seine Bahn lenken.

Doch seid euch gewiss, wie immer ihr euch entscheidet, das Blut eures Bundes wird in Strömen fließen.

Geht nun und handelt ka.«

Arthur wischte sich den Schaum vom Mund und verzog das Gesicht. Der Zwiebelmet schmeckte scheußlich. Vor einer halben Stunde war der Teufelsgras-Junge, der keinen Namen zu haben schien, wieder verschwunden. Vorher hatte er ihrem Ka-tet eine Scheune, auf dem Gelände einer heruntergebrannten Hacienda, zugewiesen und dümmlich gegrinst, als ihn Kyle bezahlen wollte.

»Ich nehme kein Totengold.« hatte er erklärt. »Behaltet’s für den Fährmann.«

Es war so offensichtlich eine Falle, dass Arthur glaubte, nicht mal ein betrunkenes Reh wäre blindlings hineingestakst. Nun, dann waren sie eben betrunkene Ochsen. Er lächelte schief.

»Und was meinst du wollte er damit sagen, Mariah?« fragte Raymond, der wieder etwas bessere Laune und eine Menge getrunken hatte. Es gab hier kein Wasser. Das hieß natürlich, es gab schon welches, doch es roch nach Bittermandel, was Arthur für ein ziemlich untrügliches Anzeichen für Zyanidgehalt hielt und hatte obendrein einen leichten Untergeruch von Blei inne.

Also saßen sie nun in der Schwüle des Heuschobers im Kreis, tranken Liter von stinkendem Zwiebelmet und teilten Khef.

»Nun«, Mariah räusperte sich. »Ich habe drüber nachgedacht, ich glaube er will uns auf unsere Frevel aufmerksam machen und er will, dass wir . . . « Sie nahm einen großen Schluck Met, hustete unterdrückt und fuhr fort: »Naja, hm, Buße tun oder sowas.«

»Oder er verarscht uns. Verarscht uns für zwei.« warf Kyle ein.

Arthur warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Kyle sah jetzt wieder besser aus und Arthur bemerkte erleichtert, dass er nicht mehr wütend ob seines Geheimnisses auf Kyle war.

»Blut gebiert wieder Blut, Böses wieder Böses. Damit meinte er wohl, dass schlechte Taten Schlechtes nach sich ziehen.« vermutete Arthur.

Raymond nickte. »Das mit dem Wasser ist klar. Er weist darauf hin, dass jede Kleinigkeit Ka beeinflusst. Nachträglich. Und unabwägbar.« Raymond lehnte sich zu Mariah rüber und sagte: »Noch ein Schluck Rinderpisse, wenn’s beliebt.« Mariah lachte auf und reichte ihm den Krug mit Met, dann streichelte sie ihm zärtlich durch das schütter werdende Haar. »Bist mir schon ein komischer Ballerboy.« Und einen Moment später brachen die vier Revolvermänner in lautes Lachen aus. Im Dachstuhl über ihnen schreckte eine Taube auf, flatterte einen Moment empört durch die Scheune und verschwand dann durch ein zerschlagenes Fenster in der sternenklaren Nacht.

Grüblerisch sprach Raymond weiter: »Und hat er was von Jericho gesagt?«

Arthur warf Mariah einen alarmierten Blick zu, die nickte unmerklich. »Nur, dass es nicht unser Schicksal sei, dass wir es niemals sehen würden.«

Kyle grunzte. »Der Kerl hat nicht alle Schuhe im Schrank, Freunde. Ich geb keinen Schluck von dieser Zwiebelsuppe hier auf ihn, damit ihrs wisst. Jericho ist unser Schicksal. So wahr ich hier sitze.«

Traurig musterte Arthur ihn. Kyle war ein Gesetzeshüter. Ob Martynes Worte über ihn nun stimmten oder nicht. Vielleicht war er sogar der einzig echte Gesetzeshüter ihres Ka-tets. Oh keine Frage, Mariah, Raymond und Arthur waren Krieger, erbarmungslose Richter und Vollstrecker in einem, doch niemand von ihnen fühlte diesen Stich im Herzen, wenn sie Zeugen von Ungerechtigkeiten und Verbrechen wurden, den Kyle verspürte.

Mariah ertrug es nicht, wenn Männer Frauen misshandelten, doch ihre Motive waren zorniger Natur und grundverschieden von denen Kyles. Rachsucht steuerte sie und wie eine Berserkerin fuhr sie unter solche Bestien.

Kyle jedoch war gerecht.

Manchmal war er es - trotz seines zweifelhaften Humors und den Vulgaritäten -, der Arthur am meisten an ihren ehemaligen Dinh, Jeremiah LeVries, erinnerte.

Beide waren stolze Jungen gewesen und Garedt war es nie gelungen diesen Ausdruck aus ihren Augen zu prügeln, der ihren Blick über den Horizont hinwegschweifen ließ und Ritterlichkeit widerspiegelte.

Kyle und Jeremy waren Weltverbesserer und Ungerechtigkeiten ließen sie nicht eher ruhen, bis sie unterbunden und bestraft worden waren.

Diese Einstellung fehlte dem Rest des Ka-tets, und wer weiß, dachte Kyle, vielleicht hätten Männer - und Frauen - wie Ray, Mariah und er es waren, niemals Revolvermänner werden dürfen.

Aber was zählte das nun schon noch?

Alles war ka gelaufen. Jeremy war kein Revolvermann geworden und Kyle hatte Garedt offenbar auch nur durch Hinterlist schlagen können . . . Arthur unterbrach sich selbst. Er musste Acht geben, sie teilten Khef - ihre Gedanken.

»Also wenn ihr mich fragt reiten wir noch heute Nacht weiter.« sagte Raymond schließlich. Er hatte sich im Schneidersitz aufgesetzt und sein Gesicht war wieder finsterer geworden.

»Es gefällt mir hier nicht und dieser Mann - dieser Martyne -, ich trinke ein großes Glas Wasser aus dem Brunnen, wenn er nicht mit dem Teufel im Bunde steht.«

Arthur wollte etwas sagen, wollte Ray auf die Nutten ansprechen, doch es war längst egal. Zu spät für andere Zeiten als die herrschende Sekunde. Sie hatten alle nicht mehr lange, ob sie nun weiterritten, oder Martyne glaubten und sich ihrem Ka stellten.

Er sah wieder zu Mariah hinüber. Sie blickte starr ins Leere.

»Wir hätten ihn töten sollen.« flüsterte sie schließlich.

Kyle nickte entschieden: »Wenn ihr mich fragt, ist es dafür noch nicht zu spät. Martyne arbeitet für John Farson, das ist für mich sicher. Und er ist böse. Furchtbar böse.«

Doch Arthur schüttelte entschieden den Kopf. »Habt ihr nicht gehört, dass er die Wahrheit gesagt hat? Ich glaube nicht, dass er gelogen hat, als er uns über unser Ka und diesen Ort hier erzählte.«

»Aber er hat gelogen, als er über diesen Revolvermann berichtet hat.« unterbrach ihn Mariah. »Das hat er doch, oder Art?«

Arthur überlegte einen Moment. »Ich denke auch.« sagte er schließlich. »Ich glaube er hat Angst vor diesem Mann.«

»Roland.« ergänzte Mariah.

Arthur sah verdutzt auf.

»Kennst du ihn?«

Mariah lächelte. »Ich kenne seine Geschichte.« sagte sie rätselhaft.

»Und glaubst du, er würde die Welt zerstören?« fragte Arthur, es sollte komisch klingen, misslang aber gänzlich. Seine Worte lagen schwer in der miefigen Luft der Scheune.

»Die Welt ist schon zerstört.« sagte Mariah, ihr Stimme klang fest, doch dahinter lauerten Tränen. »Das einzige, um das es noch geht, ist wer sie wieder aufbaun darf.«

»Hat er euch gesagt, was uns hier erwartet?« fragte Kyle unvermittelt. Er schaute unbehaglich in die Schatten, die sich in den Ecken der Scheune und dem Dach zusammenballten.

Arthur schluckte.

»Ay.« sagte Mariah übergangslos, fast eilig. Sie wollte sie nicht anlügen und Arthur verspürte einen plötzlichen und sehr eindringlichen Anflug von tiefer Zuneigung für das dunkelhaarige Mädchen.

»Nun.« er suchte einen Augenblick nach den richtigen Worten. »Er sagte, dass wir hier kämpfen werden.«

Kyle und Raymond nahmen es gelassener auf, als er gedacht hatte, ihre Gesichter blieben wie in Stein geschlagen.

»Er sagte nicht gegen wen, aber bitte, ihr habt die Dorfbewohner gesehen. Lasst Nacht sich wie Masken über ihre Gesichter legen und sie werden angreifen.«

»Dann reiten wir jetzt!« unterbrach Kyle ihn stürmisch. »Jericho zählt auf uns. Wir müssen es schaffen.«

Doch Mariah schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

»Martyne sagte, dass unser Kampf hier fast gleichbedeutend mit dem Kampf um Jericho sein wird.«

Kyle lachte spöttisch auf, dann blickte er Mariah aus großen, ungläubigen Augen heraus an. »Glaubst du das etwa? Wenn dieser Mann für John Farson arbeitet, dann musste er das doch sagen, als er merkte, dass wir nicht umkehren würden. Es sind Bauern, Darling. Mindere Teufelsgrasfresser.«

Mariah erwiderte den Blick unergründlich und nach einem kurzen Moment senkte Kyle unterwürfig den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass er für Farson arbeitet.« sagte Arthur. »Habt ihr gehört wie er klang, als ich ihn das fragte? Es war als würde er sich wirklich köstlich darüber amüsieren. Es war nicht dieses kalte, hochmütige Lachen, das er die ganze Zeit wie einen schiefsitzenden Bart aus Wolle mit sich herumtrug. Es war echt.«

»Und was soll das heißen?« fragte Raymond.

»Das soll heißen, dass er durchaus was mit dem Guten Mann am Hut hat, aber wir dürfen uns nicht von der Idee blenden lassen, er wäre nur darauf aus Grissom einen Vorteil bei Jericho zu verschaffen.«

»Sondern?«

»Hier waltet Großes, merkt ihr das nicht?« Sein Ka-tet blickte unwohl in die Dunkelheit, niemand suchte Blickkontakt. »Ihr merkt es. Und Martyne sagte die Wahrheit, als er uns unser Ka weissagte. Es ist jetzt nur an uns zu verstehen.«

»Ob es um Roland geht?« fragte Mariah.

»Das hast du doch gehört.« sagte Arthur. »Er spielt zumindest eine große Rolle. Ich glaube, dass Martyne nichts gegen ihn machen kann, weil er aus irgendeinem seltsamen Grund über dem Ka steht.«

»Aber wenn Martyne Roland töten will, dann muss er nur dafür sorgen, dass Gileads Männer bei Jericho untergehen.« sagte Kyle.

»Das werden sie so oder so.« warf Raymond ein und Kyle schleuderte ihm einen zornigen Blick zu.

»Ich glaube nicht, dass Martyne das könnte.« antwortete Arthur.

»Weil er Ka nicht beeinflussen kann?« fragte Mariah.

»Genau. Er kann es nur benutzen.«

Kyle schnaubte wütend. »Aber genau das tut er, wenn er uns sagt wir sollen umkehren, fliehen wie Lämmer vor dem Wolf. Genau das tut er, wenn er hier seit zwei Monaten hockt und es jedem unserer Brüder sagt. Wenn er es schaffte sie zum Rückzug zu bewegen, nur einige.«

»Damit hat er auch gelogen.« sagte Raymond, es klang überzeugt. »Kein Ritter Gileads verrät sein Land im Angesicht des Todes.«

»Vielleicht hat er jedem, der hier durchkam das Gleiche erzählt.« mutmaßte Kyle.

Arthur blickte verblüfft auf. »Das . . . das wäre möglich.«

»Und wenn er das tut«, führte Mariah den Gedanken weiter, »Lügt er dann?«

Die Vier schwiegen. Trennten sich für einen Moment voneinander. Khef zerfiel und aus dem Kollektiv wurden Individuen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Nach einer Weile, sie waren nun seit annähernd zwei Stunden in diesem Schober, erhob sich Kyle.

»Macht was ihr wollt.« sagte er. »Ich kneif nicht, wenn sich in Jericho das Schicksal der Menschheit entscheidet. Ich reite. Sofort.«

Mariah griff nach Kyles Hosenbein und blickte kläglich zu ihm auf. Kyle streifte ihre Hand ab und drehte dem Ka-tet den Rücken zu. Er stand nun genau vor der Leiter, die vom Heuschober in die Scheune hinabführte.

»Ich glaube er hat recht.« sagte Raymond. »Wir reiten. Wenn stimmt was Kyle denkt, ist jede Sekunde die wir hier bleiben, eine weiterer Schritt in die falsche Richtung.«

Entschlossen stand Arthur auf und trat hinter Kyle.

»Martyne will uns hier halten, Gott weiß warum. Aber es ist nicht nur Martyne -« sagte er und legte seinem alten Freund eine Hand auf die Schulter. Kyle holte tief Luft, ließ die Berührung aber zu. »Ich habe das Gefühl, dass es hier endet.«

Nun erhob sich auch Raymond.

»Du bist ein Revolvermann.« sagte er. »Fühlen war nie unsere Stärke.«

Arthur lächelte müde. Bin ich das? wollte er fragen, stattdessen bemühte er sich um eine entschlossen klingende Stimme. »Reiten wir.«

 

 

2

 

Die wollten Lean Grange genauso verlassen, wie sie diesen unheimlich Ort der Verdammnis betreten hatten: Leise und unauffällig.

Doch der Junge machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

»Damit kommen wir nicht mal bis zu den Bergen.« sagte Raymond, als er einen Blick auf den kärglichen Proviant warf, den Mariah, Arthur und er gerade mit dem übrigen Zwiebelmet, den Streifen Dörrfleisch und etwas grauem Brot aufstockten, das der Junge ihnen gebracht hatte, und Arthur wollte gerade leicht entnervt das große Unwort Ka beschwören, da unterbrach Kyle ihre Vorbereitungen. Er war draußen gewesen, um nach den Pferden zu sehen - deren Zustand nicht besonders gut gewesen war und die sich nur noch mühsam und halb verdurstet auf den Hufen gehalten hatten - und kam jetzt hektisch die Holzleiter herauf.

»Jemand kommt.« keuchte er außer Atem.

Mariah und Raymond zogen gleichzeitig ihre Revolver. Arthur reagierte überhaupt nicht, er sammelte bloß weiter den restlichen Proviant zusammen und band ihn in die Leinentücher. Er tat es mit ruhiger Hand, fast stoisch.

Mariah trat neben ihn. Einen Moment musterte er ihre Stiefelspitzen, dann sah er zu ihr hoch. Ihre Züge wirkten entspannt und wachsam zugleich. »Art, ich glaube, es geht los.«

Er richtete sich auf, reichte jedem seiner Gefährten einen der Gunnabeutel und griff dann stockend nach seinen Waffen. Er kam sich dabei vor wie ein alter Mann und allein der Gedanke schmerzte ihn. Seine Hände zitterten nicht, aber die Waffen darin fühlten sich fremd und unhandlich wie selten zuvor an. Raymond beobachtete ihn missbilligend und plötzlich war Arthur sehr froh, dass es dem Ende entgegen ging.

Er war nicht ihr Dinh, war es nie gewesen, doch niemand hatte das je verstehen wollen. Jeremy war dazu bestimmt gewesen und der Tag seiner Verbannung war vielleicht schon das Ende ihres Ka-tets gewesen.

»Es ist der Junge.« sagte Kyle überrascht, als sie unten Schritte vernahmen und er an den Rand des Schober trat.

»Was tun wir?« fragte Mariah und sah Arthur an. Er erwiderte stumm den Blick, spürte wie Zorn gegen diese wunderschöne Frau in ihm aufstieg und verkrampfte seine Finger um die Griffe der Revolver. Er durfte sie nicht hassen und doch wuchs das Bedürfnis danach in ihm. Er wollte sie alle hassen. Für ihre Sünden, seine und die Große Lüge, die Ka-tet geworden war, weil sie alle Geheimnisse gehabt hatten.

Warum fragst du mich das? wollte er gereizt brüllen. Ich bin nicht euer capitan. Schon vergessen?

Raymond trat neben ihn und stieß ihm einen spitzen Ellbogen in die Seite. »Reiß dich zusammen.« zischte er nachdrücklich.

Das genügte. Die Welle verbrandete vorerst und seine Gedanken klärten sich etwas.

»Lasst ihn hochkommen.«

Sich nähernde Schritte - die Leiter quietschte - Keuchen, Schnaufen - dann ein Gesicht - was für ein Gesicht!

Der Junge war nicht wiederzuerkennen.

Sein Gesicht war unter unvorstellbaren Qualen verzerrt, die sich kaum erklären ließen und schimmerte grünlich orange im Licht der Öllampen. Er ist voll drauf, versicherte Arthur der Teil seines Verstandes, der bei einer Schießerei die Kontrolle übernahm. Der abwägende, präzise und kalte Teil.

Hab Acht.

Und zum ersten Mal, seit Arthur das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte den Jungen kennen zulernen, fragte er sich, wie der eigentlich an Teufelsgras kam. Diese seltsamen, zombieähnlichen Bewohner der Stadt schienen von allem abgeschnitten. Es gab hier weder Bier, noch frisches Wasser und auf den schäbigen Feldern, an denen sie vorbeigeritten waren, schien seit Jahren nichts mehr gewachsen zusein, auch wenn ihr Geruch in der Stadt hing wie Nebel.

Teufelsgras war die Droge armer Männer, doch die Menschen hier draußen waren nicht arm, sie waren gottverlassen. Es gab hier nichts. Kein Wachstum, keine Evolution . . . kein Leben.

Das Gras wuchs nicht in solchen Gegenden und Arthur war sich plötzlich ziemlich sicher, dass der Junge für den Mann in Schwarz arbeitete, dass wahrscheinlich das ganze Dorf für ihn arbeitete. Im Falle des Jungen, bekam der von ihm was er brauchte, Graaaas. Und was bekamen die anderen? Lebensmittel? Frisches Wasser? Vielleicht Feuerwaffen?

Er schauderte.

Als der Junge die vier Revolvermänner sah, die mit gezogenen Waffen einen Halbkreis um das Leiterende bildeten, grinste er sein breites leuchtendgrünes Grinsen. Doch es schimmerte keine Angst mehr darunter und das gefiel Arthur nicht sonderlich. Angst war gut, Angst war menschlich.

»Ich bring euch noch waaas.« gibbelte er.

»Mach schön langsam, Kleiner. Sonst fällst du noch.« sagte Kyle, seine Augen waren hart und klar. Der Junge ignorierte ihn, er starrte Arthur fast liebevoll an.

Lichtmenschen, dachte Arthur ironisch, doch er konnte nicht lächeln. Etwas schnürte ihm die Kehle zu.

»Für frisches Wasser wären wir dankbar.« sagte er und entspannte sich etwas. Dieser Junge war wahnsinnig, doch Arthur glaubte auch, dass keine Gefahr von ihm ausging. Er schien völlig am Ende.

»Jaa-ah.« Der Junge erklomm mühsam die letzten Sprossen der Leiter und war auf dem Schober. Gebeugt hielt er sich den Bauch und betrachtete bezaubert seine nackten, schwarzen Füße. »Waaasser. Frisches.«

Dann schnellte sein Kopf hoch.

Sein Gesicht war vom Rausch umwölkt und glich einem einzigen Schlachtfeld. Unkontrollierte Emotionen schwappten darüber wie Armeen und trotz aller Anstrengung, gelang es dem Jungen nicht dieser steten Fratze Herr zu werden.

»Aaaber nicht jetzt.« Eine Pause »Jetzt haaabe ich Wichtiges.«

»Und das wäre?« Kyle klang ungeduldig.

»Eine Nachricht vom Lebenden.« Plötzlich war die Stimme des Jungen ruhig, anders, gefühllos. Martyne spricht durch ihn, war Arthurs erster erschrockener Gedanke, doch er verwarf ihn, als er sah, wie dem Jungen Schaum zwischen den Lippen hervortrat und seine dunklen Pupillen plötzlich und krampfhaft hinter seinen flackernden Lidern nach oben schnellten.

Der Junge zuckte spastisch, dann ging er in die Knie. Raymond und Arthur steckten hastig ihre Waffen zurück in die Halfter und waren mit einem Schritt bei ihm.

Kyle und Mariah beobachteten sie besorgt. »Passt auf.«

Raymond lachte auf. »Er stirbt.«

»Zuviel Gras.« vermutete Arthur, beugte sich vorsichtig über den Jungen und suchte nach Leben in dessen bebenden Augen.

»Sag, weshalb du hier bist. Sag, welche Nachricht du uns bringst, was will Martyne noch?«

Mit einem Ruck beruhigte sich der Junge wieder halbwegs.

Er würgte einen mundvoll Gischt hervor, spuckte sie aus und sah Arthur verstört an. »Martyne?«

»Sag, was er will.« forderte Raymond ruhig und beugte sich ebenfalls über den Jungen. Die Augen des Jungen rollten in Raymonds Richtung, sein Atem ging röchelnd. Schweiß troff ihm von der Stirn, dann lächelte er.

Es war teuflisch. Der Junge war tot, das wusste Arthur da. Dieses Lächeln und das bisschen Gute im zerstörten, speichel- und schweißnassen Gesicht des Jungen, zuckten darüber wie Signalfeuer, aufgestellt von Piraten, an einer felsenzerklüfteten Küste, bei stürmischer Nacht. Falsch und gefährlich.

»Er saaagt, ich soll euch daaaas bringen.« seine linke Hand, verborgen hinter dem Rücken, schoss nach vorne. »Den Tod in einer handvoll Sand!«

Dann geschah alles sehr schnell. Später würde Arthur glauben, dass keine fünf Sekunden verstrichen, ehe die Revolver wieder schwiegen, Blut floss und die Hölle ausbrach.

 

3

 

Es war tatsächlich nicht mehr als Staub, den der Junge in der Hand gehalten hatte und den beiden Revolvermännern jetzt ins Gesicht schleuderte. Doch es reichte aus, um Raymond und Arthur für eine Sekunde zu blenden. Eine Zeitspanne, die dem Teufelsgras-Jungen, der plötzlich von einer geheimnisvollen Energie beflügelt schien, genügte.

Er war bewaffnet und es war reine Fahrlässigkeit, dass keiner der Revolvermänner es bemerkt hatte - nicht mal Kyle, der den Jungen hatte kommen sehen.

Er hatte sich zwei rostige Sicheln am Rücken festgeschnallt und nachdem er den beiden Revolvermännern den Dreck ins Gesicht geworfen hatte, zog er blank.

Arthur brauchte nicht mehr als Schemen zu erkennen, um zu wissen, dass der Junge mit dem Schnitterwerkzeug umzugehen wusste.

In einer gekrümmten Haltung hockte der Junge vor den beiden, auf dem Hosenboden sitzenden Männern, irre lachend und weit genug geduckt, um Mariah und Kyle kein freies Schussfeld zu bieten. Dann ruckte er nach vorne und war über Raymond.

Gerade als sich Arthurs Blick wieder klärte, zischten die Sicheln wie bronzene Blitze durch die schwere Luft, zerteilten sie und trafen Raymond, der eine Hand abwehrend in die Luft gerissen hatte und mit der anderen vergeblich an seinem Holster herumfingerte.

So nutzlos und stumpf die Waffen auch wirkten, umso schrecklicher walteten sie ihres blutigen Werkes. Mühelos schnitt eine der Sicheln in Raymonds Unterarm, zertrennte Gewebe, Muskeln und Knochen wie fauliges Obst und trat wieder aus, noch ehe Raymond reagieren konnte.

Blut spritzte, aber es war nicht viel. Arthur kannte die Reaktion des Körpers, den Schockzustand, das betäubte Gefühl. Tot und fremd fiel Raymond sein eigener Unteram in den Schoß. Raymond erstarrte, seine Pupillen weiteten sich und ein stummer Schrei formte sich auf seinen Lippen, während der Junge mit der anderen Sichel und tödlicher Präzision schon nach Raymonds Hals ausholte.

Nun tu doch endlich was! Unbeholfen stürzte Arthur nach vorne, warf sich gegen die Beine des Jungen und brachte ihn so - immerhin - aus der Balance.

Aber die Zeit, die er Raymond damit verschaffte, währte nicht länger als einen weiteren abgehackten Atemzug. Der Junge machte einen tapsigen Schritt nach vorne, ruderte mit den Armen, kreischte zornig und verlor das Gleichgewicht. Doch noch während er Raymond entgegenstürzte riss er eine der Sicheln - die blutige - in die Höhe und wie eine herabstürzende Guillotine versank sie gierig in Raymonds Brustkorb, blieb stecken, als der Junge ruckhaft daran zerrte und bohrte sich schließlich noch tiefer in die Eingeweide des Revolvermannes, als es sich der Junge anders überlegte und sich tobend gegen den Griff der Waffe warf.

Das Schlimmste an all dem aber war, dass Raymond nicht starb. Röchelnd und mit letzter Kraft stieß er den dürren Jungen von sich, tastete mit der unversehrten Hand nach dem Griff der Sichel und betrachtete dann mit distanzierter Neugierde den anderen blutenden Armstumpf.

Der Junge, der nach hinten gestürzt war und sich nun wiehernd auf dem Rücken wälzte, noch immer eine der rostigen Sicheln in der Hand, versuchte sich wieder auf die Beine zu kämpfen.

Und endlich erwachte Arthur aus seiner Erstarrung. Mit einer geschickten Bewegung war er auf den Beinen, hatte gleichzeitig seine Fünfundvierziger aus den Holstern gerissen und war über dem Jungen, der sich noch immer erbärmlich auf dem Rücken wand und Arthur aus grünen, irren Augen heraus anstierte. Wie von Sinnen fuchtelte er geifernd mit der verbleibenden Sichel vor seinem Gesicht herum.

Mit einem Tritt brach Arthur das Handgelenk des Jungen wie trockenen Reisig entzwei und endlich ließ der die Sichel schluchzend auf seine Brust fallen.

Arthur hielt einen kurzen Moment inne, warf einen Blick auf Raymond, der in sich zusammengesunken war und das Bewusstsein verloren zu haben schien, dann spannte er geschäftsmäßig die Hähne seines Revolvers, richtete sie auf das Gesicht des Jungen und drückte ab.

Ein Feuerstoß und das eben noch wutverzerrte Gesicht des Teufelsgras-Jungen zerbarst, ein letzter gewaltiger Krampf und das Leben entwich aus ihm.

Phlegmatisch betrachtete Arthur, die Sichel auf der Brust des Jungen, seine Augenhöhlen, die nur noch blutige Schluchten waren und seine Lippen, die in einer versonnenen Liebeserklärung an das Gras und den Lebenden zu einem letzten, schaurigen Lächeln verzogen waren.

Er ist harmlos, nicht? zischte ihm ein hassgeifernder Teil seines Verstands zu. Haaarmlos!

»Sie kommen! Helft mir!« Es war Kyle, der Arthur wieder aus der Lethargie riss, in die er sich verloren hatte, nachdem er dem Teufelsgras-Jungen zwei Kugeln ins Hirn gepustet hatte.

Wie von Dämonen gehetzt, warf sich Arthur herum und eilte zu Raymond, der blutbesudelt und den amputierten Armstumpf in der Hand haltend, in sich zusammengesunken auf dem Boden lag und flach atmete.

»Schafft er’s?« fuhr Arthur Kyle an. Es klang fordernd und Arthur hasste sich dafür.

»Ich glaube nicht - Lass sie stecken.« sagte Kyle, als Mariah eine Hand auf den Griff der Sichel legte, die aus Raymonds Brust ragte.

Mariah stockte. »Sie wird ihn töten.«

»Das wird sie. Aber wenn du sie rausziehst, stirbt er sofort.« Kyle wirkte zerstreut und als Arthur in die Stille lauschte, die sich wie ein Leichentuch über sie gelegt hatte, wusste er auch warum. Von draußen waren Menschen zu hören.

Viele Menschen.

»Tötets für den Lebenden!« schrie jemand. »Bringts ihr Blut!«

Mariah trat an eine Spalte in der Scheunenwand und spähte hindurch. Ihre Stimme klang gehetzt, als sie sprach: »Es sind viele. Herrgott, wo haben die sich alle versteckt?«

Kyle trat neben sie, stieß sie beiseite und sah selbst in die Nacht. »Wir müssen hier raus -« sagte er, dann unterbrach ihn ein lautes Poltern, als etwas von außen gegen die Scheune schlug. Kyle wirbelte herum und starrte erst Raymond und dann Arthur, der sich daran gemacht hatte, Raymonds Wunden notdürftig abzubinden, verzweifelnd an. »Sie haben Fackeln!«

»Wir können ihn nicht hier lassen.« sagte Arthur und deutete auf Raymond, der wieder halb zu sich gekommen schien und unzusammenhängende Worte faselte. Sie handelten von Ka, vom Jesusmenschen und - Arthur verzog beim Klang von Raymonds erschöpfter, fremder Stimme das Gesicht - vom Lebenden.

»Das müssen wir!« Mariah war schon bei der Leiter und machte sich an den Abstieg, während Kyle Raymond hilflos anblickte.

»Helft . . . mir . . . hoch.« Raymond.

Bestürzt hielt Mariah inne. »Ray?«

Arthur riss die Augen auf, als er sah wie sich der entstellte und aus den zwei tiefen Wunden blutende Revolvermann auf die Beine kämpfte. »Helft mir nur hoch . . . den Rest . . . pack ich schon« Kyle trat neben ihn und stütze ihn, als er schwankend zu stürzen drohte.

4

 

Es war eine geradezu unerträgliche Belastung, dem schwer verletzten Revolvermann vom Schober zu helfen und trotz Kyles Halt stürzte Raymond das letzte Stück der Leiter und landete vor Schmerzen schreiend im Stroh. Sofort waren alle drei um ihn und halfen ihm wieder auf, doch sie lasen keine Hoffnung in seinem Gesicht.

Raymonds verbliebenen Arm stützend warf Arthur einen gejagten Blick durch eines der Scheunenfenster, durch die der rötliche Schein unzähliger Feuer flackerte.

Es war den Dorfbewohnern bis jetzt nicht gelungen eine ihrer Fackeln durch eins der scheibenlosen Fenster zu werfen, doch sie gaben sich ernstzunehmende Mühe, und zielten immer besser.

Beharrlich polterten die Wurfgeschosse gegen die Scheune und hallten schrille Schreie durch die Nacht. Ein unheimlicher Kanon.

»Hört mir zu . . .« Raymond, mit sterbender, zum Ende hin brechender Stimme. »Mariah, beim Gesicht deines Vaters, hör mir zu . . . « Arthur trat ein Stück zurück und Mariah ergriff wortlos Raymonds anderen Arm. Währendessen Kyle zum geöffneten Tor eilte und in der gleichen Bewegung seine Schießeisen zog. Er verharrte kurz, spähte in die Nacht und drückte zwei Mal auf gut Glück ab.

Wie Peitschenhiebe schlugen die Schüsse durch die Nacht, dann kam er zurück.

»Verschafft uns vielleicht Zeit.« murmelte er.

»Die Nutten . . . « Raymond stieß ein rasselndes Lachen aus, das klang als schütte man eine handvoll Murmeln in eine Blechdose. »Mariah.«

Ihre Haltung versteifte sich etwas.

»Ich war ein Kind, glaub mir. Und . . . du hättest mich damals nicht wiedererkannt.«

Er hustete einen scharlachroten Schwall Blut und Mariah sah betrübt zu ihm auf.

»Nicht, Ray.«

Doch er schüttelte den Kopf. »Ist nicht schön so was mit sich rumzutragen, Kleines.«

»Ray, es ist nicht die Zeit für Buße.« Kyle, doch er hörte sich nicht sarkastisch, sondern geduldig an. Wissend vielleicht, dass doch die Zeit war. Die Zeit für sie alle gekommen war.

»Ich war dreizehn, an der Schwelle zum Mann. An diesem Tag beschloss ich diese Schwelle zu überschreiten. Die Nutte hat’s herausgefordert.« Ein um Verzeihung heischender Blick zu Mariah, doch ihr Gesicht blieb unbewegt. »Sagte, sie macht’s nur mit mir, wenn ich doppelt zahl. Ich sei ihr viel zu hässlich und zwei Jahre zu jung. Es war demütigend. Aber ich war noch kein Revolvermann, was mir später so einige Schenkel spreizen sollte, also zahlte ich.« Eine beklemmende Stille war nach Kyles Bleiarie eingetreten und die drei Revolvermänner hingen gleichsam angewidert, wie gebannt an Raymonds blutbefleckten Lippen.

Arthur glaubte nicht, dass Raymond schon jemals aus freien Stücken so viel von sich Preis gegeben hatte.

»Sie hat mich geritten, als hätte ich Lepra. Abgestoßen und lachend zugleich. Mariah, sie hat mich verspottet und ich war zornig. Zornig und schwach.«

Mariah hatte die Augen geschlossen, jedes Wort schien sie wie eine Ohrfeige zu treffen.

»Sei ruhig, Ray. Bitte.«

Arthur gab ihr Recht. Er wollte das nicht hören.

Jeder von ihnen hätte sein Geheimnis mit in sein frisch ausgehobenes Grab nehmen müssen. »Ich würgte sie . . . aus dem Lachen wurde Stöhnen . . . aber nicht die Art von Stöhnen, das man sich bei Frauen erwünscht.«

Kyles Lippen umspielte ein Lächeln, doch es wirkte ungläubig und angeekelt.

»Sie starb über mir und als ich mich unter ihr hervorgekämpft hatte, war da diese Zweite. Sie war auf das Schreien aufmerksam geworden . . . und ich in Panik.« Er machte eine Pause, spuckte Blut ins Heu, hielt sich den Bauch und blickte plötzlich und erstarrt vor Angst auf. »Ich . . . glaube . . . der Schmerz

. . . kommt.«

Arthurs Verstand blockierte diese Tatsache sofort.

»Oh mein Gott.« entfuhr es Mariah.

Ein Körper konnte, durfte, diesen Schmerz nicht ertragen!

Doch Raymonds Körper gab sich alle Mühe.

Es raffte ihn auf ein Knie nieder und als er weitersprach konnte man ihn kaum noch verstehen, er weinte. »Es ging . . . damals alles . . . so schnell . . . « Er krallte sich mit seiner verbleibenden Hand an Mariahs Poncho fest und sah mit tränenden, fiebrigen Augen zu ihr auf.

Sie blickte traurig zu ihm herab, löste behutsam seinen Griff und trat einen Schritt von ihm weg. Eine abweisende Geste.

Da klärten sich ein letztes Mal Raymonds Augen. Er richtete sich auf. »Schätze . . . es ist Zeit.«

Mühselig griff er nach einer Smith and Wesson, zog sie aus dem Halfter und suchte dann noch einmal die Blicke seines Ka-tet.

Zum letzten Mal teilten die vier Khef. Es tut mir so leid, Art. Kyle. Erflehe deine Verzeihung, Mariah.

Dann ging ein Ruck durch den Mann, der das Gesicht seines Vaters vergessen hatte, lange bevor ihm die Waffen seiner Ahnen überreicht worden waren und er humpelte durch das Tor.

Die Nacht verschluckte ihn augenblicklich.

Sekunden später zerriss Raymonds Stimme ein letztes Mal die Dunkelheit.

»Heil! Heil Gilead!«

Und dann Schüsse.

Ein einhändiger Berserker, eine Sichel in der Brust, fast tot, eröffnete das Feuer.

 

5

 

»Los jetzt, Revolvermänner. Bei euren Vätern!« Arthur warf keinen Blick zurück, als er losstürmte und nur Schritte und die altvertrauten Geräusche von schweren Kalibern, denen Luft verschafft wurde, verrieten ihm, dass Kyle und Mariah ebenso wie er gewillt waren, Raymonds Opfer nicht umsonst gewesen sein zu lassen.

Sie hatten die Pferde am Zaun der niedergebrannten Hazienda fest gemacht.

Ohne nachzudenken.

»Ich töte jeden einzelnen von diesen gottverdammten Schwanzlutschern.« murmelte Kyle, als sie vor der Scheune ins Stocken gerieten.

Ein Haufen von vielleicht hundert oder mehr Dorfbewohnern hatte sich mit brennenden Fackeln genau dort, wo sie die Pferde zurückgelassen hatten, zu einer formlosen Schlachtordnung zusammengerottet.

Ein einziger Blick auf die Überbleibsel verriet Arthur, dass sie keines der Tiere mehr reiten würden.

Als die Menge auf die drei Revolvermänner aufmerksam wurde, die es plötzlich nicht mehr eilig hatten, stieß sie wie ein Mann einen raunenden Ruf aus.

Es klang wie Neuzehn.

Soweit Arthur es erkennen konnte, war ganz Lean Grange zusammengekommen und er konnte die im Fackelschein zitternden Fratzen von Männern, Frauen und sogar Kindern erkennen.

Und in jeder Hand einen Holzknüppel oder ein Messer.

Raymond, und Arthur glaubte, sogar die Pferde hatten fürchterlich unter den Dorfbewohnern gewütet. Ein Dutzend, vielleicht mehr, Männer und Frauen lagen erschlagen oder erschossen zwischen der Menge, ihre Gesichter selbst im Antlitz des Todes zu entwürdigenden, geistesgestörten Grimassen verzerrt.

Und als Arthur das sah, begriff er, dass es keinen Rückzug, kein Erbarmen, keine Rettung geben würde. Nicht für die Dörfler und nicht für die Revolvermänner.

Als der hirnverbrannte Menschenauflauf schwankend in Bewegung geriet, reagierten alle drei Revolvermänner automatisch und ohne weiteres Zögern.

Wie auf ein Kommando donnerten sechs Revolver ihre bleischwere, atonale Musik in den Nachthimmel. Zwei Männer, zwei Frauen und ein Kind fielen in den Staub und wurden sofort vom nachrückenden Pöbel überrannt.

Mit einem Mal war die Luft voller Stöcke, die auf sie herabregneten oder vor ihnen nieder gingen, doch mit eisernen Mienen ballerten die drei Revolvermänner weiter.

Feuerten eine zweite Salve in die Reihen, und Männer starben, stürzten über Kinder und begruben sie unter sich.

Ein vertrauter Zorn überschwappte Arthurs Gedanken. Eine kalte Blutgier, schaltete einmal mehr sinnverwirrend seinen Verstand aus.

Dann waren die ersten heran.

Ein Mann im Overall schlug mit einem Stück Holz, durch das ein Nagel getrieben worden war, nach ihm. Er traf Arthurs Arm, ehe dieser ihn, mit einem einzigen Schuss ins Gesicht, mehrere Meter von sich wegpusten konnte. Platschend landete der Mann im Schweinetrog.

Mariah stöhnte neben ihm vor Schmerzen auf, als ihr ein Kind mit zerschossenen Knien, noch ein Messer durch die Stiefel treiben konnte.

»Neunzehn!« schrieen einige und es regnete wieder Stöcke.

Kyle war plötzlich neben ihm.

»Scheint als ende es doch hier.« brüllte er gegen die donnernden Revolver und schreienden Irren an. »So sei es!«

»Mariah zu mir!« rief Arthur über den Kopf einer zu Boden sinkenden Frau hinweg und schoss, als ein alter Mann mit grauen Haaren heran war. Sie warf ihm spöttisch eine Kusshand zu und war bei ihm.

Schulter an Schulter standen sie nun da, vor sich brandend ein Meer von Zombies.

Zusammen ballerten sie sich eine Gasse durch die Mitte und stürmten los, während Menschen zu Boden fielen.

In jahrelang antrainierter Koordination lud Arthur seine Revolver mit fliegenden Fingern nach, während Mariah und Kyle ihm den Rücken frei hielten.

Und mit grauenhafter Sicherheit fanden fast alle Kugeln ihr Ziel.

Mit einem Mal waren sie mitten zwischen ihnen, da wo das Herz dieser Masse schlug. Dutzende umkreisten das Ka-tet, schlugen, schnitten, verletzten, starben. Ihre Gesichter waren fanatisch und doch furchtbar ausdruckslos, kein Zögern in ihrem Amoklauf, obwohl jeder abgefeuerte Schuss lebenswichtige Organe zerstörte und die Patronengürtel prall gefüllt waren.

Ein Messer drang in Arthurs Oberschenkel und blieb wippend steckend, er bemerkte es, lachte und schoss den Täter, mit Bartstoppeln und Schweißflecken unter den Achselhöhlen, über den Haufen.

»’S sind genug für alle da!« schrie Kyle in irrsinniger Euphorie.

Es waren viel zu viele. Ihre Munition schrumpfte verheerend schnell und für jeden Mann, den sie erschossen, füllten einen Augenaufschlag später zwei andere seine Lücke.

Als die Munition verebbte, merkten es weder Kyle, noch Mariah, noch Arthur.

Nur die tollwütigen Bestien um sie herum schienen es zu spüren; sie rückten nicht weiter nach, stürzten sich nicht mehr auf die Revolvermänner, sondern drängten sich stattdessen in einem weiten undurchdringlichen Kreis um sie herum zusammen.

Rücken an Rücken feuerte das Ka-tet den letzten Rest ihrer Ladung in die zurückweichende Menge. Drei, vier, dann fünf weitere fielen, doch schließlich trafen Schlagbolzen nur noch auf leere Kammern. Trotzdem klickte das Geräusch der Niederlage noch fast ein Dutzend Mal durch die zum Leben erwachte Nacht, ehe Arthur mit wild klopfendem Herzen innehielt.

Neben ihm ließ Kyle schwer atmend seine Waffen sinken und er spürte wie sich Mariahs bebender Rücken fester an seinen presste.

Sie hatten vielleicht ein Drittel des Dorfes ausgelöscht. Grob überschlagen säumten dreißig Körper ihre Stiefel, zehn weitere lagen tot oder sterbend an der Scheune. Der Rest hatte einen dichten, pulsierenden Ring um sie geschlossen. Augen starrten sie, erfüllt von einem alles verzehrenden Feuer, gierig an.

Doch sie griffen nicht an.

»Na kommt schon!« Kyles Stimme, vor Anspannung fast berstend.

Verzweifelt spürte Arthur, wie der Zorn in ihm abflaute und einem endgültigeres Gefühl wich: Begreifen.

Sie würden fallen, ihr Ka-tet würde hier sterben. Nicht bei Ihresgleichen, sondern hier, auf dem staubigen Hof einer niedergebrannten Hazienda. Irgendwo fünfzig oder hundert Räder von Jericho entfernt. In einer Stadt, die den lächerlichen Namen Lean Grange trug.

Er verstand noch immer nicht mal die Hälfte von Martynes Worten und das war vielleicht das Schrecklichste.

War das ihr Ka und wenn ja, welchen gottverdammten Sinn sollte das machen? Für sie? Für alle?

Ein befremdliches Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Geräusch, das hier weniger hinpasste, als der liebliche Geruch von blühenden Zilanderlilien: Applaus.

Was zum-?

 

6

 

Als Bewegung in einen kleinen Teil der Meute kam und sie zurückweichend eine kleine Gasse zwischen sich bildeten, war Arthur erst nicht klar weshalb sie das taten.

Wären die in die Enge getriebenen Revolvermänner in diesem Moment losgestürmt, hätten sie es vielleicht schaffen können.

Erst dann sah er den Schemen.

Die Gestalt, die höhnisch in die Hände klatschend, am Ende der Gasse erschienen war.

Sie schien kaum größer als der durchschnittliche Lean Grange Bewohner, schaffte es aber dennoch sich so mühelos von dem mittlerweile fast ekstatischen Mob abzuheben, wie eine Rose aus einem Feld Kuhscheiße.

Der Mann machte auf Arthur einen auf schwer zu beschreibende Art eleganten Eindruck, was immer das in einer Welt, die in Bewegung geraten war, bedeuten mochte.

Unter einem langen Mantel, trug er einen zerschlissenen Blazer und eine schlichte, dunkle Lederhose.

Auf dem Kopf, etwas schief sitzend, hielt sich ein altmodischer Zylinder, an dem eine schwarze Feder steckte. Das Dämmerlicht der Fackeln verbarg weites gehend Mimik und Gesicht des Fremden, doch was Arthur erahnen konnte, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Das Gesicht war ausgemergelt und knochig, die Augen, in tiefen Höhlen liegend, betrachteten sie mit einem hochmütigen Glanz und Haarsträhnen, wie geflochtener Draht, rahmten das Gesicht wie einen aufgezogenen Vorhang ein.

Seine Haut schien weiß und glatt wie junges Pergament.

Genauer konnte und wollte Arthur das Wesen - sein Verstand weigerte sich hartnäckig ihn Mensch zunennen - nicht erkennen.

»Welche würdiges Finale.« Die Stimme des Mannes war hell und angenehm, sie klang anerkennend. Geradezu galant durchschritt er die Reihen seiner gleichgültig glotzenden, doch erregt raunenden Gefolgsleute und blieb vor dem, in die Enge getriebenen Ka-tet stehen.

»Ausgezeichnet.« sagte er dann. Die Feder, die Arthur für eine Krähenfeder hielt, wippte rastlos an seinem Zylinder.

Arrogant musterte er die drei.

»Wie außergewöhnlich jeder einzelne von euch ist. Ich salutiere.« Seine Stimme troff vor Ironie. Den Blick eisern in die Augen der Revolvermänner gerichtet umkreiste er sie. »Doch euer Weg endet hier. Er endet auf den Knien und vor mir.«

Als der Mann vor ihm stehen blieb, wimmerte Kyle kraftlos. »Kenne ich dich, Fremder? Sag woher kenne ich dich!«

Arthur wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass der Fremde bewaffnet war. Aus zwei selbstangefertigten Halftern, die er sich am Rücken festgebunden hatte, ragten die Griffe klobiger, abgesägter Schrotflinten.

Der Fremde trat näher an Kyle heran - hätte Kyle in diesem Moment nach seinem Messer gegriffen hätte er ihn erwischen können, doch Kyle tat nichts derartiges. Wie paralysiert starrte er in das Gesicht des Mannes, das Arthur noch immer nicht richtig erkennen konnte, weil es sich nur unklar von den Schatten abhob, die der Zylinder und die Nacht darauf bannten.

»Oh, mein Gott-« japste Kyle und dann brach er zusammen. Mit einem überraschten Ausruf war Mariah bei ihm und auch Arthur fuhr herum und kniete sich neben seinen Freund. Ein Schmerz durchzuckte ihn dabei grell lodernd und er musste sich auf die Zunge beißen um nicht aufzuschreien. Erst als Arthur bestürzt merkte, wie sein Bein blockierte, erinnerte er sich.

Das Messer.

Es hatte keine Hauptarterie getroffen, steckte aber tief in seinem Fleisch, etwas oberhalb der Kniescheibe und schien erwacht, seit Arthur es bemerkt hatte. Schmerz pulsierte plötzlich daraus hervor wie brennendes Öl.

Der Fremde kicherte und Mariah warf ihm einen finsteren Blick zu, der aber erstarrte und sich dann in einem entgeisterten Gesichtsausdruck verlief.

»Nayn . . . « keuchte sie.

Arthurs Augen tränten und er hatte sich nahe dem ohnmächtigen Kyle niedergelassen, seine Revolver lagen nutzlos geworden im Staub. Als er Schritte hörte blickte er auf.

Der Kreis aus Untoten hatte sich enger zusammengezogen und schien nur noch auf einen Wink des Fremden zu warten um einzugreifen. Jener stand nun genau vor ihm und als der Schmerz in einem neuerlichen Herzschlag in Arthurs Bein explodierte und er stöhnend nach dem Griff des Messers tastete, ließ sich der Mann neben ihm in die Hocke nieder.

»Ich werde dich umbringen.« stieß Arthur abgehackt hervor und wieder kicherte der Fremde.

»Könntest du das tun?« fragte er dann und es gelang ihm wütend und belustigt zugleich zu klingen. »Ay. Ich denke das könntest du. Aber glaube ich, dass du das wirst? Nayn, Sai. Glaube ich nicht.«

Und dann griff er nach Arthurs Kinn und zwang ihn damit, ihm genau in die Augen zu blicken, während die andere Hand des Mannes fast behutsam Arthurs Bein entlang tastete und schließlich den Griff des Messers fand und umschloss. »Art.«

Als Arthur endlich das Gesicht erkennen konnte, sich die Schatten wie fügsame Schergen zurückzogen, zerbrach ein Teil seines Verstandes fast augenblicklich.

Er spürte wie Speichel ihm den Mund zufüllen begann und eine dumpfe Übelkeit in ihm aufstieg.

Doch als er den Mund öffnete und zu sprechen begann, klangen seine Worte dennoch erleichtert: »Du«, flüsterte er. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Verbannten, umspielte sie auch noch, als die Hand an Arthurs Bein zur Seite ruckte und die Klinge sich in seinem Bein reißend drehte und Arthur spürte wie etwas warmes in Strömen an seinem Bein herunter lief.

Dann überkam ihn gnädige Schwärze.

Jeremy! war das letzte was er dachte.

 

 

 

7

 

Dies ist der Tod. Ist er es? Ist er es?

 

 

 

3. Strophe

Das Rad Schließt sich

 

1

 

Er war es nicht.

Das Dunkel um ihn herum geriet plötzlich ins Wanken und weckte unsanft das letzte Fünkchen Bewusstsein in ihm. Weit entfernt sah er einen schmalen, doch ungemein hell strahlenden Punkt weißen Lichts.

Steuer drauf zu!

Er zwang sich, und als es ihm endlich gelang sein Bewusstsein in Bewegung zu setzen, es durch die entseelten und wankenden Gänge seines Körpers zu treiben, immer dem Licht entgegen, war es als würde dieser kleine, rasende Geist einen Schweif aus Leben hinter sich herziehen, denn überall wo er vorbeikam, erweckte er tot geglaubtes Fleisch.

Dann konnte er die Augen öffnen. Seine Lider klebten aufeinander und erst schien die Dunkelheit nicht weichen zu wollen, doch dann spürte er, dass er die Augen geöffnet hatte und langsam gewöhnte er sich an die herrschende Finsternis.

Schmerz begrüßte ihn, doch er war milder, als er ihn in Erinnerung gehabt hatte, dann hörte er ein Geräusch plitsch platsch plitsch und wieder wurde er durchgeschüttelt.

»Art! Wach auf.«

Schnaufend richtete sich Arthur, die Augen sich zwinkernd an das Dämmerlicht gewöhnend, halb auf.

Kyle?

Er spürte spitze Kiesel, Steine, die ihm in den Rücken stießen, hörte wieder dieses feuchte plitsch platsch und wusste plötzlich wo er war.

In einer Höhle.

Ein Schlag traf ihn klatschend im Gesicht und er wurde wieder zurückgeworfen.

»Götterverdammt.«

»Erflehe deine Verzeihung. Bist du wach?«

Er war wach, doch was er sah gefiel ihm nicht. Irgendwer hatte sie in einem mannshohen Raum zurückgelassen, nicht gefesselt, aber das schien auch nicht nötig: Arthur erkannte keinen Ausgang.

»Wo ist Mariah?« fragte er, nachdem er sich mühsam wieder aufgearbeitet und sich die Augen mit den Handballen gerieben hatte, was immerhin bezweckte, dass er ihr Gefängnis etwas klarer erkennen konnte.

»Sie liegt neben mir. Ich weiß nicht was Jeremy mit ihr getan hat, aber sie ist wie tot. Ihr Puls ist verdammt schwach.«

Jeremy?

Und dann erinnerte er sich wieder. Erinnerte sich an dieses grausam entstellte Gesicht, unter dem sich, wie ein geheimnisvoller Zauber, noch immer die hübschen und ebenmäßigen Gesichtszüge ihres alten Dinhs verborgen hatten.

Jeremiah LeVries war der Name des Fremden gewesen und als Arthur das erkannt hatte, war alles nebensächlich geworden. Das Rad Ka hatte sich geschlossen.

Er hatte auch nicht mehr gemerkt, wie Jeremy das Messer in seinem Schenkel herumgerissen hatte. Er blickte an sich herunter, erinnerte sich, tastete mit vorsichtigen Fingerspitzen nach dem Griff der Klinge, fand sie nicht und atmete erleichtert aus, als er spürte, dass es jemand entfernt hatte.

Die Wunde, brüllend vor Empörung, war gewiss noch da, doch Arthur war Revolvermann und hatte gelernt Schmerz unterzuordnen.

In diesem Moment schien Bewegung in einen Teil der steinernen Wand zu geraten, die sie umgab. Anfangs kaum wahrnehmbar, erklang ein langsam anschwellendes Summen, während sich die Kontur des Steins schwärend zu verändern begann.

Einen Augenblick später trat eine schwarze, leicht gebückte Gestalt durch den festen Granit. Jeremy.

Erschrocken wichen Kyle und Arthur zurück, bis ihre Rücken gegen den Fels stießen.

Arthurs Körper durchzuckte eine Welle frischen Schmerzes, aber er ignorierte ihn, wollte sich hoch auf die Beine kämpfen und sich seinem Widersacher entgegenwerfen, doch ein Bein gab unter seinem Gewicht nach und er sank hilflos stöhnend zurück an die Wand.

Dann traten drei weitere Personen durch die Wand, die nur eine Illusion zu seien schien und statt hartem Granit jetzt eher einem perlmutschwarzen Wasserfall glich. Zwei Männer und eine Frau - einen der Männer erkannte Arthur als einen der Bestbesucher - nahmen mit ausdruckslosen Mienen hinter Jeremy Aufstellung.

Einzig ihre Augen brannten, erfüllt von einem fiebrigen, begeisterten Feuer.

Zwei der Männer waren mit einer Schrotflinte bewaffnet und als Kyle, der äußerlich unverletzt schien, sich aufgekämpft hatte, trat einer von ihnen mit einer erstaunlich agilen Bewegung vor und schlug Kyle den Kolben seiner Waffe gegen den Mund. Geräuschlos und beinahe friedlich ging der Revolvermann wieder zu Boden.

»Neunzehn.« begrüßte Jeremy Arthur und klang dabei hocherfreut. »Der Kreis schließt sich. Heute nacht.« Er schlug die Hände vor den Mund und kicherte wie ein kleines Kind zwischen ihnen hervor, dann wurde er wieder ernst. »Bringt sie zum Auge. Alle.«

2

 

Einer der Männer war nach vorne getreten und hatte den Lauf seines Gewehres bedrohlich gegen Arthur gerichtet. Doch als dieser nicht aufgestanden war und bloß stumm den Kopf geschüttelt hatte, als der Mann ihn mit einer Bewegung der Flinte zum Aufstehen auforderte, grunzte der Mann widerwillig, überreichte seine Waffe der Frau und half Arthur hoch.

Dann hatten die drei Männer, die zwar stumpfsinnig, aber auch stark wie Bären waren, die Revolvermänner einen dunklen Gang entlang geschleppt. Die Frau, die mittlerweile beide Schrotflinten hielt und Jeremy, der sich Raymonds Pistolengurt umgeschnallt hatte, waren ihnen stumm gefolgt.

Nun führten die Untoten das Ka-tet in eine Art Halle, die Arthur wie ein steinernes Zirkuszelt vorkam. Mehrere Reihen, jede besetzt mit etwa zwanzig raunenden, Dorfbewohnern, führten stufenförmig hinunter in eine zerfallene Manege, dessen Ende ein gigantischer, aus dem Fels geschlagener Altar bildete.

Ein Geruch von Alter und Vergangenheit, der Arthur an vergilbtes Papier und Staub erinnerte, lag in der Luft.

Und erst jetzt sah er die Leichen.

Es waren achtzehn, in einem Halbkreis um den Altar gebettet, ihre toten Augen starr in die Kuppel der Halle gerichtet. Und es waren Revolvermänner, einige schon in einem so starken Verwesungsstadium, dass ihre Gesichter kaum noch zu erkennen waren.

Aber es waren Revolvermänner. Arthur meinte sogar zwei, dann drei von ihnen wiederzuerkennen.

»Bringt sie runter.« forderte Jeremy und eilte an ihnen vorbei die Treppen herunter.

Die Männer, die keinen besonders engagierten Eindruck machten, dessen Griffe die Revolvermänner aber unnachgiebig und wie Schraubstöcke gefangen hielten, drängten Mariah, den fast besinnungslosen Kyle und Arthur die Reihen entlang und schließlich in die Manege - direkt in die Grabkammer dieser düsteren Katakomben.

Als er die exekutierten Revolvermänner sah, spürte Arthur einen Schrei in seiner Kehle aufsteigen, mühsam schluckte er ihn runter, lediglich ein Keuchen entwich seinen Lippen.

Es waren tatsächlich Regulatoren Gileads und als er sich zwang einen genaueren Blick auf sie zu werfen, erkannte Arthur Cedric Lachlan, einen nahezu ergrauten Revolvermann, dem Arthur große Bewunderung zollte (gezollt hatte), weil er, den Geschichten nach, einen verwaisten Grenzposten Dealingtons mehrere Tage gegen anstürmende Gute Männer gehalten hatte, bis ihm die Truppen der Baronien zur Verstärkung geeilt waren.

Er hatte diesen Mann gekannt und er war nicht nur ein Revolvermann, er war auch ein Legende gewesen!

Spätestens jetzt solltest du langsam damit beginnen, dir mal Gedanken darüber zu machen, in was das hier ausufert. Die Männer sind tot und im Moment macht es nicht den Anschein, als hätte Jeremy mit euch irgendwas anderes vor.

Unter Aufbringung seiner verbliebenen Kräfte stemmte er sich gegen den Griff seines Bewachers, bezweckte jedoch nur ein unwilliges Schnauben.

Der Mann trat dicht hinter ihn und flüsterte ihm monoton ins Ohr: »Kein Theater jetzt mehr, Revolvermannfreund, sonst reiß ich dir deine Arme ab.«

»Fick deine Nanny, Blähkopf.« zischte Arthur ihm entgegen, unterließ es aber vorsichtshalber, seine ohnehin schwindenden Kräfte weiter zu strapazieren.

Er warf seinem Ka-tet einen flehenden Blick zu, doch es war vergebens.

Er würde keine Hilfe von ihnen erwarten können, Kyle schien mit den Kräften vollkommen am Ende, blutete aus einer tiefen Wunde am Hinterkopf, während sein Mund eine einzige matschige Wunde war und Mariah war noch immer bewusstlos, auch wenn Arthur keine offenen Wunden bei ihr erkennen konnte.

Es war eine geradezu ausweglose Situation.

Wo ist Jeremy?

Er sah auf und ließ seinen Blick durch die Manege schweifen, die umringt von Dutzenden trübe dreinglotzender Dorfbewohner war.

»Wo bist du, Monster?« brüllte er dann, seine Stimme brach sich an den hohen Wänden und warf ein unheimliches Echo zurück. Ein Kichern antwortete ihm, es kam aus den Schatten jenseits des steinernen Altars, der im einfallenden Licht der Fackeln, die rund um die Manege aufgestellt worden waren, feucht schimmerte.

Einen Moment später trat Jeremy aus eben jener Dunkelheit, in seiner Hand schimmerte nackter Stahl; ein gebogenes, teuflisch spitz zulaufendes Schlachtermesser.

»Ich habe auf euch gewartet, weißt du das, Art?«

Kyle spuckte Nasses in den Staub, von dem Arthur nicht sagen konnte ob es Blut oder Erbrochenes war - wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Verbissen konzentrierte er sich auf Jeremys schattenhafte Gestalt.

Er wird euch töten.

»Ay, das habe ich. Ich wartete zwei Wochen in den grünen Hügeln hinter der Stadt. Ich wusste, dass ihr es nicht schaffen würdet, wenn ich es nicht geschafft hatte, aber ich erinnerte mich an unseren Schwur. Ich erinnerte mich daran, dass du es warst, der sagte, Garedts Zeit wäre gekommen.« Sämtlicher Sarkasmus und Spott war jetzt aus Jeremys Stimme gewichen und er kam langsam auf das zertrümmerte Ka-tet zu. »Ich wartete in den Hügeln - vielleicht nicht auf euch alle, weil ich wusste, dass man die Prüfung auch durch Glück,« er zögerte, »durch Ka«, lachend, »für sich entscheiden konnte - so doch auf einen oder zwei. Ich wartete zwei Wochen bevor mir klar wurde, dass keiner von euch kommen würde. Dass niemand von euch nach Westen geschickt worden war, aus dem einfachen Grund, weil keiner von euch Garedt entgegengetreten war.«

Blut! Arthur vertraute seinen Revolvermannaugen, es war Blut, das den schwarzen Altar im Fackelschein schimmern ließ. Das reine Blut der Erben des Eld, dessen Namensvetter er war.

Jeremy stand nun vor Arthur, doch statt sich wieder zu ihm herabzulassen, blieb er einfach stehen und blickte ihn unverwandt an.

»Weißt du, dass die Stimme kein Märchen ist, Art? Die Stimme, die einen nach Westen treibt. Ich wäre in den Hügeln geblieben, hätte vielleicht den Rest meines Lebens dort verbracht, auf euch wartend und wer weiß, eines Tages wärt ihr mir vielleicht wieder begegnet und mit ziemlicher Sicherheit hättet ihr mich umgebracht.« Er deutete mit der elendig langen Fleischerklinge auf Arthur, der stumm zu ihm aufsah. »Denn hättet ihr es nicht getan, hätte ich euch getötet. Ich hätte euch aufgeschlitzt und eure Herzen gegessen.« Seine Stimme war noch immer ruhig, sie klang fast teilnahmslos und das machte Arthur die größten Sorgen.

»Jeremy, was tust du hier?«

Doch Jeremy ignorierte ihn.

»Diese Stimme, diese götterverdammte -« seine Stimme brach und Arthur glaubte wütende Tränen in den Augen des Mannes schimmern zu sehen, den er einst als Teil seines Ka-tet geliebt hatte.

»Weißt du, was sie sagt, mein Freund? Sie sagt: >Geh in den Westen, denn wenn du hier bleibst werde ich dich wahnsinnig machen. Geh schnurgerade in den Westen, denn dort wartet Er auf dich.< Was sie einem nicht sagt ist, dass sie einen so oder so verrückt macht. Sie wird Teil von einem und-« wieder brach Jeremys Stimme und ein Flackern schien über sein Gesicht zu huschen, als er weitersprach, tat er es wieder so tonlos wie zuvor, von Tränen oder von Verbitterung war keine Spur mehr zu erkennen.

»Es ist an der Zeit. Der König regt sich. Blut für deinen Thron! Blut fürs Auge!«

Und mit einer beängstigend schnellen Bewegung schoss Jeremy zu Arthur herab und holte gleichzeitig in einem seitlichen Bogen mit dem Messer aus.

Nun würde es enden.

Sie waren in eine Falle gelaufen. Eine Falle, aufgestellt von einem düsteren Bärenfänger, der in seinem Leben so viele Bären getötet hatte, dass es ihm einerlei war, ob er einen mehr oder weniger in die ewigen Jagdgründe schickte und nun würde der es einfach beenden. Wie er es schon achtzehn Mal beendet hatte; unspektakulär und doch dem Ka dienend.

Arthurs Reflexe wollten ihn dazu zwingen, die Augen vor dem alles beendenden Streich zu schließen, doch er unterband diesen Drang, er riss sie weit auf. Sein Herz überschlug sich in seiner Brust und Jeremys Bewegungen waren mit einem Mal wie in Leim eingetaucht, dennoch näherte sich das Messer unweigerlich, hinterließ einen leuchtend silbernen Schweif und fuhr auf Arthurs Kehle hernieder. Er spürte wie der Stahl seine Haut schnitt, wie ein trübes Rinnsal seines eigenen Bluts seinen Hals herabrann und seinen Hemdkragen tränkte und fand sich mit seinem Ende ab.

Doch dann spürte er noch etwas Weiteres.

Jeremy stockte. Das Messer hatte Arthur verletzt, er blutete, aber es war nicht besorgniserregend, während der Schmerz dem einer Schürfwunde gleichkam.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Arthur seinen Vollstrecker an, der ungläubig zurückstarrte.

»Du . . . « Jeremy senkte seinen Kopf zu ihm herab und tat etwas Unfassbares: Er beschnupperte Arthurs Halsansatz. Er roch am vergossenen Blut des Revolvermannes, sog Arthurs Odem tief in seine Lunge und stierte ihn dann wieder aus riesigen Augen heraus an. »Du bist kein Revolvermann.« Jeremy wandte sich ruckhaft ab, hastete zu Kyle hinüber und unterzog ihn der gleichen Prozedur. »Das ist nicht wahr!« Er schien nahe daran den letzten Rest seines Verstandes zu verlieren. »Dieses verfluchte Balg! Das ist nicht möglich!« In seinem Zorn schien Jeremy zu wachsen, sein Körper begann zu zittern als ob er unter ungeheurem Druck stände. Er warf sich herum. »Ihr seid keine Revolvermänner! Ihr abscheulichen Maden. Ich hätte es wissen müssen!« Und dann fiel sein flammender Blick auf die bewusstlose Mariah.

Was redete Jeremiah da?

Aber da erinnerte sich Arthur an Martyne - den Mann in Schwarz - und plötzlich konnte er nicht mehr anders, er begann zu lachen. Lauthals und schauderhaft fielen die kalten Steinwände in sein Gelächter ein.

Es war unvorstellbar, doch was immer hier geschah, es schien gewaltig schief zu laufen und das wiederum schien damit zusammenzuhängen, dass -

»Arthur?« Irre grinsend wandte Arthur den Kopf und blickte in Kyles verständnisloses Gesicht. »Nicht rein!« Es war ihm gleich, ob Kyle verstand und auch der Sinn für Erörterungen war ihm gehörig genommen - er wäre gerade beinahe gestorben!

»Wir sind nicht rein, du Bastard. Genauso unrein wie Du!« Jeremy, der mit konzentriertem Gesichtsausdruck über der bewusstlosen Mariah kniete, sah auf. Unfassbarerweise lächelte er wieder und es war kein irres Grinsen, es sprach Erleichterung daraus.

»Du hast recht, alter Freund. Eure Seelen sind beschmutzt und euer Blut ist das eines Ahnen des Elds nicht würdig. Bei dir wundert’s mich nicht, Arthur, du warst schon immer zu ungestüm und mit hitzigem Gemüt gestraft, aber Kyle -« er hob lächelnd den Zeigefinger und machte damit eine tadelnde Geste, »Selbst dir ist es nicht gelungen, eine saubere Weste zu wahren?« Jetzt erhellte sich auch endlich Kyles Gesicht und Verstehen huschte darüber. »Bei weitem nicht, Jeremy. Aber ein Ka-Tet ohne Dinh . . . was hätte schon aus uns werden sollen?« Er spuckte einen mundvoll Blut in den Staub der Arena, dann grinste er und erinnerte Arthur für einen kurzen, schrecklichen Moment an den Jungen, der er einst gewesen war. An den Jungen mit dem er hinter Garedts Rücken Grimassen geschnitten hatte und der mit ihm durch die Altstadt Gileads gestromert war. Ohne Ziele, die weiter entfernt lagen, als die nächste Taverne, aus denen man sie ob ihres Alters spätestens nach einer halben Stunde wieder Achtkant herausprügelte.

Noch immer umspielte Jeremys Lippen dieses selbstzufriedene Lächeln und Arthur begann Böses zu ahnen.

»Schätze das war es dann, Jeremiah, nicht? Du wirst deinen Plan nicht in die Tat umsetzen können, du brauchst reines Blut und wahrscheinlich drängt die Zeit?« Kyle war nun in seinem Element: Reden. »Dein König, oder wer auch immer, wird sich gedulden müssen. Ihr habt hier achtzehn Revolvermänner gelyncht und wenn die Sonne untergegangen ist, werden vielleicht einundzwanzig Leichen diesen Altar säumen. Du warst fleißig«, Kyle verspottete den Mann, der einmal Jeremiah LeVries gewesen war nun offenkundig, »Und trotzdem hast du versagt.«

»Du kannst mich nicht daran hindern. Das Rad schließt sich, es ist . . . etwas unpünktlich, aber noch lange nicht zu spät. Neunzehn, mein alter Freund, Neunzehn.« Und dann deutete Jeremy mit seinem spitzen Schlachtermesser auf die am Boden liegende Mariah. »Zum Altar mit ihr! Um die anderen kümmern wir uns später.«

3

 

Die Zeremonie, wenn man es so nennen konnte, Arthur fiel kein besserer Begriff für das ein, was sich an dem schwarzen, mit geronnenem Blut verschmutzten Altar abspielte, war ein Alptraum. Doch das war bei weitem nicht das Schlimmste. Sie war obendrein auch beißender Hohn.

Zwei Männer hatten die besinnungslose Mariah in ihre Mitte gezwungen und trugen sie nun, ihre Arme hinter ihrem Körper brachial überkreuzt, den schmalen Pfad entlang, der zum Altar und zu Jeremy führte.

Die Sitzreihen um Arthur und Kyle, die von jeweils drei besonders stämmig wirkenden Dorfbewohnern umstellt waren, herum, verfielen erst vereinzelt und schließlich kollektiv in einen sonoren Sprechgesang, dessen Bedeutung Arthur zwar nicht verstand, dessen Sinn er aber zumindest erahnen konnte. Hier wurden Dämonen beschworen. Das Tor zur Unterwelt wurde aufgestoßen.

Und alles was Arthur empfinden konnte, war ein blinder, fast tobsüchtiger Hass, denn was hier geschah erinnerte ihn so detailverliebt an den Ritus der Revolvermannehrung, dass ihm schlecht wurde.

Wo in Gilead unter lampiongeschmückten Torbögen die Stadtbevölkerung den fröhlichen Singsang der Hohen Zeit gesungen hatten, waren nun Zombies, die urzeitliche Mächte erflehten, wo der Ahnenthron des Königs gestanden hatte, war hier ein schwarzer, in seiner Klobigkeit einschüchternder Altar errichtet worden, aber dennoch war die Ähnlichkeit nicht zu verleugnen. Schlimmer noch, Arthur glaubte, dass Jeremy die Gleichheit beabsichtigte, er lächelte nun nicht mehr, doch seine Augen blitzten vor Erwartung, während er das Messer mit beiden Händen vor der Brust hielt; eine abwartende und erhabene Haltung.

Wenn sie nichts unternahmen - was denn, bei deinem Vater? Was? - würde Mariah die Lichtung am Ende des Weges erreichen, wie sie einst den Weg betreten hatte.

Kyle regte sich neben ihm und Arthur empfand für den Hauch einer Sekunde ein leichtes Kribbeln hinter der Stirn und im Bauch. Khef.

Arthur!

Wir müssen etwas unternehmen.

Ich weiß. Siehst du meinen Gürtel?

Arthur warf einen vorsichtigen Blick in Kyles Richtung und erkannte, was der meinte: Kyles Klinge, die Jeremy ihm einst geschenkt hatte, musste noch am Gürtel, unter dem Wams des Revolvermannes, befestigt sein.

Kannst du sie erreichen?

Wenn du die Männer ablenkst, versuch ich es.

Beim Gedanken an einen offenen Kampf mit den drei Hünen, die Arthur umkreisten, wurde ihm schwarz vor Augen, doch er nickte langsam, als ihn Kyle auffordernd ansah. Er musste es wagen.

Es ging hier nicht mehr darum Kyles, oder sein Leben zu retten, oder Mariah vor dem grausamen und unwürdigen Opfertod zu bewahren. Es ging nicht mehr darum Jeremiah aufzuhalten. Nein, das war alles zur Unwichtigkeit verblasst . . .

Arthur musste Jeremy davon abhalten Mariahs Blut über den Altarstein zu vergießen, in den ein primitives und längst vergessenes Volk das Sigul des Scharlachroten hineingemeißelt hatte. Denn irgendetwas verriet ihm, dass diese Tat das Ende sein würde. Nicht das ihres Ka-tets, nicht das Gileads, sondern schlicht und einfach das Ende allen Lebens, hier und überall sonst.

Er überblickte noch ein letztes Mal, die nahezu ausweglose Situation: Jeremy, der mit erhobener Klinge und fanatischem Gesichtsausdruck hinter dem Altar Aufstellung bezogen hatte, auf dem die bewusstlose Mariah, zerschunden vom Kampf, aufgebahrt worden war, Kyle, der umstellt von drei übermenschlich großen Zombies war . . . er atmete ein letztes Mal tief durch, spannte sich und dann stieß er sich mit einem gellenden Schrei vom Boden ab.

Seine Bewacher reagierten nicht halb so überrascht, wie es sich Arthur gewünscht hätte, doch trotz allem war er noch immer schnell und ein meisterhafter Krieger. Mit einem Kinnhaken gelang es ihm seinem ersten Gegenüber, er war mit einer von Jeremy Schrotflinten bewaffnet, zumindest das Gleichgewicht zu rauben und ihn haltlos gegen einen anderen der Männer taumeln zu lassen, während er, noch aus der gleichen Bewegung heraus, dem Dritten mit einem gewaltigen Tritt mit der Stiefelspitze den Kehlkopf zerschmetterte. Mit einem kraftlosen Stöhnen ging der Mann - der Gleiche, der Arthur noch gerade die Arme ausreißen wollte -, in die Knie, tastete in blinder Panik nach seinem Hals und sank schließlich mit einer fast grazilen Pirouette leblos zu Boden.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Arthur, wie einer von Kyles Wächtern seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete, und losstürmte, und als er das sah, flammte in ihm endlich eine längst vergessene Emotion wild und unbeherrscht auf: Hoffnung.

Es konnte tatsächlich funktionieren!

Die beiden Kerle, die Arthur mit einem Kinnhaken übereinander hatte straucheln lassen, hatten sich längst wieder aufgerappelt und drangen nun, ebenso wie Kyles Zombie auf Arthur ein, doch der hatte bereits das Höchstmaß von dem erreicht, was er sich in seinen kühnsten Planung ausgemalt hatte: Ein heilloses Durcheinander.

Aus der Ferne hörte er Jeremy, der mit schriller Stimme irgendetwas schrie und dann waren die Männer heran und fielen ohne innezuhalten über den Revolvermann her. Er parierte zwei Schläge notdürftig, doch dann traf ihn der Kolben der Schrotflinte erbarmungslos in der Seite und wie ein Axthieb drang der Schmerz in ihn.

Er brach unter einem Aufschrei zusammen und keinen Atemzug später, waren die drei Riesen über ihm. Brüllend schlugen, traten, schlugen und sie auf Arthur mit so ungehemmter Gewalt ein, dass diesem schon nach wenigen Attacken die Luft wegblieb und er sich unkontrolliert auf den Boden werfen musste, um schlimmere Verletzungen zu verhindern; hoffend, dass Kyle seine Gelegenheit ergreifen würde.

Für einen Moment schwand Arthur das Bewusstsein, als ihn ein besonders harter Tritt gegen den Schädel endgültig kampfunfähig machte, doch er blieb nur Sekunden in der nebeligen Welt der Ohnmacht gefangen.

Schüsse knallten plötzlich ohrenbetäubend durch die Manege, Körper polterten zu Boden und blieben regungslos liegen, dann herrschte Stille.

Es war eine totale Stille.

Der Sprechgesang von den Rängen war verklungen, die Angriffe der Zombies brachen ab und selbst Jeremys gurrende Beschwörung war abrupt verstummt.

Und dann donnerte Kyles Stimme los.

Die Stimme eines Revolvermanns.

Die Stimme eines Königs.

»Vergieße ihr Blut und es wird deins sein, das diesen Altar in Strömen besudeln wird, Jeremiah LeVries, Sohn des Korben!«

Mittlerweile war es Arthur gelungen, sich halbwegs aufzuraffen - Schmerzen waren dabei wie feurige Lanzen in seine Eingeweide gefahren und er befürchtete, dass die Männer ihm etliche Knochen gebrochen hatte -, doch er konnte aufrecht sitzen und als er sah, was geschehen war, konnte er sogar lachen. Es klang zwar kehlig und irgendwie irre, tat aber ungemein gut.

Die drei Männer, die wie Berserker über ihn hergefallen waren, lagen nun tot zu seinen Sohlen. Dem einen klaffte eine handtellergroße Wunde im Unterleib, dem anderen fehlte ein Großteil seines Gesichts, während dem dritten Kyles Messer - noch wippend - in der Brust steckte.

Auch zu Kyles Füßen bot sich ein ähnliches Bild: Dem einen seiner übriggebliebenen Bewacher musste Kyle blitzschnell das Messer in die Kehle gestoßen haben, um ihm dann Jeremys zweite Schrotflinte abzunehmen, dann hatte er dem anderen aus nächste Nähe in den Wanst geschossen, ehe dieser heran war.

Den Rest konnte Arthur nur erahnen. Kyle hatte das Messer gegen einen der Kerle geschleudert, die auf Arthur eingetreten hatte, hatte dann noch zweimal abgedrückt und stand nun mit gespreizten Beinen und auf den Altar - besser gesagt: auf Jeremy - gerichtetem Gewehr, an genau der Stelle, an der er noch vor nicht mehr als einer halben Minute, wie ein Haufen nasser Wäsche gelegen hatte.

Erhaben und ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Kyle Jeremiah im Visier.

Unschlüssig fixierte dieser seinen ehemaligen Kameraden, bewegte dabei aber die Hand, die das Fleischermesser hielt keinen Zentimeter.

Man sah ihm deutlich an, wie es in ihm arbeitete.

Würde sich das Rad schließen, wenn schmutziges Blut, sein Blut, sich mit dem des neunzehnten Revolvermannes auf dem Altar vermengen würde?

Ein Lächeln überflog für den Bruchteil einer Sekunde Jeremiahs eingefallene Züge, verstarb aber auf halber Strecke zu seinen Augen.

Er wusste es nicht!

Mit langsamen, tastenden Schritten, bewegte sich Kyle unterdessen auf den Altar zu bis er, nur noch einen Schritt von der reglosen Mariah entfernt, stehen blieb.

Unregelmäßige und knappe, aber auch beständige Atemzüge verrieten Arthur, dass diese noch lebte.

Er versuchte sich auf die Beine zu kämpfen, gab aber auf, als ein grelles Feuerwerk des Schmerzes vor seinen Augen explodierte und sein Rücken protestierend nachgab, als er ihn vorsichtig zu belasten versuchte. Stattdessen griff er nach der zweiten Schrotflinte, die noch vor kurzem von einem der Männer - dem mittlerweile Gesichtslosem - dazu benutzt worden war, ihn windelweich zu prügeln.

Nachdem Arthur sich vergewissert hatte, dass Kyle die Situation einigermaßen kontrollierte, warf er einen besorgten Blick in die steinernen Sitzreihen, welche die Arena umschlossen.

Ihre Lage hatte sich nur geringfügig verbessert. Nach wie vor umzingelten sie etwa einhundert Dorfbewohner, die nach Kyles Auftritt aufgesprungen waren, ihren Gefährten aber keinen Beistand leisteten, als sie realisiert hatten, dass der Revolvermann ihren Anführer, Jeremiah, vor dem Lauf hatte.

In diesem Moment unterbrach ihr ehemaliger Dinh die Stille.

»Oh, du Teufel!« zischte er und seine Stimme klang schrill und fremd. »Wie es aussieht haben wir ein Patt.« Er gluckste, doch Schweiß rann ihm von der Stirn. »Also, wie gedenkst du fortzufahren?« Du kannst mich nicht töten. Nicht hier.« Er machte eine Pause und senkte bedrohlich die Klinge, stockte aber, als Kyle einen entschiedenen Schritt nach vorn machte und nun direkt vor dem Altar stand.

»Aber ich gestehe dir doch zumindest ein durchaus überzeugendes Argument zu.« Wie irre fixierte Jeremy den Lauf von Kyles Waffe, dann erhellte sich seien Miene. »Oh! Oh! Oh du Gerissener!« Jeremy drehte sich um, etwas klirrte und als er sich wieder Kyle zuwandte, waren seine Hände leer.

Er hatte das Messer fortgeworfen. Grinsend breitete er die Arme aus.

»Du willst zum Hill, stimmt’s Kyle?«

Misstrauisch senkte Kyle sein Gewehr etwas, entspannte sich aber keineswegs, sein Blick haftete auf dem Revolvergurt, den Jeremiah noch immer umgeschnallt hatte. Dieser schien einen neuen Plan gefasst, warf Arthur einen abschätzenden Blick zu und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »Kyle McCool, Sohn des Ethan. Erweise mir die Ehre gegen dich, einen der letzten Revolvermänner dieser Zeiten, aller Zeiten, anzutreten!«

Kyles Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Du willst gegen mich ziehen?«

»Ay, alter Freund. So wahr ich hier stehe.«

Und mit diesen Worten gab er einem der beiden Männer, die hinter ihm Aufstellung bezogen hatten, nachdem sie Mariah zum Altar getragen hatten, einen Wink, worauf dieser, einen Waffengurt - Kyles Waffengurt - unter den Arm geklemmt, losschlurfte. Arthur richtete unverzüglich das Gewehr auf den Lean Grange Bewohner, doch als dieser neben Kyle angekommen war und Jeremy ihm ungeduldig einen weiteren Wink gab, legte er Kyle vorsichtig, fast zaghaft, den Waffengürtel, aus dem Kyles eindrucksvolle Revolver ragten, um, ohne Kyle dabei auch nur einmal zu berühren.

Als der Mann fertig war, trottete er ohne innezuhalten wieder zu seinem Platz zurück.

»Und, Revolvermann? Ziehst du gegen mich?«

Kyle verlagerte das Gewicht des Gewehrs auf eine Hand und fuhr mit der anderen verblüfft über die Beschaffenheit einer der Pistolen.

Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, sie noch einmal wieder zu sehen, geschweige denn zu ziehen . . .

»Wenn du mich erschießt, werden sie euch gehen lassen«, Jeremy machte eine unbestimmte Geste in die Runde, »Dann reitet nach Jericho und sterbt da.« Er blinzelte Kyle vertraulich zu, doch was blieb dem für eine Wahl, als Jeremy zu glauben?

»Arthur?«

Doch der konnte nicht antworten. Er schmeckte Blut und seine Glieder zitterten unkontrolliert.

Ich sterbe, Kyle. Aber Martyne sagte, dass du Lean Grange lebend verlassen wirst,

um am Hill zu sterben. Doch diesen Gedanken teilte er nicht.

Tu es, Kyle. Zerschmettere dieses unheilige Rad. Zerschmettere Jeremiah und seine gottgehämmerte Neunzehn!

Jeremiah lachte wieder auf. Es war ein Geräusch, dachte Arthur, das man aus den vergitterten Fenstern eines Irrenhauses erwartete. Natürlich teilte auch er ihr Khef.

»Du weißt, dass du nicht gewinnen kannst, Jeremy.« sagte Kyle.

»Oh, ich nicht, Kyle, denn was bin schon?« Er umrundete den Altar und schritt, noch immer mit erhobenen Armen, an Kyle vorbei den Pfad entlang, der die Manege in der Mitte durchschnitt, bis er neben Arthur anhielt. »Nicht mehr als eine Marionette, oder?« Dann beugte sich Jeremy zu dem schwer verletzten Revolvermann hinab.

»Und du, komm mir nicht auf schweinische Ideen, in Ordnung?«, murmelte er und tippte leicht mit einem Fingerknöchel gegen den Lauf von Arthurs Schrotflinte. Dieser war viel zu perplex, um zu reagieren, geschweige denn zu antworten.

Konnte all dieses Blutvergießen, doch noch gut enden? War Raymonds und höchstwahrscheinlich auch sein Opfer nicht umsonst gewesen?

Er misstraute diesem Gedanken voll und ganz . . . irgendetwas stimmte nicht.

Zähl bis drei, Artie. Das war Jeremy. Der guten, alten Zeiten wegen.

Jeremiah drehte sich langsam zu Kyle herum.

 

 

 

4

 

Arthur warf seinem alten Freund, der jetzt ebenso wie Jeremy die Arme leicht erhoben hielt, einen letzten verzweifelten Blick zu, dann begann er.

Eins - Die Männer spannten sich.

Zwei - Blicken trafen und verschlangen sich.

Drei - Schüsse fielen. Zwei.

Jeremiah LeVries war ungeheuer schnell. Er zog mit der Leichtigkeit eines Profis in einem Geschäft, das für Langsame nur den Tod und einen Platz in einer Holzkiste übrig hatte. Er zog mit einer Schnelligkeit, die nicht irdisch war.

Und Kyle McCool zog schneller.

Jeremiah hatte seine Waffen noch nicht einmal ganz aus den Holstern befreit, da hatte Kyle schon zwei Mal abgedrückt.

Die erste Kugel drang unweit von Jeremys Gürtelschnalle entfernt in weiches Fleisch ein, und Arthur glaubte schon, dass das vielleicht nicht genügen würde, da peitschte bereits eine zweite Patrone durch die Arena, traf Jeremys Brustbein und ließ den Mann rücklings auf den Hosenboden fallen.

Jeremy grunzte verärgert, blickte an sich herunter und drehte dann den Kopf zu Arthur. »Eiskalt erwischt.« murmelte er und erbrach fast beiläufig einen tiefroten Schwall Blut, dann zuckten seine Augen und ein Zittern durchlief seinen zerstörten Körper. Doch er starb nicht sofort und Arthur merkte zu spät, dass Jeremy noch im Sturz beide Waffen gezogen hatte.

Ein weiterer Schuss donnerte, doch diesmal traf Kyle nicht. Und plötzlich waren Raymonds Pistolen auf Arthur gerichtet, der sie wie gelähmt angaffte.

»Peng, Artie! Du bist tot.« sagte Jeremy, dann drückte er ab.

In Arthurs Kopf dröhnten die beiden Schlagbolzen, die lediglich leere Kammern trafen, wie Schüsse und Jeremiah musste ein weiteres Mal abdrücken, ehe Arthur das Klicken wahrnahm.

Für einen letzten Augenblick stahl sich ein haifischartiges Grinsen in Jeremiahs Gesicht, dann klärten sich seine Augen. Etwas verzog sich aus ihnen. Er zwinkerte und als er Arthur wieder ansah, erkannte der zum ersten Mal seinen alten und wahrhaftigen Dinh, wie er neben ihm saß und Arthur mit wachen und aufmerksamen Augen musterte. Ganz so, als sähe er ihn zum ersten Mal, seit er aus Gilead vertrieben worden war.

»Wo warst du, Arthur?« flüsterte er traurig. »Ich habe auf euch gewartet. Ka-tet, weißt du nicht mehr?« Dann sackte sein Kopf in den Nacken und sein Oberkörper sank lautlos in den Staub.

»Alles in Ordnung, Art? Ist er tot?« Arthur blickte auf Jeremiah, dann auf die Waffen, die er noch immer umklammerte.

Er räusperte sich schmerzvoll.

»Leer«, brachte er dann hervor. »Seine Waffen waren leer.«

»Was?« Kyle verstaute gerade seine Revolver, da durchzuckte etwas wie ein Stromschlag den leblosen Jeremiah.

Arthur keuchte überrascht auf.

Etwas geschah.

Jeremiahs offene, doch tote Augen erfüllten sich mit einem rosanen Licht, dann schien auch sein halb geöffneter Mund damit voll zulaufen und schließlich stieg das Licht langsam auf, erhob sich, vereinigte sich zu einem schwachen Dunst über Jeremys Kopf, verließ nun auch strömend seine Nasenlöcher und wuchs binnen weniger Sekunden zu einer schädelgroßen Wolke heran.

In ihrem Inneren öffnete sich nun ein einzelnes, rotglühendes Auge, während die Wolke, der Geist, oder was auch immer, weiter pulsierend anwuchs und sich dann fast gemächlich in Bewegung setzte.

Geradewegs auf den unwissenden Kyle zu!

Arthur beobachte all dies mit fassungslosem Entsetzen.

Kyle wich einige Schritte zurück, stieß schließlich aber mit dem Becken gegen den Altar, öffnete mit schreckensstarren Augen den Mund, um irgendetwas zu brüllen - und genau in diesem Moment stieß die Wolke, erfüllt von einem wütenden Auge, wie eine Klapperschlange zu.

Wie eine Speerspitze rammte sie sich in Kyles Mund, ließ sein gesamtes Haupt zurückzucken und war schon zur Hälfte in dem Revolvermann verschwunden, ehe dieser den Mund wieder schließen konnte.

Doch auch dies nutzte nichts, der Geist hüllte Kyles Kopf ein, drang durch Nase, Ohren und Augen in den hilflosen Mann ein und war dann plötzlich wie er entstanden war, wieder fort.

In Kyle.

Einen Moment lang geschah nichts.

Kyle stand mit angewinkelten Armen, die bereit waren gegen einen unsichtbaren Feind loszuschlagen, da und gaffte in die Leere hinter Arthurs Schultern.

Dann jedoch stieß etwas in ihm auf, zwang seinen Körper in einem gewaltigen Krampf herumzufahren und beugte Kyle dann hinab zu Mariah.

Jetzt erst begriff Arthur.

»Nicht! Kyle!«

Doch Kyle lebte nicht mehr. Der König hatte Besitz von ihm ergriffen.

Der König war an seinen Altar zurückgekehrt.

Wie ein Traumwandler griff Kyle nach seinen, eben verstauten, Waffen, zog beide und richtete sie auf die schutzlos daliegende Mariah.

»Kyle!« schrie Arthur wieder, hob sein Gewehr und wollte gerade abdrücken, da federte Kyle pfeilschnell herum und noch während der Bewegung züngelten Stichflammen aus den gierigen Läufen der Revolver, trafen Arthur und ließen ihn endgültig nach hinten prallen.

Ein weiterer Schuss war das letzte, was Arthur hörte.

Dann überkam die ewige Dunkelheit seine Gedanken.

Das Rad hatte sich geschlossen.

 

 

 

Schlusswort

Jericho Hill - New York

Als Mariahs Blut auf den Altarstein spritzte, setzte sich, langsam aber unabänderlich, das Große Rad in Bewegung. Zahnräder, die schon lange darauf warteten, rasteten endlich mit einem rostigen Knacken ein und Ka, der mächtige Freund und alte Feind, begann zu walten und ließ sich dabei weder in die Karten schauen, noch beeinflussen.

Drei Wochen später und doch zur gleichen Zeit, in der gleichen Etage eines Turms, der überall und nirgendwo reagierte - in dem Zeit überhaupt keine Rolle spielte -, begann sich der Kreis endgültig zu schließen.

Doch Martyne würde nicht erfreut darüber sein . . .

 

Jericho Hill

»Heil!«, hallten die Schreie vom Berg hinab in die Schlucht, in der zwischen riesigen grau-schwarzen Statuen, Farsons Männer unaufhaltsam vorrückten.

»Vorwärts! Für den Turm!« Und dann wieder »Heil! Heil Gilead!«

Jackson verzog säuerlich das Gesicht, als hätte er in den Bauch einer Zyprus gebissen. »Ich schätze, sie kommen.«, sagte er und nahm das Vergrößerungsauge herunter, mit dem er zum Hill hinauf, über die Köpfe der Truppen gespäht hatte.

Grissom lachte düster auf.

»Lass sie kommen, ich-«, ein markerschütternder Hornstoß schnitt ihm das Wort ab, fegte vom Schloss auf den Klippen den Hang hinab ins Tal und über die Köpfe von Grissoms blau gesichtigen Horden hinweg.

Arthur Elds Horn wurde geblasen - zum letzten Mal.

Jackson blickte zu seinem Kommandanten auf, der mit stolzgeschwellter Brust auf seinem Pferd thronte und verächtlich auf seine Männer hinabblickte, welche die letzten Revolvermänner der Baronien an den Steilklippen Jerichos in die Enge getrieben hatten. Die nun aber, als das Horn erschallte, innehielten, verzagten und sich nur zögerlich wieder in Bewegung setzten.

In diesem Moment sprengte ein Reiter heran, bahnte sich seinen Weg durch ein Rudel von barbarisch aussehenden Männern und geriet schließlich vor Jackson und Grissom zum Stillstand.

Grissom verschwendete nur einen kurzen Blick an den Mann auf dem Pferd, dann ließ er seinen Blick wieder Richtung der Hänge schweifen, an denen bald der endgültige Sieg herbeigeführt werden würde.

»Die Lage?« fragte er nach einer Weile.

Der Mann, der furchtbar mitgenommen wirkte und sichtbar um Atem rang, richtete sich beschwerlich in seinem Sattel auf. »Es sind nur noch etwa ein Dutzend waffenfähige Revolvermänner da oben und ich glaube sie wagen einen letzten Ausfall.«

Er räusperte sich mühevoll und musterte flüchtig Jackson, dann wandte er sich wieder an Grissom. Als es sprach klang es hämisch. »Die meisten sind noch halbe Kinder, mein Lord.«

Grissom nickte, dann blickte er in den Himmel. Die Sonne hatte ihren Zenit erreicht, es war geradezu erstickend heiß.

»Gut, McCool. Keines dieser Kinder wird einen weiteren Mondaufgang erleben. Und jetzt reite. Bring mir ihre Schädel.« McCool salutierte locker, dann zog er seine Waffe aus dem Holster, riss sein Pferd herum und jagte es wieder in die Menge, geradewegs den Frontlinien entgegen.

Jackson nahm seinen Hut vom Kopf und trat angespannt von einem Fuß auf den anderen, um ihn herum kreischten und heulten beharrlich Farsons Männer. Vorsichtig geschätzt mussten noch über zweitausend von ihnen zwischen den verwitterten Steingesichtern lagern, weitere dreihundert kämpften bereits . . . und was stand ihnen noch entgegen? Eine handvoll - höchstens ein Dutzend - erschöpfter Revolvermänner, die mit nichts als schierer Verzweiflung und altmodischen Waffen gegen eine unüberschaubare Überzahl heranstürmten. Es gab keinen Grund sich Sorgen zu machen.

»Das ist das Ende«, flüsterte er. Es klang ehrfürchtig.

 

New York City

New York war im Jahre 1963 noch lange nicht das, was es dreißig Jahre später, um die Jahrtausendwende sein würde.

Sicher, für Reisende und Politiker war es längst der Nabel der Welt, der Big Apple, doch die Stadt befand sich gerade in einer Art entscheidendem Umbruch und überall wo man hinsah wurde gebaut, abgerissen und erneuert.

Die Luft war noch nicht so schmutzig, wie sie einmal sein würde, hatte jedoch schon dieses exzentrische Bukett inne, für das man die Stadt ebenso lieben wie hassen konnte.

»Riecht nach Großstadtblumen und kosmopolitischer Musik«, sagten einige, die New York voller Stolz als ihre Heimat im Herzen trugen. »Riecht nach nasser Katze«, hatte dagegen Arlene Danville immer gefunden, doch das war nüchtern betrachtet gar nicht so verbittert gemeint, wie es vielleicht klang.

Arlene sah New York so, wie man New York eben sah, wenn man die Kindheit in einem kleinen Ort, an der Grenze von Maine, dem grünen Staat, verbracht hatte. Sie hielt den großen Apfel für einen inoperablen Tumor und viel zu überschätzt, aber sie veröffentlichte keine grimmigen Kolumnen in einem selbstverlegten Magazin, um sich Gehör zu verschaffen und beschwerte sich auch nicht in regelmäßigen Abständen bei ihrem Senatsabgeordneten.

Bis vor drei Wochen hatte Arlene gewohnt, gelebt und geliebt wie sieben Millionen andere New Yorker.

Und dann war irgendwie etwas aus den Fugen geraten.

Bloß dass es sich nicht so angefühlt hatte, als wäre etwas aus der Bahn geraten; es hatte keinen großen Ruck gegeben und die Sonne war nicht eines Tages dunkler als sonst aufgegangen, viel eher war irgendetwas eingerastet.

Fühlte sich jetzt richtiger als sonst an.

Dieses Gefühl trieb Arlene nun durch die Straßen.

Sie schlenderte, scheinbar ziellos, die Second Avenue entlang, blieb an einer Bushaltestelle stehen, musterte einen Augenblick ihre Spiegelung, die ihr von einem Schaufenster aus verträumt entgegen lächelte und ging dann weiter. Schwebte förmlich weiter.

Scheinbar ziellos. Scheinbar . . .

Zum ersten Mal in ihrem Leben dachte sie über kosmopolitische Musik und Großstadtblumen nach. Manchmal wanderten ihre Gedanken auch weiter und sie dachte über die Schönheit Manhattans nach, welche sich einem offen legte, wenn man bloß die Augen öffnete und die Ohren spitzte. Doch in erster Linie war da diese Musik, diese bezaubernde einnehmende Musik, der sie folgte und die von irgendwoher zu kommen schien.

Nicht mal, dass sie seit drei Wochen nicht mehr bei der Arbeit gewesen war und bereits nach drei Tagen die fristlose Kündigung ins Haus geflattert war, störte sie sonderlich. Ganz im Gegenteil, es schien dazu zu gehören.

Sie stand morgens auf, wusch sich und aß einen Happen und dann ging sie spazieren, bis die Sonne im Hudson River versank und die Penner damit begannen es sich im Central Park bequem zu machen.

So lebte sie seit neunzehn Tagen und es füllte sie komplett aus.

Sie hatte in dieser Zeit viel von New York gesehen, war die 5th Avenue fast ganz entlanggeschlendert, hatte sogar die Bronx erkundet und war schließlich gestern auf das gestoßen, wonach sie, ohne es selbst zu ahnen, die ganze Zeit gesucht hatte.

Nun war sie auf dem Weg dorthin und fühlte sich dabei gleichermaßen angespannt wie erregt. Das Gefühl dem Horizont entgegenzulaufen, zwar mit Ziel, aber ohne Grenzen, erhob sie über die sich dahinschleppenden Massen.

Ein verwegenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an der Ecke 46th Street und 2nd Avenue ankam.

Die Musik war nun besonders stark, doch außer ihr schien das niemand wahrzunehmen. Manchmal blieben einzelne Passanten ein paar Sekunden lang stehen, verschnauften von ihrer sinnlosen Pilgerreise, die nie ein Ende finden würde, und dann, aber nur dann, machten sie auf Arlene den Eindruck, als könnten sie es hören. Wenn sie vielleicht eine Sekunde mehr Zeit gehabt hätten, wäre ihnen vielleicht gewahr geworden, dass sie ganz nahe an etwas sehr Wertvollem waren, doch dann sprang meist die Ampel wieder auf Grün um, oder die Menschen wurden sich bewusst, wie dämlich sie aussahen - den Kopf leicht in den Wind geneigt und lauschend - und sie hasteten mit einem bestürzten Blick weiter.

So brauchte sich Arlene nun auch keine Sorgen machen, dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Die Menschen schienen weder die Musik wahrzunehmen, die betörend süß und anziehend war, noch das unbebaute Grundstück zu sehen, an dessen Zaun sie nun lehnte, ihre Handtasche in der einen, eine kleine Schatulle, die sie irgendwann in ihrem Briefkasten gefunden hatte, in der anderen Hand.

Natürlich würde jemand auf sie aufmerksam werden, wenn sie über diesen Zaun klettern würde, doch das spielte keine Rolle mehr. Wäre sie erst einmal auf dem Grundstück, könnte sie niemand mehr aufhalten, dann würde sie das erledigen, wofür sie geboren worden war.

Ruhig verstaute sie das kleine Etui, in ihrer Handtasche und schob dann ihre schlanken Finger durch den Maschendrahtzaun.

»Hey! Hey Sie da!« Es war eine Männerstimme, doch Arlene zögerte keine Sekunde mehr. Sie holte ein letztes Mal tief Luft, dann stieß sie sich vom Boden ab. Als Kind war sie einmal eine fabelhafte Kletterin gewesen, kein Hindernis war vor ihr sicher gewesen und nur all zu oft war sie bis in die Kronen der höchsten Bäume geklettert, nur um einen kurzen, atemlosen Blick über den Horizont hinaus zu werfen.

Heute wusste sie natürlich, was sie damals gesucht hatte: Einen Turm.

Einen großen und dunklen Turm.

Sie hatte oft und intensiv von diesem Turm geträumt, war aber auch zu dem traurigen Schluss gekommen, dass sie diesem Giganten, diesem wunderschönen Ungeheuer, niemals so nah kommen würde, wie sie das in ihren Träume schaffte.

Eine Hand griff nach ihrem Hosenbein, doch mühelos schüttelte sie sie ab.

Mit einem letzten Kraftaufwand überwand sie den Zaun - und stand plötzlich auf dem Grundstück. Allein.

Stand allein da, in absoluter Stille.

Die Musik war verstummt, der Lärm der Menschen, von der anderen Seite des Gitters war verstummt, selbst der Wind schien den Atem anzuhalten.

Sie war am Ziel.

Sie würde dem schwarzen Turm, der dalag in einem Feld tausender und abertausender roter Rosen, niemals wieder so nah sein, wie sie ihm jetzt war.

Sie spürte, wie ihr eine Träne die Wange herunterrann und lächelte.

Dann griff sie in ihre Handtasche, ertastete die schmale Holzschatulle, ließ die Finger einen Moment gedankenverloren darüber streichen und zog sie dann wieder an das Licht des Tages. Dieses einen Tages.

Dann schloss sie die Augen, ließ ihre Handtasche zu Boden fallen und konzentrierte sich auf die Stimmen, die sie seit drei Wochen lenkten.

Ohne ihr Zutun setzten sich ihre Beine in Bewegung, sie ging ein Stück den Weg entlang, der vom Zaun aus über das ganze Grundstück führte und blieb schließlich etwa genau in der Mitte des Platzes stehen, der mit allerlei Müll vollgestellt worden war und durch den es außer diesem einen Pfad kaum ein Durchkommen gab.

Ein herabfallender Sonnenstrahl reflektierte sich in einer zerbrochenen Colaflasche und Arlene bückte sich danach, klaubte die Scherben zusammen, ließ sich dann auf die Knie sinken und öffnete ihre Augen.

Sie glich nun einer bußfertigen Sünderin, die mit gefalteten Händen vor einem Schrein um Hoffnung betete.

Mit einer bedächtigen Bewegung nahm sie die warme, keimende Wurzel aus dem Kästchen und warf dieses dann achtlos über die Schulter, dann begann sie mit der leeren Hand zu graben.

Sie brauchte nicht lange und als die Stimmen sie mit leiser Stimme dazu aufforderten jetzt die Wurzel in dem Loch zu versenken, dass sie in den Erdboden gewühlt hatte, tat sie es.

Arlene warf einen letzten Blick in den Himmel, dann nickte sie.

Die Stimmen waren jetzt verklungen, doch etwas gab es noch zu tun.

Sie faltete wieder die Hände, beugte sich über das Erdloch, in dem jetzt friedlich die Wurzel ruhte, und sprach:

»Come-come-commala. Rose come a-falla«

 

 

- Ende -

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