Interview Copyright by Cecilie Dressler Verlag
Ihr erstes Buch ist 1988 erschienen. Vorher haben Sie Texte anderer Autorinnen und Autoren illustriert. Was war der Auslöser dafür, dass Sie selbst angefangen haben zu schreiben? Der Auslöser war, dass ich als Illustratorin Texte bekam, mit denen ich nichts anfangen konnte. Als begeisterte Vorleserin hatte ich Erfahrungen gesammelt, welche Dinge für Kinder ganz wichtig sind. Diese Dinge
vermisste ich häufig in den vorgegebenen Texten. Außerdem gab es viele Geschichten, die sich nicht zum Vorlesen eigneten. Deshalb habe ich mich eines Tages hingesetzt und mein erstes Buch geschrieben.
Woher wissen Sie so gut, was Kinder mögen oder nicht?
Ich bin einfach gerne mit Kindern zusammen. Ich finde sie sehr bereichernd und aufregend. Sie haben viele ungewöhnliche Ideen und unbelastete Köpfe, sie sind noch ganz offen für alles und sehen vieles, was wir Erwachsenen nicht mehr sehen.
Testen Sie Ihre Bücher während des Schreibens an Kindern?
Ja, inzwischen lese ich sie meinen eigenen Kindern vor. Ich finde das sehr hilfreich, weil ich dadurch merke, welche Stellen eventuell unverständlich sind, was zu schnell geht etc. Ich mag es auch nicht, wenn in Kinderbüchern Begriffe benutzt werden, die Kinder überhaupt nicht verstehen können. Man muss ihnen den richtigen „Schlüssel“ für das Geschehen in die Hand geben, ohne dass die Sprache deswegen kindisch oder zu einfach wird.
Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Kinderbuch aus? Was sollte es enthalten?
Ich bin der Meinung, dass Kinderbücher auf sehr unterschiedliche Weise gut sein können. Meine Art ist es, entweder phantastische Geschichten zu erzählen – was ich sehr gerne mache – oder realistische, in denen
dann das Alltagsabenteuer lauert. Ich hoffe immer, dass die Realität in meinen Geschichten nicht zu kurz kommt, aber ich bin eigentlich keine Autorin, die sich zuerst ein Problem aussucht und drum herum die
Geschichte spinnt, sondern stolpere eher über eine Geschichtenidee, die ich dann weiterentwickele.
Auf alle Fälle glaube ich, dass man mit der richtigen Geschichte jedes Kind zum Lesen bekommt. Ganz bestimmt!
Wie sieht es mit literarischen Vorbildern aus?
Kann ich schlecht sagen, weil mir sehr, sehr unterschiedliche Texte gefallen. Zu den Autoren, die ich am liebsten lese, gehören so unterschiedliche wie Toni Morrison, John Irving, Maupassant, Pullman
oder Michael Ondaatje. Aber ich lese auch gern die so genannte phantastische Literatur, obwohl es nicht leicht ist, in dem Genre Perlen zu finden. Andererseits – man könnte auch Shakespeare oder Garcia
Marquez als phantastische Autoren bezeichnen, oder? (lacht) Schließlich kommen da auch Hexen, Geister und Feen vor. Wenn Kinder mich bei Lesungen fragen, nenne ich natürlich meist Namen, die auch Kindern
geläufig sein könnten: Roald Dahl zum Beispiel, Mark Twain, Kipling (ohne seine imperialistische Note) oder Preußlers „Krabat“.
Möchten Sie auch weiterhin ausschließlich für Kinder schreiben? Oder könnten Sie sich auch einen Roman für Erwachsene vorstellen?
Ich stelle immer mehr fest, dass man als Kinderbuchautor automatisch auch für viele Erwachsene schreibt – Eltern und andere vorlesende Verwandte, Lehrer, Buchhändler, Bibliothekare. Da es eh mein Ideal ist,
Geschichten zu erzählen, an denen alle Altersgruppen Spaß haben, freue ich mich natürlich über jede Mutter, die zu mir kommt und sagt, dass sie beim Vorlesen selbst auch sehr viel Spaß hatte. Trotzdem glaube ich,
dass mir die Sichtweise von Kindern oft näher ist als die von Erwachsenen – und Kinder lassen sich viel eher auf das Spiel ein, das ein Autor ihnen anbietet: einzutreten in die Vorstellungswelt eines anderen Menschen und die Regeln zu akzeptieren, die der Geschichtenerzähler für diese Welt bestimmt hat. Alles andere verdirbt
das Spiel. Natürlich kann kein Erzähler ausschließen, dass irgendwann eine Geschichte daher kommt, die erzählt werden will – und die Kinder langweilt. Ich hoffe sehr, dass mir das nie passiert. Ich käme mir wie
eine Verräterin vor.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Ich schreibe meist nur vormittags, bis 3 Uhr etwa, sodass ich nachmittags Zeit für meine Kinder habe. Manchmal überarbeite ich dann abends, was ich geschrieben habe oder bereite das Kapitel vor, das ich
am nächsten Tag schreiben will. Wenn ich recherchiere, tue ich das meist den ganzen Tag, bei offener Tür, dann wissen meine Kinder, dass sie jederzeit in mein Zimmer schlendern können.
Wie kommen Ihnen die Ideen? Brauchen Sie einen Anlass, oder fallen Ihnen die Geschichten zum Beispiel beim Spaziergang ein?
Ja, Letzteres trifft es schon ganz gut. Ich stolpere darüber. Oft weiß ich gar nicht genau, woher die Ideen kommen. Sie sind plötzlich einfach da. Manchmal werden sie durch irgendetwas ausgelöst, was ich gesehen
habe, manchmal aber auch wirklich nur durch seltsame, oft klitzekleine Assoziationen.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor? Erstellen Sie zunächst einen roten Faden, an dem Sie sich dann entlang hangeln, oder fangen Sie erst einmal an, spontan die Szenen niederzuschreiben, die Ihnen in den Sinn kommen?
Das Schreiben hat sich bei mir sehr verändert. Das erste Buch habe ich genau so geschrieben: Am Anfang holterdiepolter und schließlich endet man irgendwo im Wald und weiß nicht weiter (lacht). Das merkt man
dem Buch dann auch meistens an, weil die Hänger in der Mitte kommen und die Lösung oft sehr willkürlich ist. Inzwischen erstelle ich ganz ausführliche Exposés, auch Charakterisierungen der Figuren und Gliederungen, die allerdings hoffnungslos oft umgeschmissen werden. Bei „Drachenreiter“ habe ich noch recherchiert, während ich schrieb, in Reiseberichten und Büchern über Pilze und Fabelwesen . Bei „Herr der Diebe“ habe ich das schon geändert und vor dem Schreiben etwa ein halbes Jahr recherchiert – über Venedig, was sonst? Bei „Tintenherz“ habe ich mehr als ein halbes Jahr Bücher über Bücher gelesen, über das Binden und restaurieren, berühmte Bibliotheken, besessene Sammler, Bücherdiebe und Büchermörder ... und parallel den Plot entwickelt. Aber wie schon gesagt, meist nehmen meine Figuren ab Seite 100 die Handlung selbst in die Hand, und ich habe festgestellt, dass es besser ist, sie vom Zügel zu lassen, weil die Geschichte, die sie selbst erzählen, immer ungewöhnlicher ist als die, die ich geplant habe. Zur Zeit arbeite ich am zweiten Teil von „Tintenherz“, und die Figuren treiben es schlimmer als je zuvor. Diesmal haben sie schon auf der ersten Seite
damit begonnen, mich zu überrumpeln. Sie sehen anders aus, als ich geplant habe, reden anders, sind glücklich, wenn ich dachte, sie würden in Tränen zerfließen usw. usw. Es ist ein großes Abenteuer.
Sie schreiben sehr unterschiedliche Bücher: vergnügliche Bilderbücher und Erstlesetexte, süchtig machende „Wilde Hühner“-Geschichten und vielschichtige große Romane. Welche machen Ihnen am meisten Spaß?
Spaß machen sie alle. Aber mich selbst befriedigt am meisten die Arbeit an den langen Geschichten, während die „Wilden Hühner“ Bücher sind, die ich für die Kinder schreibe. Die Kinder lieben die „Wilden Hühner“.
Ich schreibe sie auch gerne, aber ich würde sie nicht für mich schreiben. Ich würde zum Beispiel nicht spontan über eine Klassenreise schreiben, aber ich weiß, dass Kinder einen Höllenspaß dabei haben, wenn sie
darüber lesen, also gebe ich dann mein Bestes, damit es ein gutes Buch wird.
Erhalten Sie viele Leserreaktionen auf Ihre Bücher?
Ja. Ich bekomme bergeweise Kinderpost. Mit den Briefen fülle ich eine Schatzkiste nach der anderen. Die Kinder schicken Lesezeichen, Porzellanschneemänner, Hühnerfedern und viele, viele Fotos und selbst
gemalte Bilder. Inzwischen kommt die Post auch aus England, Amerika, Schweden oder Japan – es ist so viel geworden, dass ich nur noch jeden Brief lese, ein Autogramm schreibe, Poster signiere und dann den Berg
meiner Schwester zuschicke, die das ausführliche Beantworten übernimmt – natürlich sagt sie, dass sie meine Schwester ist und die Kinder haben das zum Glück sehr gut angenommen. Dann gibt es natürlich auch noch die Wilde Hühner-Internetseite www.wilde-huehner.de, die vom Dressler-Verlag betrieben und sehr viel besucht wird. Außerdem habe ich gerade die Entwicklung einer internationalen Website in Auftrag gegeben, die ein Forum für meine Leser in den verschiedenen Ländern sein soll, ihre Bilder, Briefe, Kommentare und
was sonst noch zu meinen Büchern anderen Kindern zugänglich zu machen. Dort wird es dann künftig natürlich auch Informationen darüber geben, welches Buch in welche Sprachen übersetzt ist und wie
es mit den Verfilmungen vorangeht.
Nehmen Sie die Anregungen von Kindern auf?
Ich denke durchaus über Anregungen nach, habe aber bisher selten etwas aufgegriffen. Zum Beispiel haben sich viele Anhänger der „Wilden Hühner“ darüber aufgeregt, dass im zweiten Band Wilma zu der Bande
stieß. Heute ist sie eine der Lieblingsfiguren. Daraus habe ich gelernt, dass man sich nicht unbedingt nach Leserwünschen richten sollte.
Sie illustrieren die meisten Ihrer Bücher selbst ...
Ja, aber die Bilderbücher oder farbig illustrierten Texte sind so arbeitsintensiv, dass ich dafür mit anderen Illustratoren zusammenarbeite. Zur Zeit entsteht gerade wieder ein neues Bilderbuch mit Kerstin Meyer, die ich sehr schätze („Der wildeste Bruder der Welt“!); es gibt ein weiteres Projekt mit Jackie Gleich und ich freue mich
sehr darüber, dass eins der Bilderbücher, die ich mit Kerstin Meyer zusammen gemacht habe, demnächst auch in England und Amerika erscheint.
Ein zentrales Thema ist bei Ihnen die Freundschaft bzw. der Gedanke
„Gemeinsam sind wir stark“ ...
Ja. Ich bin der Meinung, dass man nur gemeinsam etwas schafft, und dass alles, was man nur für sich alleine macht, eine gewisse Begrenztheit hat, weil man dadurch blind gegenüber bestimmten Sachen ist. Ich glaube sehr an den befruchtenden Einfluss von anderen. Natürlich gibt es in meinen Geschichten noch viele andere Grundmotive
– das Überwinden der Angst zum Beispiel, Figuren, die nicht das sind,
was sie zu sein scheinen, die Entdeckung, wie bizarr und vielfältig die
Welt ist, Mitleidlosigkeit ... und so weiter und so weiter ... eine gute
Geschichte sollte viele Motive haben.
Es fällt auf, dass in Ihren Romanen oft freche Mädchenfiguren auftreten.
Liegt das daran, dass Sie sich darin teilweise selber wieder sehen?
Ja, in Maßen. Ich finde es aber auch einfach wichtig, dass solch eine Art von Mädchen in meinen Büchern die Hauptrolle spielt. Mir macht es Spaß, das typische Rollenklischee umzudrehen, da es sonst oft die Jungs
sind, die so selbstbewusst auftreten.
Die Hauptfiguren in Ihren Büchern sind in der Regel ganz normale Jungen und Mädchen mit Ängsten und Träumen. Sind sie von Ihnen extra so angelegt, damit Kinder sich mit den Figuren identifizieren können?
Ich finde alltägliche Helden einfach interessanter. Vor allem ist es ja ein ganz interessanter Effekt, sie in ungewöhnliche Situationen zu stecken und zu sehen, was dann passiert. Der Zauber einer Geschichte
entwickelt sich immer nur, wenn man mit leidet, wenn man mit den Helden mitzittert, mitfühlt. Und das kann man nur mit jemandem, der einem nahe kommt.
Welche Idee war der Ausgangspunkt für Ihr Buch „Herr der Diebe“, das letztes Jahr auch in England und Amerika erschienen ist und inzwischen in 27 Sprachen übersetzt wurde?
Bei diesem Buch habe ich zum ersten Mal ein Zentralmotiv gewählt, um das die Geschichte kreist. In Venedig, im Dogenpalast, wo man sich auf der „Treppe der Riesen“ so klein fühlt, erinnerte ich mich daran, dass ich
mir als Kind immer gewünscht hatte erwachsen zu sein. Ich beschloss, über Kinder zu schreiben, die diesen Wunsch auch haben – ganz im Gegensatz zu Peter Pan, der immer Kind sein will.
Spielt Ihr „Herr der Diebe“ deshalb in Venedig?
Das ist der eine Grund. Der andere ist, dass dieser Schauplatz etwas Phantastisches in die Geschichte bringt, ohne dass ich sie mit Fabelwesen bevölkern musste. Außerdem ist Venedig eine ideale Stadt für Kinder, die alleine zurechtkommen müssen; zum Beispiel ist sie eine Stadt ohne Autos ...
Jetzt, im Herbst 2003, erscheint Ihr seit langen mit großer Spannung erwartete Roman „Tintenherz“ – zeitgleich in Deutschland, England, Amerika, Kanada und Australien.
Ja, das ist eine sehr aufregende Sache für mich. Zum ersten Mal hatte ich ein deutsches Lektorat und danach für die Übersetzung noch ein englisches und ein amerikanisches. Ich werde zum Erscheinen sechs große Lesungen in Deutschland machen (schließlich feiert mein Dressler, deutscher Verlag, in diesem Jahr auch noch sein 75jähriges Jubiläum!) und dann im Oktober und November nach England und Amerika reisen,
um das Buch dort vorzustellen. Außerdem sind schon jetzt zahlreiche Filmproduzenten interessiert an den Rechten, sodass „Tintenherz“ zur Zeit meinen Alltag sehr turbulent macht – noch turbulenter, als der „Herr der Diebe“ das getan hat.
Besonders beliebt sind – gerade bei 10-bis 12-jährigen Mädchen Ihre Bücher von dem „Wilden Hühnern“ ...
Ja, die Begeisterung ist inzwischen so groß, dass es mir schon fast unheimlich wird. Ich bekomme Briefe wie 'Cornelia, mach die Welt besser, schreib noch ein „Wilde-Hühner“-Buch, 'Cornelia, wenn ich traurig bin, brauch ich nur ein „Hühner“-Buch streicheln, und es geht mir wieder gut' oder – ganz streng – 'wenn ich Harry Potter wär’, würd' ich jetzt zaubern, dass du an den Schreibtisch gekettet bist und noch ganz viele „Hühner“-Bücher schreiben musst'. Der fünfte Band, der gerade erschienen ist, hat das leider kein bisschen besser gemacht, schon bekomme ich die ersten Briefe, die nach dem sechsten fragen. Aber die Filmrechte sind so gut wie verkauft, sodass ich hoffe, dass mir das etwas Ruhe verschaffen wird -denn der Film soll schon Ende 2004 in
den Kinos sein.
Wird es einen sechsten Band mit den „Wilden Hühnern“ geben?
Ja, den wird es geben, aber ich werde ihn frühestens im Herbst nächsten Jahres schreiben, da ich jetzt erstmal an der Fortsetzung von Tintenherz sitze.
Was gibt es sonst für Pläne?
Wie gesagt, zur Zeit stecke ich bis zum Hals im zweiten „Tintenherz“-Buch, danach habe ich ein Projekt geplant, das in England spielen wird und zwar in Salisbury. Ich habe schon ein paar sehr konkrete Ideen dazu und bin dieses Jahr auch schon zur Recherche dort gewesen. Aber ... wie gesagt, erst einmal setze ich jetzt das Tintenherz fort. Die Geschichte ist einfach noch nicht zu Ende erzählt. Es ist wirklich furchtbar (und furchtbar schön zugleich) – in meinem Kopf stecken so viele Ideen, dass ein Leben wohl kaum ausreichen wird, um sie alle aufzuschreiben.
Hamburg, im Sommer 2003
Interview Copyright by Cecilie Dressler Verlag